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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Das mythische Neukaledonien
> Seit dem 4. November steht fest: Die Insel im Südpazifik bleibt
> französisch. Ein Stimmungsbild unter Gegnern und Befürwortern der
> Unabhängigkeit.
Bild: Neukaledonien, Noumea: Wahlkabinen in einem Wahllokal
Wenn die Kreuzfahrtschiffe für einen Tag in der Bucht von Santal vor Anker
gehen und Hunderte Touristen (die meisten aus Australien) an Land strömen,
gibt es zur Begrüßung erst einmal Kokosnusswasser und Graviolasaft. Und
dann, auf der Tour über die Insel Lifou, Vorführungen von
Flechtkunsthandwerk und traditionellen kanakischen Tänzen.
Drei Wochen vor dem [1][Unabhängigkeitsreferendum in dem französischen
Überseeterritorium Neukaledonien] ist die Stimmung verhalten. „Das lässt
uns vollkommen kalt“, sagt Betty Kaudre von einer Bürgerinitiative im
Distrikt Wetr. „Wir kommen jetzt schon allein zurecht. Für uns ist der 4.
November ein Tag wie jeder andere.“ Der junge Stammes-Chef Jean-Baptiste
Ukeinessö Sihaze hält dagegen: „Die Unabhängigkeit ist wichtig. Die
Menschen müssen zur Abstimmung gehen.“
In den Umfragen lag das „Nein“ schon lange vorn, und das nicht nur bei den
Loyalisten, die wollen, dass Neukaledonien weiter zu Frankreich gehört.
Abgesehen von der ungünstigen demografischen Entwicklung für die kanakische
Bevölkerung ist noch ein seltsames Faktum zu beobachten: Viele
Unabhängigkeitsbefürworter stimmen nicht für die Unabhängigkeit. Vor 30
Jahren sind kanakische Aktivisten für diese Idee gestorben. Wie kam es zum
Sinneswandel?
Seit den Abkommen von Matignon-Oudinot (1988) und Nouméa (1998) ist das
Überseegebiet mit seinen drei Provinzen verwaltungstechnisch weitgehend
autonom. Im Norden und auf den Inseln, wo die meisten Kanak leben, gibt es
heute Straßen, Wasser- und Stromleitungen, weiterführende Schulen und
Gesundheitszentren. Der Anteil der Neukaledonier mit höherem
Bildungsabschluss hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfünffacht.
Außerdem scheint es keinen großen Unterschied zu geben zwischen der
Autonomie innerhalb Frankreichs und der Unabhängigkeit als assoziiertes
Gebiet, die die Kanakische Sozialistische Front der Nationalen Befreiung
(FLNKS) fordert. 2013 sah das noch anders aus. Damals galt die
Unabhängigkeit den einen als „wichtige Hypothese“, während die anderen an
das Beispiel Vanuatu gemahnten. Nachdem der benachbarte Inselstaat 1980 aus
dem britisch-französischen Kondominium Neue Hebriden in die Unabhängigkeit
entlassen worden war, brach erst einmal die Kaufkraft ein.
## Das Land sehnt sich nach Ruhe
Viele Caldoches, wie die Neukaledonier europäischer oder gemischter
Herkunft genannt werden, können gar nicht verstehen, warum man an der
jetzigen Situation etwas ändern sollte. Die 32-jährige Aurélie ist Lehrerin
und hat in Frankreich studiert: „Wir sind superverwöhnt. Der ganze Prozess
ist doch nur lang und ermüdend.“
Auf kanakischer Seite fasst Léopold Hnacipan, Lehrer und Dichter vom Stamm
der Tieta, die Haltung vieler so zusammen: Gefühlsmäßig sind sie für ein
unabhängiges Neukaledonien, aber weil sie denken, dass das Land noch nicht
bereit ist für die Unabhängigkeit, wollen sie das Erreichte nicht
gefährden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt pro Kopf zwar 29 Prozent
unter dem des Mutterlands, ist aber elfmal so hoch wie in Vanuatu.
Mit Ausnahme der Arbeiterpartei, die ihren Wählerinnen und Wählern empfahl,
am 4. November „fischen zu gehen“, befürworten sämtliche politischen
Gruppierungen den Prozess, der im Abkommen von Nouméa vereinbart wurde und
in dessen Mittelpunkt das „gemeinsame Schicksal“ steht: ein mythischer
Begriff, der eine kaledonische Staatsbürgerschaft postuliert, die einer
möglichen Nationalität vorausgehen soll. Die Hälfte der heutigen
Bevölkerung Neukaledoniens hat die bürgerkriegsähnlichen Zustände der
1980er Jahre nicht miterlebt, die verharmlosend als „Ereignisse“ bezeichnet
werden. Das Land sehnt sich nach Ruhe und hält lieber am Status quo fest.
Élie Poigoune, einer der Gründer der Partei für die Befreiung der Kanak
(Palika), die an vorderster Front für die Unabhängigkeit kämpft und
einstmals marxistisch-leninistische Ideen vertrat, erklärt: „In den letzten
30 Jahren haben die Caldoches, die Kanak und die anderen Volksgruppen
gemeinsame Positionen gefunden, wie man das Land in die richtige Richtung
entwickeln kann, wie das Zusammenleben aussehen soll, damit die
Gesellschaft harmonischer wird.“
## „Ein Staubkorn auf der Landkarte“
Poigoune, seit 1998 Vorsitzender der lokalen Menschenrechtsliga (LDH), ist
zusammen mit anderen „Weisen“ in Schulen und Fernsehstudios gegangen, um im
Vorfeld der Abstimmung für Einigkeit zu werben. In den 1960er Jahren
gehörte er zu den ersten Kanak, die das Abitur ablegten. Ihm bedeuten „die
Werte der Republik“ sehr viel. Er ist für die Unabhängigkeit, kann aber
auch mit einem „Nein“ leben. Nach den Regeln des Nouméa-Abkommens können
2020 und 2022 noch zwei weitere Referenden zu der Frage stattfinden.
Poigoune ist außerdem Realist: „Wir können die Verbindungen zu Frankreich
gar nicht kappen. Wir sind ein Staubkorn auf der Landkarte. Manche Aufgaben
können wir gar nicht übernehmen.“ Nicht alle teilen diese Ansicht.
„Vielleicht hätten wir schon vor 20 Jahren abstimmen sollen“, sagt Roch
Wamytan von der Kaledonischen Union. Er war 1998 Vorsitzender der FLNKS und
einer der Unterzeichner des Abkommens von Nouméa. „Wir hätten damals
wahrscheinlich verloren. Aber das hätte uns nicht daran gehindert, das
Abkommen auszuhandeln.“
Manche klagen auch über die Inhaltsleere des Wahlkampfs. Und die
Satirezeitschrift Le Chien bleu rennt mit ihrer Kritik an den überalterten,
nur mit Flügelkämpfen beschäftigten „verbürgerlichten“ Parteien bei vie…
Abstimmungsberechtigten offene Türen ein. Posten, Dienstwagen, Gehälter,
bezahlte Reisen ins Mutterland – „Rentiers des Kampfes“, nennt sie Pascal
Hébert, der ehemalige Generalsekretär einer Bildungseinrichtung.
Pierre Gope, ein kanakischer Theatermacher, forderte mit seinem letzten
Stück dazu auf, zur Abstimmung zu gehen. Der Titel: „Ich wähle ungültig“.
„Unsere Politiker sind schwach“, sagt er. „Unsere Ältesten sind alt, und
die Abgeordneten sind in erster Linie Abgeordnete der Französischen
Republik, bei den Stämmen tauchen sie nicht mehr auf.“ Um die Spaltung zu
verdeutlichen, lässt er in dem Stück eine legendäre Gestalt des kanakischen
Unabhängigkeitskampfs auftreten: Yeiwéné Yeiwéné, die rechte Hand des
FLNKS-Vorsitzenden Jean-Marie Tjibaou. Beide kamen 1989 bei einem Attentat
ums Leben.
## „Aufreger“ im Alltag
„Alles dreht sich nur um die Unabhängigkeit. Das geht mir auf die Nerven!“,
beschwert sich Alcide Ponga, Bürgermeister von Kouaoua und Mitglied des
Rassemblement – Les Républicains (R-LR). Er stammt aus einer kanakischen
Familie, die schon immer auf der Seite der Loyalisten stand. „Nicht die
politische Klasse ist überaltert, sondern die politischen Fragen, die man
immer wieder stellt, sind veraltet.“
Der gleichen Ansicht ist auch der 30-jährige Kassierer Kevin Rolland. Das
Geschäft, in dem er arbeitet, vergibt nur befristete Arbeitsverträge. In
seiner Freizeit ist Rolland ein „Kydam“, ein rappender Dichter. Mit
Freunden hat er den Clip „Demain“ zusammengestellt. „Mit euch, aber nicht
ohne uns“, heißt es darin. Nach seiner Einschätzung ist das Referendum, das
er selbst boykottiert, den Menschen komplett egal. Die meisten beschäftigt
eine ganze andere Frage: Wie bewältigen wir den Alltag?
Der Alltag liefert jeden Morgen neue „Aufreger“ im Radio: Das Leben ist
teuer (33 Prozent teurer als in Frankreich, Lebensmittel sind sogar 73
Prozent teurer, während der Mindestlohn und das Durchschnittseinkommen um
20 Prozent geringer sind). Anfang Oktober wurde eine allgemeine
Mehrwertsteuer eingeführt, die die Preise noch mehr in die Höhe treibt,
weil manche Händler sie nicht anstelle der bestehenden Steuern erheben,
sondern noch oben draufschlagen. Es herrscht Bildungsmangel und
Analphabetismus (33 Prozent der Bevölkerung haben Schwierigkeiten beim
Lesen), nur drei von 100 Anwälten, die in Nouméa zugelassen sind, sind
Kanak, an den Universitäten sieht es nicht anders aus. Die Menschen klagen
über Benachteiligung und mangelnde Sicherheit.
Ein Besuch beim Strafgericht, wo die Richter weiß sind und die Angeklagten
fast immer schwarz: Gewalt gegen Frauen, Steinwürfe auf Polizeifahrzeuge,
Drohungen mit Waffengewalt unter Alkoholeinfluss; jedes Jahr werden mehr
als 5.000 Anzeigen wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit erstattet (das
entspricht 20 Prozent der Anzeigen in Frankreich). In den Supermärkten sind
die Alkoholregale zu bestimmten Zeiten verschlossen. Die Kleinkriminalität
unter dem Einfluss von Alkohol oder Cannabis ist ein Dauerthema. Die Zahl
aufgebrochener oder gestohlener Fahrzeuge pro Kopf ist doppelt so hoch wie
im französischen Durchschnitt. Täglich wird von Überfällen auf
Gesundheitszentren, öffentliche Einrichtungen und Geschäfte berichtet.
## Die Wunden der Kolonialzeit
Die Arbeitslosenquote lag 2017 bei 11,6 Prozent, nur für Menschen mit
Behinderung und neuerdings auch für Ältere gibt es Sozialleistungen nach
dem Vorbild des französischen Mindesteinkommens. Alle anderen gehen leer
aus. Die Einkommensunterschiede sind doppelt so groß wie in Frankreich, und
der Lebensstandard der reichsten 10 Prozent ist 7,9-mal so hoch wie der
Lebensstandard der ärmsten 10 Prozent. „Die nächste Revolution wird keine
nationalistische, sondern eine soziale sein“, meint deshalb Élie Poigoune.
Der 31-jährige Wirtschaftswissenschaftler Samuel Gorohouna, einer der
wenigen kanakischen Dozenten an der Universität von Neukaledonien,
bestätigt das: „Solange die Schule eine Institution zur Reproduktion der
sozialen Verhältnisse ist, können sich die Kanak keine Gleichheit
erhoffen.“ In Koné, der Hauptstadt der Nordprovinz, wo 2019 eine Dependance
der Universität eröffnen werden soll, zeigt er uns die Überreste der Hütte
aus Lehm und Blech, in der er mit seinen Brüdern aufgewachsen ist: kein
Tisch, nur eine Laterne für alle. Bis in die 1990er Jahre gab es kein
fließend Wasser, 1994 (zur Fußball-WM) kam der erste Fernseher. Heute
besitzen sie alle ein Smartphone. „Wir vergessen es manchmal“, sagt er,
„aber wir haben einen sehr langen Weg hinter uns.“
„Die Wunden der Kolonialzeit heilen nicht innerhalb einer Generation“,
erklärt Nicolas Kurtovitch, Schriftsteller und ehemaliger Direktor einer
protestantischen Privatschule in Nouméa. „Die Stadt ist ethnisch immer mehr
gemischt, die sozialen Veränderungen sind immens. Es geht aufwärts. In
unserer Schule gab es 1989 nur einen kanakischen Lehrer, heute sind es 15
von 50.“ Im Haut-Commissariat de la République, dem Sitz des Vertreters der
Zentralregierung in Neukaledonien, ist man vorsichtiger. Von einer
„integrierten Gesellschaft“ sei man noch weit entfernt. Der Rassismus
bricht sich in den sozialen Netzen Bahn. Spannungen zwischen den
Bevölkerungsgruppen können jederzeit wieder aufflammen – so etwa Anfang
Oktober in Ouégoa im Norden von Grande Terre, als Caldoches eine Kundgebung
der FLNKS verhinderten.
„Das Erbe der Kolonialherrschaft hat sich mit einer problematischen
sozialen Situation vermischt. Nicht die Hautfarbe macht den Unterschied,
sondern die Kaufkraft“, meint Kurtovitch. „Vieles hat sich in den letzten
30 Jahren verändert, aber das Geld ist immer noch da, wo es immer war“,
bestätigt Roch Apikaoua, Priester kanakischer Abstammung und Generalvikar
der Diözese Nouméa. „Unsere Essens- und Kleidungsgewohnheiten halten uns im
System. Das kapitalistische System ist die Fortsetzung des Kolonialismus.“
## Die Nickelstrategie ging nicht auf
Michel Levallois, Historiker, Experte für die Überseegebiete und lange
Jahre im französischen Staatsdienst, sagte kurz vor seinem Tod: „Die
Politik, die im Namen des ,gemeinsamen Schicksals' betrieben wurde, von dem
im Abkommen von Nouméa die Rede ist, hat die Autonomie des Gebiets zwar
gestärkt, es aber nicht auf die volle Souveränität vorbereitet. Das hat die
Verhältnisse der Kolonialzeit zugunsten der nichtkanakischen Bevölkerung
verfestigt.“ Tatsächlich hält die Südprovinz, wo drei Viertel der Menschen
leben und die mehrheitlich weiß ist, die Zügel in der Hand – gestützt auf
die Autonomieregelungen des Abkommens von Nouméa.
10 Prozent der weltweiten Nickelproduktion und potenziell bis zu 30
Prozent der weltweiten Reserven entfallen auf die Insel. Deshalb
kalkulierte die FLNKS damit, lokale Fabriken aufzubauen (wie in Südkorea
und China), um die Unabhängigkeit zu finanzieren. Doch die
„Nickelstrategie“ ging nicht auf – zu sehr schwankten die Preise; im Zuge
der Finanzkrise vor zehn Jahren brachen sie komplett ein. Bergbau und
Metallurgie (die zwischen 5 und 10 Prozent des BIPs ausmachen und 14
Prozent der Arbeitsplätze) haben zwar die Baubranche und öffentliche
Aufträge gefördert und damit der gesamten Nordprovinz Auftrieb gegeben.
Aber das Problem ist, dass es (mit Ausnahme der Produktion von
Sandelholzöl) keine nachhaltige Exportindustrie mit hoher Wertschöpfung
gibt und dass vor allem die Transportkosten nach Frankreich zu Buche
schlagen (13 Prozent des BIPs).
6.700 Beamte, hauptsächlich im Bildungswesen, bekommen ihr Gehalt vom
französischen Staat. Laut dem Haut-Commissariat müsste das lokale
Steueraufkommen nach der Unabhängigkeit auf das Doppelte steigen, um das
Versorgungsniveau zu halten.
Im Gegensatz zur Kleinkriminalität kommen die wichtigen Themen in den
öffentlichen Debatten viel zu kurz: die Konzentration des Handels bei einer
Handvoll Familien, die Oligopole, die die Gewinnmargen aufblähen, und die
Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Seit Kurzem existiert eine
unabhängige Kartellbehörde, die für mehr Transparenz sorgen könnte. Es wird
über Importquoten gesprochen, die Knappheit erzeugen und die Preise in die
Höhe treiben, und über die großzügige Entlohnung der Staatsdiener (die
französischen Gehälter werden in Nouméa mit 1,73 multipliziert und auf dem
Land mit 1,94). Nicht zu vergessen die Ungerechtigkeit des Steuersystems,
das keine Progression kennt und die Ärmsten übermäßig belastet. Bei der
Staatsanwaltschaft in Nouméa wundert man sich, dass die Behörden zwar
Steuerbetrug registrieren, aber nie einschlägige Ermittlungsakten auf ihren
Schreibtischen landen.
## „Untertanen der französischen Republik“
„Die Unabhängigkeit hat symbolisch, emotional und affektiv nicht mehr die
gleiche Bedeutung. Die Weißen werden nicht gehen, die Kolonialfrage bleibt.
Und eine weiße Unabhängigkeit würde nichts lösen“, meint der Ethnologe
Benoît Trépied. Deshalb sind viele skeptisch: Was wäre der Gewinn der
Unabhängigkeit? Und wie könnten die Kanak und ihr Territorium besser
geschützt werden?
Das Abkommen von Nouméa wollte diese Frage mit dem Konzept des „gemeinsamen
Schicksals“ und der Einrichtung eines „Sénat coutumier“ lösen, eines
beratenden Gremiums, das als Mittler zwischen Tradition und Institutionen
fungieren sollte. Die FLNKS glaubte so die „Opfer der Geschichte“ –
Nachfahren von Sträflingen und ethnischen Gruppen aus Asien und dem
pazifischen Raum, die in der Kolonialzeit nach Neukaledonien verschleppt
wurden – für die Mitwirkung an ihrem Unabhängigkeitsprojekt zu gewinnen.
Ohne Erfolg. Rückenwind bekommt dafür heute die gemäßigt rechte
Antiunabhängigkeitspartei Gemeinsames Kaledonien, die mit einer weißen
Mehrheit für Multikulturalismus und ethnische Diversität eintritt.
Das führt auch zu Frustration. „Wir werden nicht zu 100 Prozent anerkannt.
Das Kanak-Volk müsste im Zentrum stehen, aber das tut es nicht. Ob es um
Land geht oder Bergbau – die Kanak haben nichts davon. Und die Steuern
hindern sie täglich daran, sich zu emanzipieren“, klagt Pierre Gope.
Emmanuel Tjibaou, ein Sohn von Jean-Marie Tjibaou, Leiter der Behörde für
die Entwicklung der kanakischen Kultur, erinnert daran, wie sehr die Gewalt
gegen sein Volk und gegen seine Familie noch in den Köpfen präsent ist.
Sein Großvater war zehn Jahre alt, als in Reaktion auf die Aufstände von
1917 die Hütten niedergebrannt und die Menschen mit Maschinengewehren
niedergemäht wurden. Sein Vater wiederum war zehn Jahre alt, als der
„Eingeborenenkodex“ aufgehoben wurde, die Sammlung von Dekreten, die die
Ureinwohner zu „Untertanen der französischen Republik“ erklärte und ihrer
politischen Rechte und Freiheiten beraubte.
„Wir sprechen ihre Sprache und passen uns an. Aber wie zeigt sich
umgekehrt, dass sie unsere Kultur anerkennen?“, fragt Pierre Gope. Die
Kinder lernen in der Schule nicht mehr ihre Muttersprache. In den
Geschichtsbüchern kommen die „Ereignisse“ immer noch nicht vor. „Was sol…
wir machen, wenn unsere Geschichte in den Büchern nicht erzählt wird?“
## Die Charta der Kanak wurde nicht anerkannt
„Nur wenige Lehrkräfte machen sich Gedanken darüber, wie sie den Unterricht
gestalten, die ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum und zu anderen
Menschen haben“, erklärt Hamid Mokaddem, Philosoph und Dozent am Institut
für Lehrerbildung. „Den Kanak ist es beispielsweise fremd, mit anderen zu
konkurrieren, um Erfolg zu haben, sie sind es gewohnt zusammenzuarbeiten.
Soll man sie deswegen zum Schulpsychologen schicken, wenn sie nicht
mitkommen?“
In Houaïlou an der Ostküste, wo die meisten Fahnen und Wimpel des
unabhängigen Staates Kanaky von den Bäumen und Brücken hängen, ist der
30-jährige Pascal Sawa Bürgermeister: „Die Kolonialzeit ist noch nicht
vorbei! Frankreich hat immer noch das Sagen, und vom gemeinsamen Schicksal
sind wir noch weit entfernt. Doch als Volk haben wir das Recht, uns selbst
zu regieren. Unsere Errungenschaften sind immer das Ergebnis politischer
Kämpfe gewesen.“
Raphaël Mapou, von 1989 bis 1998 Sprecher von Palika, ist da anderer
Meinung: „Die kanakische politische Klasse hat es nicht geschafft
klarzumachen, inwiefern die Unabhängigkeit eine Sache der Kanak oder
Ausdruck der kanakischen Identität ist.“ Mapou hat sich schon lange von der
Idee verabschiedet, „dass man am Klassenkampf festhalten muss, um die
Gesellschaft zu verändern und die Kolonialherrschaft zu überwinden“. Er
setzt sich inzwischen für ein anderes Ziel ein: die Anerkennung der Kanak
als indigenes oder autochthones Volk mit eigenen Rechten wie bei den Inuit
in Kanada.
Die Erklärung der UN-Vollversammlung über die Rechte indigener Völker von
Jahr 2007 (die Frankreich unterstützt hat) spricht ihnen unter anderem das
Recht auf Selbstbestimmung und auf ihre Bodenschätze zu, das Recht, vor
Vertreibung sicher zu sein, und das Recht, frei über ihre wirtschaftliche
und gesellschaftliche Entwicklung zu entscheiden.
Raphaël Mapou, frischgebackener Doktor der Rechte und bis September 2018
Sonderberater des Senats, hat mit Unterstützung französischer Juristen
vergeblich versucht, diese Institution zu stärken. 2014 wurde nach
Beratungen der Verantwortlichen der acht Stammesgebiete eine Charta des
kanakischen Volks verabschiedet, die als Grundlage einer künftigen
Verfassung dienen soll. Doch der Kongress hat das Dokument nicht anerkannt.
Die politischen Parteien einschließlich der Befürworter der Unabhängigkeit
wollten lieber eine Charta der „kaledonischen Werte“ haben. „Die politisc…
Klasse denkt, sie könnte die Entkolonialisierung allein durch die Parteien
und die republikanischen Institutionen erreichen. Das wird nicht
funktionieren“, meint Mapou.
Françoise Fara Caillard steht für einen indigenen Feminismus, sie fragt:
„Wie kann man nationalistisch sein in einem Land, in dem man die Minderheit
ist? Wir wollen als indigenes Volk anerkannt werden. Das ist unser
Instrument des Widerstands.“ Lokale Gruppen protestieren gegen die Schäden
durch den Bergbau, die Verwüstung der Landschaft und dagegen, dass nur ein
geringer Teil des Gewinns bei den Menschen ankommt.
Im Sommer 2018 brachte eine Gruppe in Kouaoua ein Projekt zu Fall, das eine
„Tabustätte“ erschließen sollte, wo seltene Pflanzen und Gummibaumarten
wachsen. Wir treffen die Mitglieder der Gruppe. Sie liegen im Clinch mit
den gewählten Vertretern und den Stammesführern, die dem Projekt ihren
Segen gegeben haben: „Wir müssen respektieren, was die Alten uns gesagt
haben: Dieser Ort ist tabu, wir dürfen dort nicht hingehen.“ In der Stadt
träumen die jungen Mitglieder der Gruppe Maintenant c’est nous (Jetzt sind
wir an der Reihe) derweil von einer Gesellschaft, die „gerechter und
solidarischer“ ist.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
11 Nov 2018
## LINKS
[1] /Referendum-Unabhaengigkeit/!5545118
## AUTOREN
Jean-Michel Dumay
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