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# taz.de -- Marseille baut um: Die ungezogene Schöne
> Der Titel „Kulturhauptstadt 2013“ hat Marseille verändert. Das damals
> gebaute Mittelmeermuseum hat ein neues Zentrum geschaffen.
Bild: Blick auf die Stadt aus dem Museum der Zivilisation Europas und des Mitte…
Sturz auf der Rue Lafayette. Jacke, Tasche, Hände blutrot. Ein kurzer
Schreckmoment, leicht abrufbare Bilder: Marseille, das Monster, die Stadt
des organisierten und nicht organisierten Verbrechens, aber es sind nur die
Flecken der unter mir auslaufenden, zerbrochenen Rotweinflasche.
Jean-Claude Izzo und Berichte über Bandenkrieg sowie Jugendkriminalität
haben mein Bild von Marseille geprägt. Doch ich bin nur Opfer der
mangelhaften städtischen Infrastruktur, eines tiefen Lochs mitten auf dem
Trottoir.
„Marseille ist keine Stadt für Touristen“, schreibt Izzo in „Total Cheop…
dem ersten Band seiner Krimi-Trilogie zu Marseille. „Es gibt dort nichts zu
sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit.
Hier muss man Partei ergreifen.“ Ich würde widersprechen: Marseille ist
fotogen. Aber Izzo hat seine Romane um 2000 geschrieben, also bevor
Marseille Kulturhauptstadt 2013 wurde.
Auch Véronique Bieger widerspricht: „Marseille ist sehr fotogen“, sagt die
Geschichtslehrerin, die auch die kleine Pension Edelweiß in der Rue
Lafayette betreibt. Eine sehr angenehme Unterkunft, gleich beim Bahnhof
Saint Charles. Liebevoll geführt, zentral gelegen mit fünf geschmackvollen
Gästezimmern und einem köstlichen Frühstück am gemeinsamen Küchentisch.
Toulouse-Lautrec-Plakate, Gebrauchsgrafik im Jugendstil an den Wänden,
französische Chansons. Gelebter Vintage, nostalgisches Frankreich.
Man findet diese Atmosphäre auch noch in vielen Bars und Restaurants von
Marseille. „Die Stadt verändert sich. Die Events und Bauten rund um den
Status Europäische Kulturhauptstadt 2013, der damalige Erfolg haben der
Stadt die Augen geöffnet, Potenziale freigelegt“, sagt Véronique Bieger.
## Die Ärmsten und die Reichsten
„Diese Hafenstadt, in der man die Vibration von gestern spürt. Nostalgisch,
aber voller Poesie. Ich mag ihre Melancholie, die viel mit dem Untergang
der Arbeiterklasse zu tun hat, diese Mischung aus Kulturen, sozialen
Klassen. Ich mag ihre Traurigkeit, das gibt ihr Tiefe. Ich kann nirgends
anders leben“, gesteht Véronique, die mit ihren dicken dunklen Haaren, den
braunen Augen und dem schönen Gesicht unverwechselbar hier her gehört. Sie
liebe Marseille, „das Licht, das Meer“. An Berlin, wo sie ein anderes Leben
versucht hat, ist sie gescheitert.
Marseille sei allerdings auch eine Stadt, in der man die Gewalt intensiv
spüre, zum Beispiel an der Schule, wo sie arbeitet, und es immer wieder zu
Konflikten kommt. „Ich mag auch nicht die Nachlässigkeit, den Schmutz. Und
ich mag vor allem nicht die Vermieter, von denen es in Marseille viele
gibt, die Einwanderer und Bedürftige in ihren schlechten Wohnungen
zusammenpferchen und horrende Gewinne damit machen. Ich meine jetzt nicht
die großen Spekulanten, das sind einfache Marseiller ohne Verantwortung“,
sagt Véronique.
Nach einem Bericht der OECD ist Marseille die Stadt mit den größten
sozialen und ökonomischen Unterschieden Frankreichs. „Die Reichen sind hier
reicher, die Armen ärmer“, bringt es Véronique auf den Punkt. Da ist der
Süden mit seinen Buchten, Stränden und Villen am Meer, wohin man vom Alten
Hafen aus über die sehr lange Rue Paradise quer durch die Stadt flanieren
kann. Wer auf Haute Couture steht, findet hier im 6. Arrondissement in der
Rue Rome und der Rue Paradise Edelboutiquen und Pariser Chic zu
paradiesisch hohen Preisen.
Anders die Viertel nördlich vom Alten Hafen und vom Bahnhof Saint Charles,
beispielsweise das Viertel Belle de Mai, wo der Migrantenanteil hoch ist,
die Jugendarbeitslosigkeit wächst und Bandenkriege auf der Tagesordnung
stehen. Ein rumänisches Ehepaar sammelt Blechschrott aus Müllcontainern,
vor den Schulen warten zu 80 Prozent kopftuchtragende Mütter auf ihre
Kinder, fast an jeder Ecke riecht es nach Gras.
In seinem Buch „Die Erschaffung des Monsters“ erzählt Philippe Pujol vom
Elend und den Parallelgesellschaften Marseilles: verwahrloste Vorstädte,
gescheiterte Integration zahlreicher Einwanderergenerationen, industrieller
Wandel.
Im Viertel Belle de Mai wird restauriert und gebaut. Mit neuen
städtebaulichen Ideen der Städtebauinitiative „Euroméditerrannée“ versu…
die Stadt, sich gegen ihre Probleme zu stemmen. Im 2. Arrondissement wächst
und verändert sich Marseille durch eine große städtebauliche Intervention.
„Les Crottes“, eines der Quartiere nördlich vom Alten Hafen wird zu großen
Teilen abgebrochen. Urbanisten und Architekten betonen: Es beträfe nicht
mehr als 3.000 Bewohner. Als würden sie sich dafür entschuldigen, dass die
kleinen Wohnhäuser, die eine für Marseille ausgesprochen geringe Dichte
aufweisen, nun den geplanten Großüberbauungen mit 30 Hektar Park weichen
müssen.
## Prestigebauten am Meer
Oder die Restaurierung des ältesten Viertel der Stadt, des Panier. Noch vor
Jahren wurden Touristen wegen hoher Kriminalität vor dem Besuch dort
gewarnt. Das hat sich geändert: Heute wächst dort ein Flanierviertel mit
Restaurants und Café-Terrassen. Wo denn das berühmte Panier-Viertel sei,
fragt mich die ältere Dame in der handtuchschmalen Gasse Montée des
Accoules mit den abgestützten, bröckelnden Häuserfronten. Doch sie steht
schon mittendrin und ist enttäuscht, sie hat wohl ein zweites Montmartre
erwartet. Steile Treppenaufgänge, lauschige kleine Plätze, der Blick aufs
Meer kennzeichnen durchaus dieses Viertel im Aufbruch.
Marseille hat sich verändert: Prestigebauten an der Mittelmeerpromenade,
allen voran das Mucem, Musée des civilisations de l’Europe et de la
Méditerranée, ein Museum für die Zivilisation in Europa und am Mittelmeer.
Es besteht aus einem riesigen Gebäudekomplex von fast 30.000 Quadratmetern
mitten im Zentrum von Marseille, an der Straße zum Alten Hafen. Ein Kubus,
dessen filigrane Betonstruktur wie ein Fischernetz wirkt. Eine Brücke über
das Meer verbindet den Museumsneubau mit dem Fort Saint-Jean, einem
vollständig restaurierten historischen Monument des 17. Jahrhunderts. An
der Uferstraße nördlich vom Vieux Port entstand eine neue Skyline.
Fertig gebaut ist das Hochhaus mit dem gläsernen Turm von Zaha Hadid.
Unmittelbar daneben, zwischen zwei Autobahnbrücken, steht in voller Höhe
die 31-stöckige La Marseillaise von Jean Nouvel. Die vor den Hochhäusern
verlaufende Hafenpromenade mit den alten Docks wurde zur chicen
Einkaufsmeile. Dort am Hafen legen die Fähren nach Tunis oder Algier ab.
## Stadt der Migranten
„Marseille ist genauso weit von Algier wie von Paris entfernt. Seine
Bevölkerung ist ein mediterraner Schmelztiegel“, sagt Marie Baduel, die
strategische Direktorin der Gesellschaft für nachhaltige Stadtentwicklung
(AviTeM) beim Mittagessen im Restaurant Opéra. Die Restaurierung der Stadt
sei etwas sehr Komplexes. Öffentliche Hand und private Investoren müssten
zusammenarbeiten.
„Wir brauchen beispielsweise viele Sozialwohnungen auch im Zentrum. Wir
müssen uns gegen Wohnungsspekulation positionieren. Die Politik ist sich
dessen bewusst“, sagt sie. Es gebe durchaus eine ökonomische Perspektiven
für Marseille. Die Stadt sei flexibel, lebendig, interessant, weltoffen.
„Wissen Sie eigentlich, dass hier mehr Leute in die vielen kleinen Theater
gehen als zum Fußball?“
Am Cours Julien im Zentrum, nicht weit vom Alten Hafen entfernt, schlägt
heute das Herz von Marseille. Hier findet man Designerläden, Bars,
Restaurants, Theater in den mit knallbunten, graffitibesprühten alten
Häusern. Hier flanieren Touristen und Einheimische, abends sind die Bars
und Restaurants brechend voll.
Lange wurde Marseille als Hauptstadt des Mittelmeers gehandelt. „Das ist
auch Ideologie“, sagt Marie Baduel. „Was zählt, sind doch die konkreten
Beziehungen.“ So habe die Restaurierung einiger Viertel im Zentrum von
Marseille dazu geführt, dass viele kleine Händler mit Produkten aus dem
Maghreb – Stoffen, Lebensmitteln und anderen Alltagsprodukten – zugunsten
von internationalen Boutiquen verdrängt wurden.
„Aber es geht auch weiter. Wir sind trotz alledem ein wichtiges Zentrum.
Präsident Macron sucht verstärkt den Dialog mit dem Maghreb. Es finden
Konferenzen zur Stadtentwicklung auf beiden Seiten des Mittelmerraums
statt. Und wir arbeiten an einem Technopool für das gesamte Mittelmeer“,
sagt Marie Baduel.
## Hauptstadt des Mittelmeers?
Als Ort der Begegnung der Länder rund um das Mittelmeer und zum
Weiterdenken wurde 2013 die Villa Méditerrannée eröffnet, ganz zentral,
gleich neben dem Mucem. Sie wird oft als riesiges Betonsprungbrett am Meer
beschrieben. Im Jahr 2015 kam es zu einer Kontroverse über die Zukunft der
für die Stadt teuren Villa. Der Vorschlag, ein Casino daraus zu machen,
wurde heiß diskutiert und schließlich fallen gelassen.
Nun wird der Ort des Dialogs zum Ort der Geschichte: Die prähistorische
Unterwasserhöhle, die Cosquer-Grotte, wird hier nachgebaut als
Touristenattraktion. Die 1995 vor Marseille entdeckte Höhle beherbergt 200
Höhlenmalereien und -zeichnungen aus der Jungsteinzeit. Das Replikat soll
500.000 Besucher pro Jahr anziehen. Statt Blick in die Zukunft der
Mittelmeerregion nun ein Blick zurück in Urzeiten.
Dabei gibt es viel zu besprechen unter den Mittelmeeranrainern: die
Verschmutzung, die touristische und industrielle Ausbeutung des Meers, das
schon bald ein totes Meer sein könnte, die Chancen einer Energieunion. Der
Mittelmeerraum wird als der wichtigste Hotspot künftiger Klimaänderungen in
Europa gesehen, mit einer erheblichen Gefahr von Dürren und Hitzewellen.
Modellrechnungen haben ergeben, dass der Niederschlag im Mittelmeerraum bis
zum Ende des 21. Jahrhunderts deutlich abnehmen wird. Hier sind vor allem
Spanien, Marokko und Algerien betroffen.
Sommerliche Hitzewellen werden intensiver. Alle mediterranen Länder müssen
sich auf die Entwicklung, auch wachsende Migration einstellen. Meinolf
Spiekermann arbeitet für die GIZ im Center for Mediterrannean Integration
(CMI). Hier sitzen internationale und Akteure der
Entwicklungszusammenarbeit. Sie verhandeln die Entwicklung des Südlichen
Mittelmeers, auch die Zukunft seiner Metropolen.
## Marseille, der rettende Hafen
„Diese Koordination, das Networking, die Konferenzen zum Mittelmeerraum, wo
alle beteiligten Partner sich gemeinsam über bestimmte
entwicklungsrelevante Themen beraten, ist sehr wichtig, um über den eigenen
Tellerrand zu schauen. Wichtig ist auch die konkrete Vernetzung. Und
Marseille bietet sich dafür sehr gut an“, sagt Meinolf Spiekermann.
Marseille, die bunte Hafenstadt zwischen Europa und Afrika, die Stadt der
Migranten: Die Kreuzritter segelten von hier nach Jerusalem, französische
Handels- und Kriegsschiffe zogen von hier aus in die Kolonien. Marseille
war rettender Hafen für viele deutsche Schriftsteller, die vor den Nazis
flohen, und ist trotz alledem noch immer Sehnsuchtsziel vieler Einwanderer
aus Nordafrika.
„Ja“, sagt Véronique Bieger beim Abschied, „es gibt viel Rassismus hier,
die Stadt polarisiert: Stark sind hier die ganz Linken und die ganz
Rechten. Aber diese Stadt hat bislang immer noch ein Zentrum, wo Aisha und
Pierre zusammenwohnen, sich begegnen und irgendwann vielleicht aufeinander
angewiesen sind. Rassismus hält sich hier nicht so lange.“
5 May 2018
## AUTOREN
Edith Kresta
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