# taz.de -- Sachbuch „Elend und Macht in Marseille“: Bloße moralische Emp�… | |
> Was „The Wire“ für Baltimore ist, soll Philippe Pujols Buch für Marseil… | |
> sein. Doch der Hype um das Sachbuch fußt auf einer dünnen Grundlage. | |
Bild: Je näher der Autor hinschaut, umso fremder schaut es zurück | |
„Elend und Macht in Marseille“ lautet der Untertitel eines neuen Buches | |
über die zweitgrößte Stadt Frankreichs, und zumindest der erste Teil dieses | |
Untertitels lässt sich auch auf das Buch des Journalisten Philippe Pujol | |
selbst anwenden. Das Elend seiner Reportage besteht darin, dass es sich um | |
einen in die Länge gezogenen Artikel handelt, wie er in einem x-beliebigen | |
Magazin stehen könnte. Viele mögen darin keinen Nachteil sehen, aber von | |
einem Sachbuch sollte man Hintergründe, Analyse und einen historischen | |
Kontext erwarten können. | |
Stattdessen besteht das Buch aus zum Teil reißerisch aufgemotzten Berichten | |
über individuelle Schicksale, über Personen also, die in ihrer Typologie so | |
eindimensional und klischeehaft sind, dass sich außer einem „wie schlimm | |
aber auch“ kaum ein Erkenntnisgewinn aus dem Buch ziehen lässt. | |
Außer seiner moralischen Empörung über die Zustände hat der Autor kein | |
begriffliches Handwerkszeug, um über eine so spannende Stadt wie Marseille | |
mehr herauszufinden als den Befund: Überall herrschen Chaos, Gewalt, | |
Korruption. Leser, die sich gerne bestätigen lassen, was sie schon vorher | |
wussten, sind hier an der richtigen Adresse: Für sie funktioniert das Buch | |
als Wimmelbild des Elends und evoziert ein permanentes Einverständnis. | |
Pujol will beispielsweise „verstehen, was für ein Leben Kader geführt hat�… | |
ein sogenannter Wegwerfgangster, wie man gleich in der Kapitelüberschrift | |
erfährt. Dazu taucht Pujol tief ein: „Ich laufe, wo er gelaufen ist. Ich | |
fahre, wo er gefahren ist. Ich trinke das pappsüße Zeug, das er immerzu in | |
sich hineinschüttete. Ich rauche sogar sein abscheuliches Dope.“ Eine | |
eigenwillige Berufsauffassung, die des Journalisten Nähe zu seinem Opfer | |
beweisen soll. | |
Aber je näher er hinschaut, desto fremder schaut es zurück: „Letzten Endes | |
komme ich zu dem Ergebnis, dass er einfach nur die verrückte Existenz eines | |
Normalos geführt hat, der nicht in die richtigen Kreise hineingeboren | |
wurde.“ Liegt es also am sozialen Umfeld? „Man kann nicht behaupten, dass | |
Kaders Vater sich nicht um ihn gekümmert hat, und auch nicht, dass es Kader | |
an Liebe oder an Bindung zu den Eltern fehlte.“ Es ist die Armut, die ihn | |
mit drei Kugeln im Kopf enden ließ. | |
Das kann in diesem besonderen Fall zwar so sein, aber es ist eine sehr | |
schlichte Annahme, die vor allem nicht dazu taugt zu erklären, warum Kader | |
zum Kleinkriminellen wurde, genauso wenig wie Reichtum jemanden dazu | |
prädestiniert, zum Gangsterboss zu werden. In dieser schlichten | |
Vorstellungswelt erfährt man wenig darüber, wie die Problembezirke | |
entstanden sind, wie ihre soziale Zusammensetzung ist und wie sie sich | |
inzwischen vielleicht verändert haben, nur prall mit Details angereicherte | |
Geschichten, die man schnell wieder vergessen hat. | |
Natürlich kann man über Einzelschicksale berichten. Grandios hat Ramita | |
Navai das in ihrem Buch über Teheran, „Stadt der Lügen“ (2016), gemacht, | |
weil sich allein durch die Kraft ihrer Erzählung und nicht durch einen | |
mahnenden Zeigefinger ein gesellschaftlicher Kosmos öffnet, den man durch | |
ihre Geschichten zu verstehen beginnt. Aber dazu fehlen Pujol nicht nur die | |
sprachlichen Mittel, sondern auch das Verständnis, eine Geschichte zum | |
Leben zu erwecken. Er will empören und schockieren, und deshalb reiht er | |
eine Szene an die andere, in der er das Unrecht der französischen Politik | |
anprangert. Man wird davon jedoch nicht empört, sondern nur müde. | |
2 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Bittermann | |
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