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# taz.de -- Berlinale-Film „Waldheims Walzer“: Amnesia Austria
> Ruth Beckermanns Doku „Waldheims Walzer“ zeigt, wie die gesellschaftliche
> Mitte in Österreich die Abgrenzung zum Nationalsozialismus aufgab.
Bild: Hier kommt Kurt
„Man kann alle Leute eine Zeit lang an der Nase herumführen und einige
Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit.“ Ruth
Beckermann stellt dieses Zitat Abraham Lincolns ihrem Dokumentarfilm
„Waldheims Walzer“ voran. Lincoln, der 16. Präsident der USA, ging als ein
Großer in die Geschichte ein. Als derjenige, der die Sklaverei abschaffte
und die Einheit der USA sicherte. Wer ist im Vergleich dazu Kurt Waldheim?
Der von 1986 bis 1992 amtierende 6. Präsident der Zweiten Österreichischen
Republik machte sich vor allem dank seiner Gedächtnisschwäche einen Namen.
1986 wurde bekannt, was Waldheim in seiner Biografie alles unterschlagen
hatte: die Zuarbeit bei Judendeportationen und Partisanenbekämpfung im
Zweiten Weltkrieg, ebenso seine Mitgliedschaften in NS-Organisationen. Was
daraufhin in Österreich geschah, beschäftigt die Filmerin Beckermann zu
Recht bis heute.
Denn das konservative und rechte Lager schloss die Reihen, scharte sich um
den früheren Wehrmachtoffizier und beschimpfte die Aufklärer. Mit der
„Affäre Waldheim“ verkam die österreichische Politik zu jenem
pangermanischen Spektakel, das den Aufstieg von Jörg Haiders FPÖ
einleitete. Ohne sie wäre auch der kleine Alpen-Trump Heinz-Christian
Strache als aktueller Vizekanzler in einem Kabinett unter Vorsitz der ÖVP
nicht denkbar.
Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Waldheims Walzer“ setzt mit historischen
Schwarzweißaufnahmen von 1986 an. Der österreichische
Präsidentschaftswahlkampf ist in vollem Gange. Beckermann verstand sich
damals als Filmerin und Aktivistin. Die 1952 in Wien Geborene ist Kind
zweier Holocaustüberlebender.
1986 hält sie mit der Kamera am Stephansplatz in Wien fest, wie sie mit
einer kleinen Gruppe gegen die Präsidentschaftskandidatur Kurt Waldheims
demonstriert. Es kommt zum Handgemenge. Polizisten entreißen
Demonstrierenden Plakate. Passanten beschimpfen sie als „Arschlöcher“,
drohen ihnen Schläge an und skandieren: „Waldheim bleibt“.
## Kampagne gegen „das österreichische Volk“
Im März 1986 hatten das österreichische Nachrichtenmagazin Profil,
US-Medien sowie der World Jewish Congress berichtet, dass Waldheims so
makellose Biografie Auslassungen enthielt. Demnach hatte der
österreichische Karrierediplomat den größten Teil seines Wirkens im Dritten
Reich verschwiegen: seine Zeit als Wehrmachtoffizier auf dem Balkan und in
Griechenland, wo er Einheiten diente, die an Kriegsverbrechen sowie
Judendeportationen beteiligt waren. Waldheim leugnete die Berichte
standhaft, berief sich auf Gedächtnislücken, wurde zunehmend aggressiv. Die
Kampagne richte sich nicht gegen ihn, so Waldheim, sondern gegen das
österreichische Volk.
Neben den eigenen Schwarzweißaufnahmen hat Beckermann Material aus den
(Fernseh-)Archiven für ihren jetzigen Filmessay gesichtet. Viele farbige
Bilder in „Waldheims Walzer“ rücken ihn als früheren Generalsekretär vor
der UNO in New York in Erinnerung, beim Empfang arabischer Freunde oder als
engagierten Wahlkämpfer in eigener Sache vor heimischen Blaskapellen.
Waldheim, zurückgekämmtes Haar, markante Habichtsnase, pflegte als Redner
das Publikum mit raumgreifenden Armbewegungen zu umschließen, während er an
die christliche Werte des anständigen und tüchtigen Österreichs
appellierte.
Filmerin Beckermann verzichtet weitgehend auf eigene ideologische
Kommentierungen. Die Montage der Originalaufnahmen spricht für sich. Sie
weicht nur davon ab, wenn sie in einer knappen Sequenz die Wirkmacht des
katholischen Antisemitismus für Österreich betont. Oder um den
französischen Philosophen Roland Barthes mit Overvoice zu zitieren, der das
konservative Geschichtsbild der angeblich naturgegebenen Ordnung
kritisierte.
1986 hatte Österreich die Chance, mit dem Mythos vom ersten Naziopfer zu
brechen, sich durch die Figur Waldheims der eigenen NS-Täterschaft bewusst
zu werden, kollektiv und individuell Verantwortung zu übernehmen. Doch von
Partisanen- oder Judenmorden wollte die Mehrheit in Österreich nichts
wissen.
## Nur gedient, nichts von Verbrechen gewusst
Die historischen Aufnahmen zeigen Waldheim, den passionierten
Pferdeliebhaber, wie er im Zuge der Affäre immer weiter das völkische
Kollektiv, „unsere wunderschöne Heimat, die wir aus dem Trümmern des
Zweiten Weltkriegs wiederaufgebaut haben“, beschwor. Der stellvertretend
davon spricht, „wie Hunderttausende andere anständige Österreicher“ im
Krieg nur seinem Land gedient und nichts von Verbrechen gewusst haben.
Sogar die Eintragungen in die NS-Organisationen sollen Verwandte irrtümlich
und „ohne sein Wissen“ vorgenommen haben.
Bundeskanzler Fred Sinowatz, ein Sozialdemokrat, prägte 1986 den für die
Causa Waldheim so treffenden Satz: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht
bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist.“
Beckermanns Film dokumentiert, wie sich die Mehrheit eines ganzen Landes um
das Lügengebäude eines skrupellosen Opportunisten schart. Wie der Sohn
Waldheims, Gerhard, am 2. April 1986 vor dem US-Kongress seinem Vater
helfen will. Der in den USA als Banker tätige Sohn verteidigt die Amnesie
seines Vaters. Kurt Waldheim habe über den NS und die Kriegsjahre nicht
gesprochen, da er ja beides gehasst habe. „War Ihr Vater nicht zu
intelligent, um nicht mitzukriegen, was um ihn herum geschah?“, fragt ihn
der Kongressabgeordnete Tom Lantos. Waldheims Sohn wirkt irritiert, mehr
aber auch nicht. Familiäres Schuldbewusstsein oder gar Empathie für die
Opfer lässt er nicht erkennen.
## Papstaudienz und Besuch bei Saddam Hussein
Kurt Waldheim kam als potenzieller Kriegsverbrecher 1987 auf die sogenannte
Watchlist der USA. In seiner bis 1992 dauernden Amtszeit lud ihn keine
westliche Regierung ein. Eine Papstaudienz und ein Besuch beim irakischen
Tyrannen Saddam Hussein – das waren seine protokollarischen Höhepunkte.
Besonders aufschlussreich sind in „Waldheims Walzer“ die massenmedialen
Auftritte des ÖVP-Spitzenpersonals. Es war die Österreichische Volkspartei,
die 1986 den „anständigen Soldaten“ Waldheim als Präsidenten durchsetzte,
die FPÖ war noch marginal. ÖVP-Generalsekretär Michael Graff hetzte gegen
„die ehrlosen Gesellen vom jüdischen Weltkongress“, die „hasserfüllt“
Waldheim und ganz Österreich mit einer Kampagne überzögen. ÖVP-Parteichef
Alois Mock ereiferte sich im Wortlaut des Antisemiten: „Nur die
Österreicher entscheiden, nicht der jüdische Weltkongress“, wer hier
Bundespräsident werde. Kritiker ernteten Hass.
Der damals vollzogene offene Schwenk zum Geschichtsrevisionismus macht die
heutige Tonlage in Österreich verständlicher. Beckermanns Film zeigt, wie
mit der ÖVP die Mitte der Gesellschaft, die Abgrenzung zu NS-Verbrechen und
Antisemitismus aufgaben. Nur so konnte aus einer obskuren Vereinigung von
Altnazis, der FPÖ, eine heute den Diskurs bestimmende Regierungspartei
werden.
18 Feb 2018
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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