# taz.de -- Neuer Dokumentarfilm von Oppenheimer: „Genau das ist Reflexion“ | |
> Regisseur Joshua Oppenheimer hat einen neuen Film gedreht. In „The Look | |
> of Silence“ sind die Angehörigen von Massaker-Opfern im Fokus. | |
Bild: Die Dokumentation um Adi lief im Wettbewerb der 71. Internationalen Filmf… | |
taz: Herr Oppenheimer, während Sie in Ihrem vorangegangenen Film „The Act | |
of Killing“ die Täter in den Mittelpunkt rückten, diejenigen, die 1965 in | |
Indonesien Hunderttausende umbrachten, stellen Sie in Ihrem neuen Film „The | |
Look of Silence“ die Angehörigen der Opfer in den Vordergrund. Haben Sie | |
diese Komplementarität von Anfang an so konzipiert? | |
Joshua Oppenheimer: Meine Beschäftigung mit dem Genozid begann 2003 mit Adi | |
Rukuns Familie. Zuvor hatte ich Plantagenarbeitern geholfen, einen Film zu | |
drehen, der von ihrem Kampf, eine Gewerkschaft zu gründen, handelte. Auf | |
der Plantage gab es ein sehr bekanntes Opfer, so bekannt, dass sein Name, | |
Ramli, ein Synonym des Genozids war, und das war Adis Bruder. Es war also | |
unumgänglich, dass ich Adis und Ramlis Familie vorgestellt wurde. Die | |
wollte, dass ich Adi kennenlernte, denn Adis Eltern nahmen ihn als einen | |
Ersatz für Ramli wahr. Besonders Adis Mutter fühlte so. „Wenn Sie wissen | |
möchten, wie Ramli war, müssen Sie Adi begegnen“, sagte sie. „Adis wegen | |
konnte ich weiterleben.“ | |
Und was passierte, als Sie Adi dann kennenlernten? | |
Er wollte unbedingt wissen, was seiner Familie zugestoßen war. Seine Mutter | |
erzählte zwar wieder und wieder vom Mord an Ramli, aber nichts über die | |
Zusammenhänge. Sie fürchtete, Adi könne in der Schule davon sprechen und | |
dadurch Ärger über die Familie bringen. Er wollte unbedingt wissen, was | |
seine Familie, sein Dorf, das ganze Land so traumatisiert hatte. In das | |
Filmprojekt klinkte er sich ein, um Antworten auf seine eigenen Fragen zu | |
finden. | |
Wie tat er das? | |
Er brachte Überlebende zusammen, damit sie ihre Geschichten erzählten. Aber | |
schon nach drei Wochen drohte ihnen die Armee. Adi und die Überlebenden | |
sagten daraufhin zu mir: „Geben Sie nicht auf. Sie sind hier, Sie haben die | |
Sprache gelernt, filmen Sie doch die Täter.“ Das hat mir zunächst Angst | |
gemacht, aber dann fand ich heraus, dass sie bereitwillig über ihre Taten | |
sprachen. Ich musste einfach nur fragen: „Was haben Sie damals getan, um | |
Geld zu verdienen?“ | |
Das war 2003, nicht wahr? | |
Von 2003 bis 2005. Im Januar 2004 wagte ich zum ersten Mal, zwei Täter, die | |
einander kannten, zusammenzubringen. Ich zögerte, denn es war gefährlich. | |
Einer der beiden hätte sagen können: „Du darfst so nicht reden, du könntest | |
uns damit in Schwierigkeiten bringen.“ Aber ich musste in Erfahrung | |
bringen, ob sie nur für mich prahlten oder ob sie das auch untereinander | |
taten. So kam ich zu der Szene, die beide Filme inspirierte, die, in der | |
die beiden Männer mich zum Flussufer führen und abwechselnd zeigen, wie sie | |
der Armee dabei halfen, 10.500 Menschen zu töten. Sie tun so, als seien sie | |
stolz auf das, was sie taten. Einer von den beiden war derjenige, der Ramli | |
umgebracht hatte. Und als ich begriff, dass sie zu zweit noch schlimmer | |
prahlten, dass das systemisch war, musste ich jede Hoffnung fahren lassen. | |
Nein, die Täter waren keine verrückten Einzelpersonen. Es war ein System | |
der Straffreiheit, es war kollektiver Wahnsinn. Das kann man in Deutschland | |
nachvollziehen, aber nicht außerhalb von Deutschland. | |
Es hat in Deutschland sehr lange gedauert, bis man in der Lage war, solche | |
Dinge zu akzeptieren. | |
Trotzdem lässt sich die Idee, alle Nazis seien Monster und geistesgestört | |
gewesen, nur schwer aufrechterhalten, wenn die Eltern oder Großeltern Nazis | |
waren. An dem Nachmittag am Flussufer hatte ich jedenfalls das scheußliche | |
Gefühl, als wäre ich 40 Jahre nach dem Holocaust nach Deutschland gekommen | |
und die Nazis wären noch an der Macht. Dieses surreale Szenario ist ja | |
alles andere als Science-Fiction, es ist eher die Regel in den Ländern des | |
Südens. An jenem Tag entschloss ich mich, diese Situation – weniger den | |
Genozid in Indonesien, als vielmehr die Straffreiheit – anzugehen. Und ich | |
notierte mir, dass es zwei Filme geben sollte. | |
Es gibt eine starke Verbindung zwischen „The Act of Killing“ und „The Look | |
of Silence“, denn Adi sitzt im zweiten Film immer wieder vor einem | |
Bildschirm und sieht sich die Bilder der Täter aus dem ersten Film an. Wie | |
kam es zu dieser Anordnung? | |
Während ich „The Act of Killing“ drehte, schaute sich Adi alle Bilder an, | |
die ich ihm zu zeigen Zeit fand. Er schaute sich das Material mit genau den | |
Gefühlen an, die man in „The Look of Silence“ sieht, mit der Traurigkeit, | |
der Konzentration, dem Bedürfnis zu verstehen, der Furcht, der Wut und dem | |
Schmerz. Nachdem ich die Hälfte von „The Act of Killing“ gedreht hatte, | |
fand ich heraus, dass er Optiker war und von Tür zu Tür ging. Absichtlich | |
suchte er ältere Patienten auf, um sie zu fragen, welche Erinnerungen sie | |
an 1965 hatten. | |
Wussten Sie da schon, dass er zur Hauptfigur von „The Look of Silence“ | |
werden würde? | |
Nein, aber zu meinem wichtigsten Mitarbeiter. Als ich 2012 zurück nach | |
Indonesien kam – ich hatte „The Act of Killing“ geschnitten, aber noch | |
nicht gezeigt, weil ich dann nicht mehr sicher hätte zurückkehren können –, | |
fragte ich Adi, was wir mit dem zweiten Film machen sollten. Und er sagte: | |
„Joshua, ich muss dem Mann begegnen, der meinen Bruder umgebracht hat. Ich | |
habe sieben Jahre damit zugebracht, dein Footage zu gucken, jetzt muss ich | |
ihn treffen.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall, das ist zu gefährlich.“ Und A… | |
entgegnete: „Lass mich erklären, warum es so wichtig für mich ist.“ Und | |
weinend zeigte er mir die Aufnahmen seines Vaters, die man am Ende von „The | |
Look of Silence“ sieht. | |
Der alte Mann bewegt sich orientierungslos auf dem Boden eines Zimmers und | |
stößt gegen die Wände. | |
Adi sagte: „Das war der erste Tag, an dem mein Vater nicht mehr wusste, wer | |
seine Kinder waren, wer meine Mutter war, er war verwirrt, und als wir ihm | |
zu helfen versuchten, machten wir es nur schlimmer, weil er uns für Fremde | |
hielt. An diesem Tag hatte er vergessen, wer seinen Sohn umgebracht hatte, | |
aber die Angst hatte er nicht vergessen. Und ich wollte nicht, dass meine | |
Kinder diese Angst, dieses Gefängnis aus Angst erben. Wenn ich die Täter | |
aufsuche, ohne Wut oder das Bedürfnis nach Rache, dann werden sie darin | |
eine unbewusst herbeigesehnte Gelegenheit wahrnehmen und sich die Schuld, | |
die der Kern ihrer Prahlerei ist, von der Seele reden.“ | |
Zu dieser Prahlerei habe ich eine Frage. Die Täter schildern bis ins | |
körperliche Detail, wie sie die Verbrechen begangen haben. Warum war Ihnen | |
das so wichtig? Und warum war es für den Film so wichtig? Sie nehmen ja | |
viele von diesen blutigen Schilderungen auf. | |
In Wirklichkeit nehme ich sehr wenig davon auf. Es ist schockierend, sich | |
diese Geschichten anzuhören, und deswegen verwende ich davon so wenig wie | |
möglich. Der blutige Charakter der Erzählungen ist der Nebeneffekt von | |
etwas anderem, was wichtiger ist: Diese fürchterlichen Details werden ja in | |
einem sonnigen, fast ausgelassenen Ton vorgetragen. Und dieser Widerspruch | |
zwischen dem, was sie sagen, und der Art und Weise, wie sie es sagen, | |
zerstört die Fassade, die Lüge der offiziellen Geschichtsschreibung in | |
Indonesien, laut der der Genozid heldenhaft war. Und die Täter müssen über | |
die grausigsten Details sprechen, weil sie, so verstehe ich es, heimgesucht | |
werden von unvorstellbaren Erinnerungen an sumpfigen Schrecken. Sie wollen | |
das mit jemandem teilen, damit sie sich vergewissern, dass sie, auch wenn | |
sie diese Geschichten erzählen, noch als Menschen behandelt werden. | |
Laufen Sie nicht Gefahr, mit Geschichten von Männern, die Menschenblut | |
trinken, einem Publikum, das über Indonesien nicht viel weiß, den Raum zum | |
Reflektieren zu nehmen? | |
Um zu reflektieren, müssen wir oft erst einmal geschockt sein. Meistens tut | |
man ja auch nur so, als reflektiere man, und benutzt dabei eine banale | |
Sprache, voller recycelter Ansichten und schlampiger Denkgewohnheiten. Und | |
eine Sache, auf die ich stolz bin, ist, dass beide Filme – und „The Look of | |
Silence“ besonders – zum Nachdenken anregen. Der Film hätte nicht die | |
Wirkung gehabt, hätten die Zuschauer rund um den Globus in ihm nichts | |
anderes gesehen als ein Fenster auf eine schockierende und brutale | |
Gesellschaft. Er ist eher ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen. Und das | |
genau ist ja Reflexion. | |
Spiegel – das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich habe schon den | |
Eindruck, dass der Film von etwas handelt, das weit weg ist. | |
Wirklich? Oder spielen Sie hier den Advocatus Diaboli? Ich möchte nämlich | |
kein Gespräch führen, das auf vorgetäuschten Ansichten beruht. | |
Ich sehe ein Risiko, das darin liegt, dass Sie den Kontext, die Situation | |
in Nord-Sumatra, weitgehend aussparen, dass man etwa nicht erfährt, ob es | |
Menschenrechtsaktivisten gibt oder Arbeiter, die sich zu organisieren | |
versuchen. | |
Man kann ja immer nur einen Film drehen. Hätte ich einen Film über die | |
komplexe politische Situation in Nord-Sumatra gemacht, der sich | |
möglicherweise auch mit den Konflikten des Kalten Krieges, die zu den | |
Morden führten, beschäftigt hätte, dann hätten Sie aus großer Entfernung | |
eine Reihe von Fakten und Argumenten erhalten. Aber Sie wären nicht in die | |
Welt von Adi und seiner Familie eingetaucht. Dieser Film versucht | |
stattdessen, sehr nah heranzugehen. Adi ist Ihr Bruder, seine Mutter ist | |
Ihre Mutter, seine Kinder sind Ihre Kinder. Indem ich im Kleinen bleibe, | |
lasse ich den Film universell werden. | |
30 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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