# taz.de -- Wettbewerb Berlinale 2015: Orientierungssuche in 140 Minuten | |
> Blöd rumlabern, Mädchen imponieren: Sebastian Schippers mutiger Film | |
> „Victoria“ lebt von der Beobachtung – ohne einen einzigen Schnitt. | |
Bild: „Victoria“ wurde mit einer einzigen fortlaufenden Kamerabewegung gedr… | |
Rein in den Club, raus aus dem Club. Neunziger-Jahre-Berlin-Feeling. | |
Sebastian Schippers „Victoria“ beginnt auf der Tanzfläche. Toller | |
Technobass von DJ Koze, diffuse Lichtreflexe, leichte Erregung, ein | |
Mädchenkopf, angeschnitten, nimmt langsam Form an. | |
Die Kamera sucht nach Orientierung, und damit ist der erzählerische Modus | |
des Films auch schon umrissen. 140 Minuten in Echtzeit, ein Take, keine | |
Establishing Shots – eine Prämisse, die ein Höchstmaß an Bewegung | |
suggeriert, paradoxerweise aber immer dann zu sich findet, wenn sich die | |
Geschichte, die schnell zusammengefasst ist (Junge trifft Mädchen, Junge | |
verliebt sich in Mädchen, Junge und Mädchen machen einen Banküberfall), auf | |
Nebenschauplätze begibt oder einfach mal das Tempo rausnimmt. | |
Nicht bedingungslos dem Paradigma des „Immer weiter“ zu folgen, ist die | |
Freiheit, die sich ein Film nehmen muss, der sich wie „Victoria“ von seinem | |
Konzept abhängig macht. Die erste Stunde funktioniert das ziemlich gut. | |
## Eine verlorene Seele | |
Victoria ist eine verlorene Seele im unerschöpflichen Pool der Euro-Jugend, | |
die es in Scharen nach Berlin treibt: Studium an der Musikhochschule | |
abgebrochen, schlecht bezahlt in einem Café jobben, nachts in Clubs | |
rumhängen. Hier läuft sie morgens um halb fünf Sonne und seinen Freunden | |
Boxer, Blinker und Fuß (echte Berliner Jungs, keine zugezogenen) in die | |
Arme. Großmäulige Scheißelaberer, Typ Berliner Schnauze, eigentlich nervig, | |
doch ihre Posen sind leicht zu durchschauen. | |
Und weil Victoria nichts Besseres zu tun hat, außer am nächsten Morgen | |
wieder für vier Euro die Stunde hinter der Bar zu stehen, schließt sie sich | |
ihnen an. So treibt der Film eine Weile durch die Nacht, produziert | |
erzählerischen Überschuss. | |
## Irgendwann hat man die Kamera vergessen | |
Sonne und die Jungs enden fast in einer Schlägerei, landen über den Dächern | |
von Berlin, mit Blick über ihre Straßen, ihre „mean streets“. Irgendwann | |
hat man die fortlaufende Kamerabewegung vergessen, weil die erhöhte | |
Mobilität nicht zwangsläufig Action produziert. Ein schönes Intermezzo | |
entsteht, wenn Victoria Sonne Liszts Mephisto-Walzer vorspielt. Schipper | |
ordnet die Logik der Erzählung nicht der Logistik einer solchen Produktion | |
unter. Lange Zeit fungiert die Kamera lediglich als Beobachterin. | |
Schon Schippers Regiedebüt, „Absolute Giganten“, handelte von der | |
Gruppendynamik unkontrollierbarer Jungscliquen, ohne dass sein Film gleich | |
auf ein Generationenporträt hinauswollte. In „Victoria“ tritt nun das | |
Mädchen als treibende Kraft hervor, als die Geschichte den Bach | |
runterzugehen droht und der Film sich ins Genrehafte zurückzieht. | |
## Wendepunkt | |
An diesem Wendepunkt hat André Hennicke einen zweifelhaften Auftritt als | |
Gangsterboss in einer Tiefgarage. Das ist dann doch ein etwas anderes | |
Berlin als das von Sonne und seinen Kumpels, man kennt es eher aus | |
Bushido-Videos („Die Bitch bleibt hier!“). | |
Der Film verlagert seinen Ton, auch die Kamera wechselt die Rolle. Statt | |
sich auf das Beobachten zu beschränken, muss ihre Bewegung jetzt pausenlos | |
Intensitäten herstellen. Sie zirkelt das Spannungsfeld zwischen den Figuren | |
ab. Als erzählerisches Surrogat von klassischem Schnitt/Gegenschnitt | |
funktioniert das großenteils sogar, aber es ist doch bezeichnend, dass | |
„Victoria“ gerade in der actionlastigen Hälfte einige Straffungen vertragen | |
hätte. Nach knapp 2 1/2 Stunden merkt man dem Film an, wie kraftraubend die | |
Dreharbeiten für alle Beteiligten gewesen sein müssen. Respekt verdient | |
dieses Experiment allemal. | |
9 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Andreas Busche | |
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