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# taz.de -- Abschluss der Filmfestspiele von Venedig: Ein leise brüllender Lö…
> Richtige Entscheidung in einem mittelmäßigen Wettbewerb: Mit „The Woman
> Who Left“ hat in Venedig der stärkste Film gewonnen.
Bild: Der beste Film, „The Woman Who Left“ des philippinischen Regisseurs L…
Manchmal geht es in der Welt doch mit rechten Dingen zu. Bei den
Filmfestspielen von Venedig zumindest in Teilen: Dort ging der Goldene Löwe
für den besten Film an „The Woman Who Left“ des philippinischen Regisseurs
Lav Diaz. Der dann auch der stärkste Film war. Das Publikum blieb bei der
Pressevorführung zwar übersichtlicher, doch trotz der knapp vierstündigen
Dauer – für Diaz recht kurz, auf der Berlinale war er im Februar mit einem
doppelt so langen Beitrag im Wettbewerb – hielt die Mehrheit der Zuschauer
bis zum Ende durch und spendete kräftigen Applaus.
Auch wenn Lav Diaz in seinen Filmen weniger am Vorantreiben der Handlung
als am Ertasten statischer Tableaus interessiert ist, war seine von der
Tolstoi-Erzählung „Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich“
inspirierte Geschichte eine Erfahrung in verdichteter Poesie, bei der das
eigentliche Geschehen mitunter fast unsichtbar bleibt.
Der Schwarzweißfilm begleitet eine zu Unrecht wegen Mordes verurteilte
Frau, die nach 30 Jahren aus dem Gefängnis kommt und in aller Stille ihre
Rache an dem Verbrecher vorbereitet, dem sie ihre verlorene Lebenszeit
verdankt. Viele der Szenen spielen nachts, oft sieht man nicht einmal die
Gesichter der Darsteller, weil sie im Schatten sitzen, während der
Hintergrund, ein Müllhaufen am Straßenrand etwa, ins Blickfeld rückt.
Das bietet immer wieder unerwartete Seherfahrungen. Man könnte einwenden,
dass eine straffere erzählerische Ökonomie zu stringenteren Resultaten
führen würde, doch als Kritik trägt das nicht sonderlich weit: Mit diesem
Argument ließen sich genauso gut Romane mit einer Länge von mehr als 1.000
Seiten abwehren. Zum Vergleich: Stéphane Brizés französischer Beitrag „Une
vie“, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Guy de Maupassant,
benötigt bloß zwei Stunden, doch selbst in dieser übersichtlichen Zeit
läuft sich die erzählerische Kraft seines formal strengen Regelwerks
schnell tot.
Bei Diaz bleibt man an den Figuren dran, selbst wenn diese scheinbar
ziellos dasitzen. Besonders die von der Schauspielerin und Filmproduzentin
Charo Santos-Concio gegebene Hauptfigur beeindruckt mit gebrochener, dabei
völlig unaufgeregter Entschlossenheit. Was verspielte Momente nicht
ausschließt, darunter ein Duett mit einem Transgender-Mann, in dem die
beiden den Song „Somewhere“ aus dem Musical „West Side Story“, so gut es
geht, intonieren.
## Die Konkurrenz war meist durchwachsen
Dass mit Diaz ein Außenseiter gewonnen hat, wurde dadurch begünstigt, dass
die Konkurrenz meist durchwachsen war, ein Großteil der Filme ließ nur
geringe künstlerische Ambitionen erkennen. Dafür hatten einige der
Regisseure umso mehr Freude an Blut, allen voran Martin Koolhoven mit
„Brimstone“, einer unausgegorenen Abrechnung mit dem Protestantismus im
brutalen Westernformat.
Ähnlich kunstblutversessen die zahnlose Gesellschaftskritik „The Bad Batch“
von Ana Lily Amirpour. Dass Letztere den Spezialpreis der Jury bekam,
bleibt eines der großen Rätsel dieser ansonsten überwiegend
nachvollziehbaren Jury-Entscheidung. Wer weiß, vielleicht sollte einfach
mal die schlechteste Hauptdarstellerin (Suki Waterhouse) gewürdigt werden.
Rätselhaft war auch die Entscheidung, den Silbernen Löwen für die beste
Regie zu gleichen Teilen an den verunglückten mexikanischen Alien-Porno „La
región salvaje“ (The Untamed) von Amat Escalante und Andrej Kontschalowkis
russisch-deutsche Koproduktion „Paradise“ zu vergeben. Escalante wollte in
seinem Film Kritik an Sexualmoral und deren repressiver Wirkung üben, tat
dies aber mit eher stumpfem Skalpell. Kontschalowskis Anliegen war klarer:
die individualethischen Ambivalenzen im NS-Terror an drei Einzelschicksalen
schildern, auch wenn nicht jede seiner Inszenierungsideen aufgehen wollte.
Den Regiepreis hätte man ihm gleichwohl ungeteilt zuerkennen können.
Den Großen Preis der Jury gab es für „Nocturnal Animals“, den zweiten
Spielfilm des hauptberuflichen Modedesigners Tom Ford, eine
Literaturverfilmung, in der die Grenzen von Wahrheit und Fiktion dezent
verwischt werden. Die Protagonistin (Amy Adams) liest darin gebannt einen
Roman ihres ehemaligen Ehemanns, eine blutige Rachefantasie mit ihr selbst
als Mordopfer, von Ford finster bebildert, wobei er sich zynisch den
geschilderten Gewalttätigkeiten hingibt. Immerhin kann man seine Konsequenz
loben.
Schöner anzusehen war diese Finsternis in „El ciudadano ilustre“ von
Mariano Cohn und Gastón Duprat, dem argentinischen Wettbewerbsbeitrag, der
ebenfalls die Trennschärfe von Dichtung und Wahrheit ins Schwimmen bringt.
Im Unterschied zu Ford kommt schwarzer Humor hinzu – und mit Oscar Martínez
ein herausragender Hauptdarsteller, der sich über den Preis für den besten
Schauspieler freuen durfte. Seine Rolle als Literatur-Nobelpreisträger, der
auf Ehrenbesuch in seinen Geburtsort zurückkehrt und dort unangenehme
Begegnungen macht, gehörte zu den überzeugendsten männlichen Darbietungen.
## Beste Schauspielerin: Emma Stone
Gleichfalls berechtigt der Preis für die beste Schauspielerin: Emma Stone
mit ihrem Part als aufstrebende Schauspielerin in Damien Chazelles
Eröffnungsfilm „La La Land“ war eine der stärksten Darstellerinnen. Man
hätte sich jedoch ebenso gut Natalie Portman in der Rolle von Jacqueline
Kennedy in Pablo Larraíns „Jackie“ als Preisträgerin vorstellen können. …
nuanciert wie Portman spielten nur wenige Konkurrentinnen.
Erfreulich zudem der Marcello-Mastroianni-Preis für die beste
Jungdarstellerin, den die deutsche Schauspielerin Paula Beer für ihre
Hauptrolle in François Ozons französisch-deutscher Koproduktion „Frantz“
erhielt. Die 21 Jahre alte Beer, die zuletzt im Winter im deutschen
Psychiatrie-Drama „4 Könige“ zu sehen war, verlieh ihrer Rolle als
trauernde Freundin eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten mit
kontrollierter Dramatik eine stille Würde.
Bei all den Auszeichnungen sollte man nicht die starken Arbeiten jüngerer
Regisseure in den Nebenreihen vergessen. Viele davon setzen sich mit
aktuellen gesellschaftlichen Fragen auseinander. In der Reihe „Settimana
della critica“ etwa liefert der iranische Filmemacher Keywan Karimi mit
„Tabl“ (Drum) ein beklemmendes Bild des heutigen Teherans in
schleichend-trägen Schwarz-Weiß-Settings mit beeindruckenden Kontrasten und
einer bedrohlich tief frequenten Tonspur.
In „The Road to Mandalay“ aus der Reihe „Giornate degli autori“ zeigt d…
taiwanesische Regisseur Midi Z die Schicksale illegaler Arbeitsmigranten
aus Myanmar in Thailand, die sich unter ausbeuterischen Bedingungen
durchschlagen. Midi Z gelingt eine eindringliche Schilderung, gerade weil
er die meiste Zeit bei sachlichen Verrichtungen bleibt – arbeiten,
Lohntüten entgegennehmen, Bestechungsgelder zahlen, Instantnudelsuppe
essen.
Ähnlich eindringlich der in seiner Lakonik unübertroffene Debütfilm „Die
Einsiedler“ von Ronny Trocker in der Reihe „Orizzonti“ über den
Generationenkonflikt auf einem entlegenen Bergbauernhof in Tirol. In
knappsten Dialogen und Gesten wird ein ganzes Gesellschaftspanorama im
Kleinen entfaltet.
11 Sep 2016
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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