# taz.de -- Recht auf freiverantwortliches Sterben: Respekt bis zum Tod | |
> Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt voraus, den Menschen auch und | |
> gerade die Vorstellung vom eigenen Lebensende selbst zuzugestehen. | |
Bild: Suizidhilfe muss nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der Sterbeprozes… | |
Unter den nicht wenigen Menschen – in der Regel schwer und aussichtslos | |
körperlich erkrankt –, die sich an mich wenden, um ihr Leben selbstbestimmt | |
zu beenden, finden sich – in steigender Zahl – auch hochaltrige Menschen | |
mit dem Anliegen eines proaktiven, präventiven Suizids. | |
Was verbirgt sich hinter einem solchen Verlangen? Ohne Zweifel kann der | |
Lebensweg im hohen Alter zunehmend zum Leidensweg werden, der durch | |
vielfältige Krankheiten, Beschwerden und Einbußen gekennzeichnet ist: | |
chronischer Schmerz, Atemnot, Bewegungseinschränkungen, Lähmungen, | |
Inkontinenz, Abnahme des Hör- und Sehvermögens, Gleichgewichtsstörungen, | |
Stürze und Sturzangst. | |
Dazu können nachlassende geistige Fähigkeiten bis hin zur Demenz sowie | |
brüchiger werdende und sich auflösende soziale Beziehungen kommen. Das | |
Vermögen, ein selbstständiges Leben zu führen schwindet, vice versa nehmen | |
Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu und sind letztendlich unausweichlich. Für | |
manch hochaltrigen Menschen stellt sich daher die Frage: Will ich das alles | |
erleben und ertragen? Will ich den mir drohenden, unabänderlichen | |
Autonomieverlust hinnehmen? | |
Die übergroße Mehrheit kranker, alter, gebrechlicher und pflegebedürftiger | |
Menschen bejaht bewusst oder unbewusst diese Frage und überantwortet sich | |
privater oder institutioneller Pflege, palliativmedizinischer und | |
hospizlicher Behandlung, Versorgung und Zuwendung. Dieses etablierte System | |
der Versorgung leistet enorm viel und ist unverzichtbar. Es quantitativ und | |
qualitativ auszuweiten ist dringend geboten, gerade angesichts des | |
demografischen Wandels, weil es – trotz aller bekannten Mängel – vielen | |
Menschen ein ihnen gemäßes und friedliches Lebensende sicherstellen kann. | |
## „Zum Schatten meiner selbst werden“ | |
Und doch [1][muss niemand diese Versorgungsangebote wahrnehmen]. Eine | |
wachsende Zahl alter Menschen erwägt aus unterschiedlichen Gründen – | |
gänzlich unabhängig von der Güte und Qualität ihrer künftigen Versorgung �… | |
über die Umstände, die Zeit und den Ort ihres Todes selbst verfügen zu | |
wollen. | |
Letzteres wünscht eine meiner Patientinnen. Frau S. ist 84 Jahre alt, | |
promovierte Philologin, verwitwet und kinderlos. Sie ist gebrechlich, | |
leidet aber nicht an einer schweren Erkrankung. Allerdings sind | |
Frühsymptome einer dementiellen Entwicklung ärztlicherseits attestiert, die | |
ihr Denk- und Urteilsvermögen (noch) nicht beeinträchtigen. | |
Umfassend legt sie mir dar, dass sie immer ein selbstbestimmtes und | |
glückliches Leben geführt habe, sie jedoch ihrer eigenen Hinfälligkeit, | |
insbesondere dem Vollbild einer Demenz, an der auch ihre Mutter und ihr | |
Bruder litten, unbedingt zuvorkommen wolle: „Zum Schatten meiner selbst zu | |
werden entspricht nicht den Vorstellungen von dem Wert und der Würde meines | |
Lebens. Noch bin ich in der Lage, selbstbestimmt und freiverantwortlich | |
über mein Leben zu entscheiden – doch wie lange noch?“ | |
## Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen | |
Keineswegs sollten sich Ärzte als Dienstleister empfinden, die | |
[2][Suizidwilligen nur Medikamente zur Selbsttötung bereitstellen]. Als | |
Arzt muss man sich um Empathie bemühen und dem ganz persönlichen ärztlichen | |
Gewissen und ethischen Koordinatensystem verpflichtet sein. Entscheidend | |
ist, gemeinsam mit den Patienten einen ergebnisoffenen Dialog zu suchen. | |
Suizidhilfe muss plausibel und nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der | |
Sterbeprozess, wie im Fall von Frau S., nicht absehbar ist. Es geht um eine | |
unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht und reifen muss, aufseiten | |
der Patienten wie des Arztes. Zwischen Frau S. und mir ist dieser Prozess | |
noch nicht abgeschlossen. | |
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020, das Suizid und | |
Suizidhilfe zu Grundrechten erklärte, ebnet auch Frau S. den Weg, mit | |
ärztlicher Hilfe ihr Leben autonom zu beenden. Die Entscheidung, so das | |
Verfassungsgericht, „muss freiverantwortlich, von festem Willen getragen | |
und ohne äußeren Druck zustande gekommen sein und sich zudem als | |
zeitkonstant erweisen“. | |
## Es darf keine Hierarchie geben | |
Autonomie bezeichnet das Vermögen, auf Grundlage eigener Werte und | |
Überzeugungen authentisch, also nach kritischer Selbstreflexion, zu | |
entscheiden. Dies im Falle eines Suizidverlangens zu prüfen obliegt dem | |
zuständigen Arzt, im Zweifel einem Arzt für Psychiatrie. Es geht dabei | |
allein um die mentale Verfasstheit des Suizidanten, seine | |
Einwilligungsfähigkeit also, nicht um die Inhalte seiner Entscheidung. Die | |
muss er nicht rechtfertigen. | |
Selbstbestimmungsfähige Bürger:innen haben nun die Wahl: den natürlichen | |
Tod, fürsorglich begleitet, abzuwarten oder aber seinem Eintreten mittels | |
Selbstverfügung zuvorzukommen. Eine Hierarchie darf es nach dem | |
Verfassungsgerichtsurteil nicht geben; beide Wege sind gleichermaßen | |
respektabel und staatlicherseits als Grundrechte effektiv zu ermöglichen. | |
Selbstverfügung über das eigene Leben mag für manche einen Geruch von | |
Selbstherrlichkeit haben. Indes ist Selbstverfügung ein hohes | |
verfassungsrechtlich geschütztes Gut, das es aus meiner Sicht nicht nur zu | |
ertragen, sondern, wenn Leiden übermächtig zu werden droht und der | |
individuelle Lebenssinn verloren gegangen ist, auch mitzutragen gilt: Der | |
Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt Respekt vor dem Mitmenschen voraus, | |
auch und gerade in der Vorstellung seines eigenen Lebensendes. Mein | |
Plädoyer: [3][Diesen Respekt sollte unsere Gesellschaft ihren Mitgliedern | |
nicht versagen]. | |
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von | |
Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. | |
Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. | |
Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 | |
23 May 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Michael de Ridder | |
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ziehen. |