# taz.de -- DGHS-Präsident über Sterbehilfe: „Lebenssattheit akzeptieren“ | |
> Der Bundestag debattiert am Freitag über die Sterbehilfe. Robert | |
> Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben | |
> (DGHS), berichtet aus der Praxis. | |
Bild: Im vergengenen Jahr wurden in Deutschland fast 350 Fälle von Suizidhilfe… | |
taz: Herr Professor Roßbruch, am Freitag debattiert der Bundestag über drei | |
Gesetzentwürfe zu einer Neuregelung des [1][assistierten Suizids]. Ihre | |
Gesellschaft, die DGHS, vermittelt Jurist:innen und Ärzt:innen für | |
diese Begleitung. Was kritisieren Sie an den Gesetzentwürfen? | |
Robert Roßbruch: Alle drei Gesetzentwürfe sehen eine Beratungspflicht vor. | |
Das lehnen wir ab. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom | |
Februar 2020 ausdrücklich jedem Einzelnen das Recht auf einen | |
freiverantwortlichen und [2][selbstbestimmten Freitod] und auch das Recht, | |
dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen, zuerkannt. Daher brauchen wir keine | |
Beratungspflicht für die Betroffenen, sondern nur eine Aufklärungspflicht | |
durch den freitodbegleitenden Arzt. | |
Die Befürworter:innen der [3][Gesetzentwürfe] argumentieren, es | |
brauche eine Art Schutzkonzept des Staates, um Menschen davor zu bewahren, | |
sich aus einer „vorübergehenden Lebenskrise“ oder aus „psychosozialer | |
Einflussnahme heraus“ das Leben zu nehmen. So heißt es etwa im Entwurf der | |
Gruppe um den Abgeordneten [4][Lars Castellucci (SPD)]. Ist dieses Anliegen | |
nicht berechtigt? | |
Wir als DGHS haben schon ein eigenes Schutzkonzept. Dazu gehört unter | |
anderem unser Beratungstelefon und vor allem unser Vieraugenprinzip. Das | |
beinhaltet, dass nach unserer Vermittlung von Beginn der Beratung an über | |
die Informationsgespräche bis hin zur ärztlichen Freitodbegleitung immer | |
ein Jurist und ein Arzt beteiligt sind. Natürlich gibt es zum Beispiel auch | |
Anrufer, die danach fragen, ob wir ihnen kurzfristig ein Medikament für den | |
Freitod verschaffen könnten. So etwas machen wir natürlich nicht. | |
Was setzen Sie als DGHS voraus für einen ärztlich begleiteten Suizid? | |
Bei uns müssen die Antragssteller in der Regel mindestens ein halbes Jahr | |
Mitglied in der DGHS sein. Sie schicken alle Arzt- und Krankenhausberichte | |
an unsere Geschäftsstelle. Die Unterlagen werden dort geprüft. Gibt es | |
Anhaltspunkte für eine schwere psychische Erkrankung, wird der Antrag | |
abgelehnt. | |
Ansonsten gehen die Unterlagen an Ärzte und Juristen, die mit uns | |
zusammenarbeiten. Diese machen dann getrennt voneinander jeweils einen | |
Hausbesuch und führen dann auch später gemeinsam den begleiteten Freitod | |
durch. Der Jurist ist Zeuge, der Arzt stellt das Medikament. Es ist ein | |
Narkosemittel, das über eine Infusion, die der Patient selbst in Gang | |
setzen muss, verabreicht wird. Insgesamt kostet diese Freitodbegleitung | |
circa 4.000 Euro, inklusive der Honorare, Fahrtkosten und so weiter. | |
In der Statistik der DGHS und der Sterbehilfeorganisationen Dignitas und | |
Sterbehilfe Deutschland gab es insgesamt fast 350 Fälle von Suizidhilfe im | |
vergangenen Jahr. Die meisten Fälle sind Menschen mit Krebs- und | |
neurologischen Erkrankungen. Bei Ihnen liegt in jedem sechsten Fall als | |
Motiv „Lebenssattheit“ vor, wie die DGHS das nennt. Diese Leute haben gar | |
keine schwere Erkrankung. Ist die Suizidhilfe dann nicht ethisch heikel? | |
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss keine schwere Krankheit | |
vorliegen, das Motiv darf keine Rolle spielen, nur die Autonomie der | |
Entscheidung muss gegeben sein. Bei diesen Fällen von Lebenssattheit | |
handelt es sich oft um langjährige Mitglieder der DGHS, Menschen, die Ende | |
80, Anfang 90 sind, die vielleicht schon seit Jahren das Haus nicht mehr | |
verlassen können, die kaum noch etwas sehen, die immobil sind, die isoliert | |
und/oder inkontinent sind. | |
Sie sagen beispielsweise: ‚Ich habe ein tolles Leben gehabt. Aber jetzt | |
möchte ich nicht mehr. Ich möchte auch nicht in ein Heim.‘ Aus den | |
Gesprächsprotokollen, die unsere Ärzte und Juristen immer anfertigen, | |
erkennt man, dass diese Menschen voll urteils- und entscheidungsfähig sind, | |
da gibt es auch keine Anhaltspunkte für eine Depression oder Ähnliches. | |
Diese Menschen haben sich auch mit den medizinisch-pflegerischen | |
Alternativen auseinandergesetzt. Sie denken und handeln völlig rational, | |
sodass es sich verbietet, dieses Verhalten zu psychiatrisieren. | |
Befürworter:innen der Gesetzentwürfe warnen vor solchen Fällen und | |
sagen, wenn sich Leute etwa aus Angst vor dem Pflegeheim das Leben nehmen, | |
könnte das eine Art Modell werden, damit der Staat Geld spart und sich in | |
den Pflegeheimen nichts ändern muss. | |
Ich bin Gesundheits- und Pflegerechtler und bin auch sehr dafür, dass sich | |
in den Heimen die Zustände verbessern. Aber die Situation ist so, wie sie | |
ist. Aus meiner Sicht muss man die Entscheidung der Menschen zwingend | |
respektieren, die sagen: ‚Ich will nicht mehr und ich will auch nicht in | |
ein Heim.‘ Im Übrigen sieht man etwa in der Schweiz, wo die Suizidhilfe | |
schon lange erlaubt ist, dass es da keinen Dammbruch gab und die Zahl der | |
Suizide auch bei Pflegebedürftigen nicht steil angestiegen ist. Die meisten | |
Menschen hängen am Leben. | |
Befürworter:innen der Gesetzentwürfe äußern die Sorge, Angehörige | |
könnten Druck ausüben auf Gebrechliche, sich das Leben zu nehmen, weil sie | |
Geld und Mühen sparen wollen. | |
Das deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen. Die Angehörigen wollen eher | |
nicht, dass sich ein Suizidwilliger das Leben nimmt. Insbesondere die | |
Ehepartner und Kinder klammern, die wollen ihren Ehemann oder Vater nicht | |
gehen lassen. | |
In acht Fällen im vergangenen Jahr hat die DGHS doppelte Suizidhilfe bei | |
Ehepaaren geleistet, auch wenn einer der Partner:innen gar nicht schwer | |
krank war. Ist das nicht problematisch? | |
Die Ehepartner, die eine Doppelbegleitung wünschen, sind meist langjährige | |
Mitglieder der DGHS, die über den gemeinsamen Freitod schon lange | |
miteinander gesprochen haben. Ein Beispiel ist etwa ein Ehepaar, er 89, sie | |
86, seit 45 Jahren verheiratet. Sie haben dieselbe Position zum Leben und | |
zum Sterben. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, jetzt geht es bei uns | |
bergab, es wird peu à peu immer weniger. Der eine kann den andern nicht | |
mehr versorgen. Der ambulante Pflegedienst, die Hauswirtschaftshilfe | |
reichen nicht mehr aus. Für beide ist ein Heim keine Alternative zur | |
Doppelbegleitung. Die sagen: ‚Jetzt ist es so weit‘, und wollen gemeinsam | |
gehen. | |
Das erinnert ein wenig an die Witwenselbstverbrennungen früher in Indien … | |
Die mit uns kooperierenden Ärzte und Juristen führen bei den | |
Doppelbegleitungen immer getrennte Gespräche mit den Ehepartnern, um | |
auszuschließen, dass auf einen der Partner Druck ausgeübt wird. Wir hatten | |
tatsächlich einen Fall, da hatten der Jurist und der Arzt bei den | |
Vorgesprächen ein ungutes Gefühl, es wurde ein Psychiater hinzugezogen. | |
Dieser stellte fest, dass die Frau ihr Leben lang von ihrem Mann | |
fremdbestimmt worden war und dieser auch Druck ausgeübt hatte, sodass sie | |
mitgegangen wäre. Das Antragsverfahren wurde dann abgebrochen. | |
Fragen eigentlich auch Demenzkranke bei Ihnen an und was machen Sie dann? | |
Im Frühstadium der Demenz ist die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit in | |
aller Regel noch gegeben, sodass wir in diesen Fällen die Freitodhilfe | |
vermitteln. In einem mittleren Stadium der Demenz wird ein entsprechender | |
Facharzt hinzugezogen, der durch anerkannte Tests die Urteils- und | |
Entscheidungsfähigkeit einschätzt. | |
Was wäre denn Ihre Alternative für die Gesetzentwürfe? | |
Die beiden liberalen Gesetzentwürfe der Gruppen um die Abgeordneten Katrin | |
Helling-Plahr (FDP) und [5][Renate Künast (Grüne)] werden von uns | |
grundsätzlich begrüßt. Es bedarf jedoch wie gesagt keiner Verpflichtung für | |
die Suizidwilligen, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Befürworter | |
verweisen oft auf die Beratungspflicht beim Schwangerschaftsabbruch. | |
Bei Schwangeren geht es aber noch um ein zweites, anderes Leben, außerdem | |
sind das doch viel höhere Zahlen als wenige Hundert Suizidwillige, die eine | |
professionelle Freitodbegleitung in Anspruch nehmen wollen. Wir vertreten | |
die Ansicht, dass die Suizidhelfer eine Aufklärungspflicht haben, etwa auch | |
über die Möglichkeit einer palliativen Versorgung. | |
23 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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