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# taz.de -- Chemikalien in Belgien: Nachbarschaftlich gegen Giftstoffe
> Jahrelang hat der Chemiekonzern 3M in Belgien die Anwohner:innen
> gefährdet. Eine Familie klagte und bekam recht.
Bild: Ein:e Anwohner:in in Zwijndrecht bei der bisher größten europäischen B…
Amsterdam taz | Der Chemiekonzern 3M muss einer Familie, die in der Nähe
seiner belgischen Fabrik in Zwijndrecht wohnt, 2.000 Euro Schadenersatz
zahlen. Dieses Urteil, letzte Woche von einem Antwerpener Zivilgericht
ausgesprochen, sorgt in Belgien derzeit für Aufregung. Der Betrag ist auf
den ersten Blick gering. Aber es ist der jüngste Akt eines jahrelangen
Umweltskandals. Im Mittelpunkt: die großflächige Verschmutzung mit
[1][PFAS-Chemikalien], was sowohl auf den Konzern als auch die Politik der
Region Flandern ein schlechtes Licht wirft.
Die betroffene Familie wohnt etwa einen Kilometer von der Fabrik entfernt.
Die Blutwerte aller vier Mitglieder weisen erheblich erhöhte
PFAS-Konzentrationen auf. Die Stoffgruppe der „per- und polyfluorierten
Alkylverbindungen“ ist schwer bis gar nicht abbaubar und wird daher als
„Ewigkeitschemikalien“ bezeichnet.
Kläger Kurt Verstraete, dessen Werte 100-mal über dem zulässigen
Grenzwert liegen, weiß noch nicht, was das für seine Gesundheit bedeutet.
„Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer zu sagen, was die Folgen sind. Die
Schäden werden vielleicht erst später deutlich“, zitierte der belgische
TV-Sender VRT Verstraete.
Bemerkenswert ist, dass die Klage wegen Nachbarschaftsbelästigung bei einem
Zivilgericht eingereicht wurde. Der Anwalt Geert Lenssens sagte belgischen
Medien, für Tausende Anwohner:innen sei nun der Weg für eine Klage
frei. „Es liegt im Interesse der Leute, denn Verjährung droht. Die Zeit, in
der große Fabriken taten, was sie wollten, ist vorbei.“ Eine
strafrechtliche Klage der Kommune Zwijndrecht wurde 2021 eingereicht, über
ihren weiteren Verlauf gibt es noch keine Informationen.
## Ans Licht kam der Skandal im Sommer 2021
Ans Licht kam der Skandal im Sommer 2021: Bei Grabungsarbeiten wurde
entdeckt, dass der Boden hohe Konzentrationen von Perfluoroctansulfonsäure
(PFOS, eine der PFAS-Gruppen) enthielt. Sowohl der Bauherr des Projekts als
auch die flämische Regierung waren seit 2017 über die Verschmutzung im
Bilde, unternahmen jedoch nichts.
Vergleichende Messungen zu Jahresbeginn haben ergeben, dass die
PFAS-Konzentration nirgendwo in Europa höher ist als in der belgischen
Region Flandern. Aus internen Dokumenten ist bekannt, dass 3M bereits vor
60 Jahren wusste, dass die Chemikalien im menschlichen Körper nicht
abgebaut werden.
PFAS, die über die Luft oder Abwasser in der Natur landen, können etwa das
Immunsystem angreifen, Entwicklung ungeborener Kinder beeinflussen,
Leberschäden und Krebs verursachen. Menschen können sie durch Nahrung oder
Trinkwasser aufnehmen. 3M hat belgischen Medien zufolge jahrelang Abwasser
mit hohen PFAS-Konzentrationen in der Schelde, dem nahe gelegenen Fluss,
entsorgt.
## Groß abgelegte Blutuntersuchung
In Zwijndrecht begann am Montag eine groß angelegte Blutuntersuchung.
Aufgerufen sind alle Einwohner:innen, die im Umkreis von fünf Kilometern
der Fabrik wohnen. 9.000 der betroffenen 75.000 waren am ersten Tag
eingeladen. Die bisher größte PFAS-Untersuchung Europas sei „ein sehr
wichtiger Schritt, um an wissenschaftliche Daten zu kommen“, sagte Steven
Vervaet, der grüne Umweltbeigeordnete des Stadtrats, der taz. Die jüngste
Entscheidung des Zivilgerichts gebe zusätzlich Schwung. „Die Leute haben
nun einen persönlichen Grund, ihre Blutwerte zu kennen.“
Auch Vervaet und seine Familie werden sich untersuchen lassen. Die Stimmung
in der Umgebung reiche von gelassen bis sehr besorgt. „Aber auf die ein
oder andere Art sind alle damit beschäftigt.“ 3M betont, man habe die
PFOS-haltigen Produktionsketten bereits 2002 gestoppt. Aus einer aktuellen
Untersuchung unter 330 Jugendlichen im 5-Kilometer-Umkreis der Fabrik geht
dennoch hervor, dass drei Viertel von ihnen erhöhte PFOS-Werte haben.
Unterdessen wird das Beispiel der Familie Verstraete zum Präzedenzfall. Das
Bürger:innenkollektiv „Darkwater 3M“ machte Anfang der Woche bekannt,
eine zivilgerichtliche Massenklage gegen den Konzern vorzubereiten. 400
Familien hätten sich bereits angeschlossen. Aufgerufen sind alle
Anwohner:innen in einem Radius von 15 Kilometern, was unter anderem die
Hafen-Metropole Antwerpen mit einbezieht.
24 May 2023
## LINKS
[1] /Gesundheitspolitiker-ueber-Chemikalien/!5931655
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Chemie
Medikamente
Skandal
Belgien
Gewässerschutz
IG
Verfassungsgericht
Schwerpunkt Coronavirus
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