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# taz.de -- Der Corona-Städtevergleich III: Kleine Schritte Richtung Normalit�…
> Wie sieht der Alltag der europäischen Großstädter in Corona-Zeiten aus?
> Die taz wirft erneut einen Blick nach Rom, Paris, Warschau und Berlin.
Bild: Einsame Tour: Ein Radler vor dem Collosseum in Rom
## Rom
„Ich darf Oma sehen? Na, klasse!“ Die Stimme der 18-jährigen Tochter
überschlägt sich nicht gerade vor Begeisterung. Nichts gegen die Oma, aber
ihre Enkelin hat sich die von Ministerpräsident Giuseppe Conte für den 4.
Mai angekündigte „Phase 2“ dann doch etwas anders vorgestellt.
War in den Vortagen nicht die Rede gewesen davon, dass man wenigstens
engste Freunde besuchen könnte? Pustekuchen. Auch die meisten Geschäfte
bleiben erst einmal noch bis zum 18. Mai zu, ebenso die Bars und
Restaurants oder Friseursalons, die frühestens am 1. Juni ihre Rollläden
wieder hochziehen dürfen.
„Von wegen Phase 2“, ätzt die Tochter, „jetzt gibt es gerade mal Phase 1
mit Oma.“ Verwandtenbesuche nämlich werden wieder gestattet, natürlich
unter Wahrung des Abstands und mit Schutzmaske auf der Nase, auch in der
Wohnung. Verboten bleibt es meiner Tochter dagegen, ihre beste Freundin zu
treffen, die sie seit zwei Monaten nicht gesehen hat. Ansonsten gibt es ein
paar weitere kleine Lockerungen des Lockdowns.
Die Stadtparks machen wieder auf, sie sollen streng überwacht werden, von
Sicherheitspersonal, aber auch mit Drohnen, damit sich bloß keine
Ansammlungen bilden. Und zum Joggen darf man sich auch wieder [1][mehr als
200 Meter] von der eigenen Wohnung entfernen.
Gelassen ertragen die meisten Nachbar*innen aus dem großen Wohnblock den
Lockdown, wenigstens ästhetisch haben sie sich in ihm eingerichtet. Rom:
Das war bislang beim Dresscode der komplette Gegenentwurf zum Ruhrgebiet.
Keiner zog hier in schlecht sitzenden Billig-Freizeitklamotten zum
Supermarkt. Jetzt aber sieht man sie auf dem Weg zum nächsten
Lebensmittelladen über den Hof gehen, Männer wie Frauen in schlabbernden
grauen Jogginghosen, die sie früher höchstens zum Hausputz angezogen
hätten.
Die von ihnen, die ab Montag wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren
können oder müssen, werden sich dann aber wohl wieder wie aus dem Ei
gepellt auf den Weg machen. Auf einen Weg, der wenigstens für die
Nutzer*innen des ÖPNV beschwerlich werden könnte. Die Passagierzahlen in
Bussen und U-Bahnen werden streng kontingentiert, damit der Mindestabstand
von einem Meter gewahrt bleibt – und die bange Frage vieler ist deshalb, ob
sie überhaupt an ihren Arbeitsplätzen ankommen, wenn ein Bus nach dem
anderen ohne Stopp an ihren Haltestellen vorbeirauscht, weil er schon zu
voll ist. Michael Braun, Rom
## Paris
Für viele in Paris es ein Countdown. Zehn Tage, noch neun, acht … Am 11.
Mai winkt der Tag der Befreiung. Das hat ihnen der französische
Premierminister nach bald sieben Wochen Covid-Hausarrest versprochen. Zwar
hat er nur von einer schrittweisen Lockerung der gegenwärtigen
Ausgangsbeschränkungen gesprochen, aber nach so langer Zeit auf engem Raum
fühlt sich die Hauptstadtbevölkerung so sehr an der kurzen Leine gehalten,
dass sich die Erinnerung an die „Libération“, das Ende der Besetzung im
August 1944, und an die historischen Worte von General de Gaulle
aufdrängen: „Paris ist erniedrigt, gebrochen, gemartert, aber schließlich
befreit worden!“
Vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, ist das Pathos einer solche
Erwartung übertrieben. Nicht nur scheinen die Details und die Organisation
der Lockerung des jetzigen Lockdowns recht unklar, auch haben die Behörden
bereits gewarnt, dass es nur eine Befreiung auf Bewährung sein wird, deren
von der Respektierung der Hygieneregeln durch die Bürger und dem von Region
zu Region unterschiedlichen Verlauf der Pandemie abhängen wird.
Gemäß ihrer Statistik der neuen Covid-Erkrankungen und der Auslastung der
Intensivstationen werden die rund hundert Departements auf der Landkarte
Frankreichs grün oder rot eingefärbt, wobei die grünen Regionen bereits für
das Lockdown-Ende bereit wären, die roten dagegen mehr oder weniger nicht.
Heute ist Paris darauf rot, und das dämpft den Enthusiasmus. Die Stadt an
der Seine, die nur ein Schatten ihrer selbst ist, gehört kaum zu den Ersten
in Frankreich, die wirklich aufatmen kann. Trotzdem lassen sich die
HauptstadtbewohnerInnen nicht demoralisieren. Sie klammern sich an jedes
Zeichen der Hoffnung auf eine Normalisierung.
Der Blumenhändler am Boulevard des Invalides, dessen Geschäfte eigentlich
noch mindestens bis zum 11. Mai geschlossen bleiben müssten, hat wie andere
„Fleuristes“ die traditionellen Maiglöckchen als Glücksbringer zum 1. Mai
direkt an der Ladentüre verkauft, obschon er sie nur auf Vorbestellung und
Vorkasse liefern dürfte.
Zweifellos haben die Polizisten, die auf den Straßen die Passierscheine der
Passanten kontrollieren, ein Auge oder zwei zugedrückt. Auch die Beamten
möchten an diesem Feiertag, der sich sonst nicht vom tristen Covid-Alltag
unterscheidet, nicht die zaghaft aufkeimende Vorfreude verderben. Rudolf
Balmer, Paris
Berlin
Es ist schon seltsam mit den Menschen in Berlin: Eigentlich gelten sie als
ein Menschentyp, der wenig Wert darauf legt, alles vorgeschrieben zu
bekommen. Sperrstunde? Pff, wir saufen, so lange wir wollen.
Polizeidurchsagen? Da kommt doch sicher noch eine, bevor es ernst wird.
Aber ausgerechnet bei den sichtbarsten Veränderungen des Alltags in der
letzten Zeit wünschte mensch sich dann doch eine klare Ansage: Bis Dienstag
war ein „Mund-Nase-Schutz“ in Geschäften von Senatsseiten lediglich
„deutlich angeraten“. Und natürlich hat kaum jemand auf diesen Rat gehört.
Tags darauf war er Pflicht – und diese wurde sehr umfassend befolgt.
Ähnlich war es eine Woche zuvor mit der Mundschutzpflicht in den
öffentlichen Verkehrsmitteln gewesen.
Das ist schon erstaunlich, wenn mensch das Wesen der BerlinerInnen kennt.
Bleibt die Frage, woran diese überraschende Angepasstheit liegt. War
sowieso allen klar (außer dem Senat), dass die umgangssprachlich auch
Maskenpflicht genannte Vorschrift kommen würde, vielleicht sogar als
sinnvoll akzeptiert ist und mensch hat sich dann stillschweigend den
Realitäten ergeben? Oder ist der soziale Druck in den Läden so groß
geworden, dass sich niemand traut, ohne Tuch vor dem Mund einzukaufen?
Wie dem auch sei: Generell hat das Einkaufen an sich an Reiz verloren. Die
Schlangen vor den Läden wirken schon abschreckend. Und in den noch aus
Vor-Coronazeiten viel zu voll gestellten Lebensmittelläden macht es wenig
Spaß, Gurken, Tomaten und Melonen auszusuchen, dabei auf Abstand zu achten
und nebenbei noch den MitarbeiterInnen des Ladens mit ihrem
Klarsichtgesichtsschutz nicht in die Quere zu kommen. Einkaufen fühlt sich
an wie BVG-fahren im Winter: alle sind schlecht gelaunt und in jeder Ecke
lauert ein Virus. Eigentlich müsste es eine Gefahrenzulage geben, nicht nur
für die VerkäuferInnen, sondern auch für KundInnen.
Und so stellt sich die Frage nach der Taktik: Nur noch ein Mal die Woche
einkaufen, dann aber richtig viel und bis der Wagen voll ist? Oder spontan
rein, wenn gerade keine Schlange vorm Geschäft ist, dann aber auch schnell
wieder raus, um die epidemiologische Belastung gering zu halten?
Sicher ist nur: Einkäufe, die nicht wirklich notwendig sind, werden
aufgeschoben. Was ganz im Sinne von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne)
ist. Sie hatte bei der Ankündigung, dass die Geschäfte wieder aufmachen,
vor Shoppingtouren ganz aus Spaß gewarnt. Da muss sie sich derzeit keine
Sorgen machen: Spaß lässt sich der Berliner nun wirklich nicht verordnen
von oben. Bert Schulz, Berlin
## Warschau
In Polen gibt es derzeit eigentlich nur noch ein Thema: die
Präsidentschaftswahlen in gut einer Woche. Noch weiß niemand, ob sie –
trotz Corona – stattfinden, und wenn ja, wie. Als traditionelle Wahl im
Wahllokal oder – zum ersten Mal in Polen überhaupt – als allgemeine
Briefwahl? Sicher ist nur: der Souverän will diese Wahlen zum jetzigen
Zeitpunkt nicht. Umfragen zufolge wollen nur knapp 35 Prozent aller
polnischen WählerInnen an den Mai-Wahlen teilnehmen. Sie gelten als zu
gefährlich.
Polens Verfassung sieht die Verschiebung von Wahlen im Fall einer
Naturkatastrophe, eines Ausnahme- oder Kriegszustandes vor. Viele hoffen,
dass Polens Regierung sich doch noch für den Schutz von Leben und
Gesundheit Zehntausender PolInnen entscheidet und den
Naturkatastrophen-Zustand kurz vor den Wahlen ausruft.
Andererseits ist allen klar, dass der derzeitige Präsident Andrzej Duda nie
wieder so gute Wiederwahlchancen haben wird wie jetzt. Denn einen Wahlkampf
im eigentlichen Sinne – mit Wahlkampfveranstaltungen im ganzen Land,
Wahlprogrammen und Fernsehdebatten der wichtigsten Kandidaten – hat es
nicht gegeben. Inzwischen rufen viele Oppositionelle zum Boykott der Wahlen
auf.
Einen gewissen Trost angesichts der staatlichen Misere bieten erste
Freiheiten, die zu Beginn der Covid-19-Pandemie massiv eingeschränkt wurden
und nun wieder wahrgenommen werden können. Spaziergänger, Jogger und
Radfahrer dürfen zurück in Parks und Wälder, müssen allerdings bei
Polizeikontrollen das Codewort „psychische Notwendigkeit“ angeben, sonst
droht eine saftige Geldstrafe.
Seit Montag dürfen Berufspendler an der deutsch-polnischen Grenze wieder zu
ihren Familien in Polen. Die 14-tägige Zwangsquarantäne entfällt – mit
Ausnahme für ÄrztInnen, Krankenhauspflegepersonal, LaborantInnen und
KrankenpflegerInnen, die laut polnischer Regierung eine höhere
Infektionswahrscheinlichkeit haben. Ab Montag werden auch endlich wieder
die großen Einkaufsmalls – in Polen „Galerien“ genannt – geöffnet sei…
Ebenso Hotels und Pensionen, Bibliotheken, Archive und Museen.
Geschlossen bleiben bis auf Weiteres Schulen und Universitäten – so wie
Fitnessstudios, Schwimmbäder, Restaurants, Kinos, Theater und Friseurläden.
Doch viele Eltern von Kleinkindern können aufatmen: Horte und Kindergärten
dürfen ab nächstem Mittwoch wieder ihre Tore öffnen, zwar zunächst nur für
Gruppen von bis zu zwölf Kindern, doch immerhin – das ist ein Anfang.
Gabriele Lesser, Warschau
4 May 2020
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