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# taz.de -- Die EU und ihre Antwort auf Corona: Die Magie europäischer Politik
> Die Pandemie offenbart so manche unbequeme Wahrheit über die Europäische
> Union – so wie das Fehlen einer gemeinsamen Stimme.
Bild: Viele Köpfe oder das Entstehen eines echten europäischen politischen Ra…
Wofür ist Europa gut – wenn nicht dafür, die BürgerInnen vor einer
bedeutenden grenzüberschreitenden Bedrohung wie einer Pandemie zu schützen?
Inmitten des [1][Covid-19-Ausbruchs] scheint die einstmals etwa von
Frankreichs Präsident Macron vorgebrachte Vision von der Europäischen Union
als einer zusammenhängenden politischen Gemeinschaft, die ihre 450
Millionen europäischen BürgerInnen schützt und verteidigt, ferner denn je.
Was aber bedeutet dies für die EU? Ist das europäische Projekt an sich
mangelhaft?
Nein, die Schuld für [2][Europas sub-optimale, unkoordinierte Antwort auf
die Covid-19-Krise] liegt woanders: Das große Hindernis für die Fähigkeit
der EU, Probleme zu lösen, sind unsere nationalen politischen Systeme – und
die zugehörigen politischen Klassen. Die traditionelle Parteienpolitik
täuscht weiterhin vor, von Migrationspolitik bis zum Klimawandel alles auf
nationalem statt europäischem Level steuern zu können. Doch wie die
europäische Antwort auf Covid-19 gezeigt hat, ist das pure Fiktion.
Manche Länder wie Deutschland mögen insgesamt zufrieden damit sein, wie der
Notfall innenpolitisch gehandhabt wurde. Doch weder Deutsche noch andere
EU-BürgerInnen können ignorieren, dass sie zu einer größeren
Schicksalsgemeinschaft gehören. Denn was die einzelnen Mitgliedsstaaten tun
oder unterlassen, um Covid-19 einzudämmen, beeinflusst die Wirksamkeit der
Strategien der anderen Mitglieder.
## Viele Missverständnisse, Skepsis und Anfechtungen
Doch obwohl auf dem Kontinent eine beispiellose wechselseitige Abhängigkeit
erreicht ist, bleiben die Staats- und Regierungschefs nur ihren BürgerInnen
verantwortlich – nicht aber den EU-BürgerInnen jenseits ihrer Grenzen. Das
offenbart eine unbequeme Wahrheit: Das politische System Europas hat die
Auswirkungen der europäischen Integration auf den Alltag der Menschen nie
verinnerlicht. Im täglichen Leben der EU-BürgerInnen dagegen sind diese
längst angekommen – ob es um Lebensmittelsicherheit geht, um Datenschutz
oder Luftqualität.
Die Diskrepanz zwischen dieser europäischen Realität und der nationalen
Politik in der EU sind das Kernstück vieler Missverständnisse, der Skepsis
und der Anfechtungen des europäischen Projekts. Das zu akzeptieren,
bedeutet nicht nur, den antieuropäischen Backlash anzuheizen, der sich etwa
in Italien und Spanien bildet. Es bedeutet auch, Länder wie Ungarn und
Polen zu befähigen, demokratische Normen wie eine unabhängige Justiz und
freie Presse anzufechten.
Auch nach 70 gemeinsamen Jahren gibt es noch keinen verständlichen,
gesamteuropäischen Prozess, der die gemeinsame Antwort auf gemeinsame
Herausforderungen bestimmt. Stattdessen sind es oft die innenpolitischen
Querelen in den Mitgliedsstaaten – so willkürlich, so zufallsgetrieben
diese auch sein mögen.
Das kann so nicht bleiben. Die EU kann nicht weiterhin die Verantwortung
für das Tun oder Unterlassen schultern, über das sie keine oder kaum
Kontrolle hat – wobei zugleich von ihr erwartet wird, den Schutz für eine
breite Öffentlichkeit zu gewährleisten. Stattdessen müssen die
Mitgliedsstaaten klarstellen, wo ihre Verantwortung beginnt und die der
Union endet – und vice versa.
## Eine der wesentlichen Lektionen des letzten Jahrzehnts
Um die EU zugänglicher für die Anliegen der BürgerInnen zu gestalten, und
das auch ohne eine Reform ihrer Gründungsverträge, braucht Europa seinen
eigenen politischen Raum. Ihn müssen die europäischen – und nicht die
nationalen – PolitikerInnen besiedeln, die von einer neuen Generation
transnationaler AktivistInnen zur Verantwortung gezogen würden.
Es mag einigen unrealistisch erscheinen, eine Union von demografisch und
wirtschaftlich heterogenen Staaten in eine voll ausgebildete
parlamentarische Demokratie umzuwandeln. Doch das ist eine der wesentlichen
Lektionen des letzten Jahrzehnts: Wer Entscheidungen mit
grenzüberschreitender Bedeutung trifft, muss auch aus einem
grenzüberschreitenden Wahlprozess hervorgehen.
Die Schaffung eines einzigen, EU-weiten grenzüberschreitenden Wahlkreises
für die Wahlen zum Europaparlament könnte zur Entstehung eines echten
europäischen Parteiensystems führen. Plötzlich würde eine Deutsche, die für
die CDU stimmt, erkennen, dass ihre Stimme auch an die Mitglieder der
Europäischen Politischen Partei der CDU geht – wie etwa im Fall von Viktor
Orbáns Partei Fidesz. So ein Wahlsystem würde die europäischen politischen
Parteien zudem dazu bringen, auf dem gesamten EU-Gebiet ein- und dasselbe
Wahlprogramm vorzustellen und eine einzige Kandidatenliste – im Gegensatz
zu derzeit 27.
Gäbe es wahrhaft transnationale Euro-Parteien, wäre es für WählerInnen auch
einfacher zu sehen, wo im politischen Spektrum der EU sich ihre jeweiligen
nationalen PolitikerInnen verorten, und mit wem sie zusammengehen – wie im
Fall von CDU und Fidesz. Nur so würden die Auswirkungen ihrer
WählerInnenstimme auf europäischer Ebene deutlich – und die politischen
Akteure endlich für ihr Handeln verantwortlich, sowohl zu Hause im eigenen
Land als auch in der EU.
Im Gegenzug wäre der Weg frei für das langsame Entstehen einer
EU-Öffentlichkeit. Das Hervortreten dieses neuen politischen Raums würde
außerdem neue paneuropäische Formen des Aktivismus nähren, die auf
transnationaler Solidarität gründen.
## Die Trennung in lokal, national oder Europa wäre verwischt
Was bisher wie ein regionales Problem wirkte, wie der Zugang zum
Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen oder öffentliche Verkehrsmittel, wäre
europäisiert – weil deutlich wird, dass es überall auf dem Kontinent
auftritt. Was bisher eher als abstraktes europäisches Problem galt, sei es
Netzneutralität oder gemeinsame Datennutzung, würde auf lokaler Ebene
greifbar. Die künstliche Trennung in lokal, national oder Europa – sie wäre
auf einmal verwischt.
Um das zu erreichen, könnten BürgeraktivistInnen auf das gesamte
Beteiligungsspektrum der EU-setzen. Denn viele Möglichkeiten sind trotz
ihres demokratischen Potenzials weitgehend unbekannt.
Das Entstehen eines echten europäischen politischen Raums könnte sicher
nicht auf magische Weise alle Herausforderungen der Zeit beheben. Doch
würde es das europäische Projekt erreichbar und handlungsfähig machen für
die Anliegen der BürgerInnen, indem es verständlicher und zugänglicher
würde.
Ja, Europa braucht dringend eine eigene Politik.
2 May 2020
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[2] /Europaeische-Union-in-Corona-Zeiten/!5673429
## AUTOREN
Alberto Alemanno
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