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# taz.de -- Wirtschaftshistoriker über EU-Krise: „An einem Kipppunkt“
> Steht jetzt der Euro auf dem Spiel? Dass die Groko in Berlin Coronabonds
> ablehnt, vertiefe die Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa, sagt Adam
> Tooze.
Bild: Die Fratze Europa? In der Coronakrise zeigt sich, wie gut es um die Werte…
taz: Herr Tooze, Deutschland will in der Eurozone keine gemeinsamen
Anleihen, sogenannte Coronabonds, um Südeuropa aus der Krise zu helfen. Ist
das klug?
Adam Tooze: Kurzfristig ist das für Scholz und Merkel vorteilhaft. Sie
vermeiden es, die AfD zu stärken, die ja aus Protest gegen die Eurorettung
entstanden ist. Langfristig ist es unklug.
Warum?
Deutschland profitiert enorm von der Eurozone – die durch dieses Nein
geschwächt wird. Der Frust in Italien und Spanien ist enorm. Ich habe mit
einem Minister in Madrid gesprochen, der keineswegs euroskeptisch ist, aber
sehr wütend. Die Hoffnung in Berlin, dass es ohne Bonds geht, ist naiv.
Deutschland hat, gegen die Niederlande, immerhin durchgesetzt, dass die
ESM-Kredite an keine Reformzwänge geknüpft sind. Ist der Eurorettungsschirm
ein brauchbares Instrument?
Nein. Die Italiener können ESM-Mittel nicht akzeptieren, abgesehen davon,
dass die Summen ohnehin zu gering sind, um die italienische Wirtschaft
wieder anzukurbeln. Es ist den Deutschen nicht klar, wie viel Schaden in
der Eurokrise angerichtet worden ist. Von 2008 bis 2018 hat sich die
wirtschaftliche Kluft zwischen Deutschland und Italien enorm vergrößert: um
8.000 Euro pro Jahr und Kopf beim Bruttosozialprodukt. Das ist ein Desaster
für die italienische Gesellschaft.
Umfragen zeigen, dass die Hälfte der Italiener mittlerweile für einen
EU-Austritt ist. Die politische Elite in Berlin nimmt das nicht ernst.
Warum nicht?
Ich kenne smarte deutsche Kollegen, die im Finanzministerium akribische
Kleinarbeit geleistet haben, um ESM-Projekte verschiedenster Art zu
entwerfen. Das ist gut gemeint – aber politisch nicht machbar. Der ESM ist
in Italien ein Symbol für die Arroganz der Deutschen und anderer
Nordländer. Das sehen nicht nur die Populisten dort so, die mit
Anti-ESM-Ressentiments arbeiten, sondern auch proeuropäische Politiker. Man
begreift in Berlin nicht, welche Narben die Eurokrise in Südeuropa
hinterlassen hat.
In Krisen treten Machtverhältnisse klarer zutage. Was sieht man da? Ist
Deutschland in der EU die dominierende oder hegemoniale Macht?
In der Eurokrise nach 2010 war der Hegemonialbegriff in einigen Momenten
hilfreich. Es gab Situationen, in denen in der EU Führung und Ideen gefragt
waren, die nur aus Berlin kommen konnten. Jetzt ist die Lage anders. Berlin
muss nicht führen, es muss sich nur kooperativ verhalten und signalisieren
„Ja, die Bonds sind eine gute Idee. Machen wir. Wir steuern unser
Kreditrating bei, das kostet praktisch nichts.“ Alles, was von Berlin
erwartet wird, ist ein Ja zu den Coronabonds. Die EU braucht Deutschland
momentan nicht als Hegemon. Deutschland verhindert, mehr nicht. Es ist ein
Vetoplayer.
Warum tritt Berlin so vehement auf die Bremse?
Die politische Elite in Deutschland fürchtet, dass mit den Coronabonds eine
grundsätzliche Entscheidung für die Vergemeinschaftung von Schulden in der
Eurozone fällt. Die Angst ist, dass Frankreich und Italien die Situation
ausnutzen, um die Eurobonds durchzusetzen, die sie schon seit Langem
wollen. Berlin glaubt, dass in der Ausnahmesituation ein Präzedenzfall
entsteht. Außerdem neigt Deutschland dazu, seinen Beitrag zu überschätzen.
Es geht darum, im Verhältnis zur Bevölkerung und zur Wirtschaftsleistung
Haftung zu übernehmen. Das wären etwa 26 Prozent der Bonds, nicht mehr.
Ist der Streit um die Coronabonds nur der normale EU-Zoff um Geld? Oder
geht es um eine Existenzfrage für den Euro?
Es spricht viel dafür, dass wir an einem Kipppunkt stehen, an dem sich lang
aufgestaute Spannungen entladen, die nicht mehr mit den üblichen
Instrumenten der Kompromissbildung bearbeitet werden können. Das
Vorpreschen der neun EU-Staaten, die Coronabonds gefordert haben, war ein
lautes Signal. Ich vermute, dass man im Finanzministerium in Berlin
schockiert war über diesen demonstrativ öffentlichen Schulterschluss von
Paris, Rom, Madrid und anderen. Und Macron lässt nicht locker. Er hat der
Financial Times ein fulminantes Interview gegeben.
Woher rührt die Phobie der Deutschen vor Schulden? Hat das historische
Wurzeln?
Das wird oft behauptet. Aber schauen Sie sich die Geschichte an. Wie die
anderen Länder in Westeuropa hat die Bundesrepublik ab den 1970er Jahren
Schulden gemacht, um den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Bei den
Staatsschulden lag Deutschland unter Kohl im EU-Mittelfeld. Der Sonderweg
der Deutschen in der Fiskalpolitik ist neu. Er beginnt mit Rot-Grün und der
ersten GroKo. Hartz IV und die Sparpolitik markieren einen Bruch, eine
Politik der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, die zu
Schuldenbremse und schwarzer Null führt.
Geschichte spielt bei dem deutschen Nein zu Bonds keine Rolle?
Doch, aber anders, nicht im Sinne eines fortwirkenden historischen Traumas.
Es gibt von Kohl zu Merkel einen Bruch im Geschichtsverständnis. Für Kohl
war die Integration Deutschlands in Europa fundamental – und die EU eine
Frage von Krieg und Frieden. Und Kohl hat das Bismarck’sche Konzept
vertreten: Es gibt Momente in der Geschichte, in denen große Männer handeln
müssen, egal was es kostet. Die neue Politikergeneration der 90er hatte die
Nase davon voll. An dessen Stelle ist in Berlin die Idee getreten, dass die
Globalisierung der große Schulmeister ist, der die Staaten zwingt, ihre
Hausaufgaben zu machen. Fortschritt wird als Wettbewerbsfähigkeit
definiert. Denn nur durch flexible Anpassung an die Globalisierung
entstehen Autonomie und Handlungsfähigkeit für Staaten. Das ist die
Lektion, die Berlin Südeuropa erteilen will.
Also bräuchten wir mehr Kohl, weniger Merkel?
Das ist Spekulation. Aber Kohls Geschichtsverständnis erlaubte es ihm, über
Kleinigkeiten wie die Haushaltsdisziplin hinwegzusehen.
Die EZB hat vor Wochen angekündigt, für 750 Milliarden Euro Staatsanleihen
zu kaufen, um die Finanzmärkte zu beruhigen und die Zinsen für Italien und
Spanien auf ein tragbares Niveau zu drücken. Ist das ein Ersatz für
Coronabonds?
Faktisch ja. Die EZB rettet momentan den Euro, aber sie gerät in ein
Problem. Sie muss ihr Mandat extrem weit auslegen, um überhaupt
Staatsanleihen aufkaufen zu können. Die EZB sagt, sie würde damit ein
funktionsfähiges Geldsystem aufrechterhalten, so wie es ihr Job ist. Doch
Konservative werfen der EZB vor, mit fadenscheinigen rechtlichen
Begründungen eine Risikoumverteilung zu betreiben, die Coronabonds ähnelt.
Diese Kritik ist nicht unplausibel.
Konservative EZB-Kritiker wollen damit vor das Bundesverfassungsgericht
ziehen. Was passiert dann?
Das Bundesverfassungsgericht wird vor das Dilemma gestellt, ob es die
Anleihenkäufe der EZB für unrechtmäßig erklären kann. Damit würde es aber
die gesamte EZB-Politik verwerfen, was nicht vorstellbar ist, weil dann die
Eurozone kollabiert. Also wird das Bundesverfassungsgericht die
fadenscheinigen Gründe der EZB akzeptieren und sich lächerlich machen.
Aber: Diese Situation existiert nur, weil die EZB tun muss, was die Politik
sich nicht traut – nämlich den Euro zu stabilisieren. Das ist ein
Teufelskreis. Die Bundesregierung kann sich das Nein zu Coronabonds
leisten, weil seit der EZB-Ankündigung die Zinsen in Italiens nicht mehr in
die Höhe schießen. Weil die Zinsunterschiede wegen der EZB-Intervention
nicht mehr so dramatisch sind, braucht man ja keine gemeinsamen Bonds. So
erneuert sich der Status quo immer wieder.
Nicht wirklich schön, aber es funktioniert irgendwie. Ist das nicht typisch
EU?
Dieser Status quo ist aber nicht stabil, er ist brüchig. Ihm fehlt die
demokratische Grundlage. Er delegitimiert alle Akteure. Auch Merkel und
Scholz.
Inwiefern?
Wenn Merkel und Scholz systematisch über die Bedingungen ihrer Politik
nachdenken würden, würden sie erkennen: Die EZB schafft auf illegitimer
Basis erst die Stabilität, die dann die kleinkarierte Politik in Berlin und
Den Haag möglich macht. Faktisch handelt die EZB wie eine normale
Zentralbank, aber ohne dafür eine solide rechtliche Grundlage zu haben.
Ist dieses Durchwurschteln nicht der normale Modus der EU?
Als Brite habe ich nichts gegen Pragmatismus. Durchmogeln ist nicht das
Ende der Welt. Aber man muss sehen, dass diese Methode Grenzen hat und
jetzt in der Krise exorbitante politische Kosten produziert: Die
Legitimität der EZB, der EU, der Eurozone und der deutschen Politik und der
Verfassungsorgane wird beschädigt.
Am 23. April findet die nächste Videokonferenz der Regierungschefs statt.
Was ist von Merkel und Scholz da zu erwarten?
Es ist noch nicht absehbar, ob Berlin etwas konstruktiv tun will und zum
Beispiel einem Wiederaufbaufonds zustimmt. Ich bezweifle das eher.
Frankreich ist derzeit als strategischer Akteur beweglicher und wichtiger –
nicht nur in der EU, auch bei der Frage der globalen Entschuldung armer
Länder. Interessant ist die Frage, ob Paris so weit geht, mit den acht
Partnerländern eigene Coronabonds aufzulegen – ohne Berlin, aber mithilfe
der EZB.
In Deutschland plädieren auch neoliberale Ökonomen für Coronabonds. Das
wäre in der Finanzkrise undenkbar gewesen. Ist das wichtig?
Ja, das ist sehr wichtig. Die neoliberalen Ökonomen haben ein Tabu
gebrochen und Gesprächsbarrieren weggeräumt. Genauso bemerkenswert ist
übrigens, dass auch Herr Weidmann von der Bundesbank für Coronabonds ist.
Sie retten damit ein Stück weit das Gesicht der deutschen Politik.
Italienische und spanische Politiker, die für die EU werben, können ihren
Wählern zumindest sagen: Es gibt auch vernünftige Deutsche. Deutschland ist
kein völlig hoffnungsloser Fall.
21 Apr 2020
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Ulrike Herrmann
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