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# taz.de -- Wirtschaftshistoriker über Pandemien: „Frankenstein ist lernfäh…
> Die Antikrisenpolitik während der Coronapandemie sei ein notdürftiger
> Flickenteppich, sagt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. Sie erinnere
> an eine bekannte Figur.
Bild: Die Mittelklasse verkriecht sich und lässt sich von der Unterschicht bed…
taz: Herr Tooze, China hat die Pandemie schnell unter Kontrolle gebracht,
der Westen nicht. Meistern autoritäre Regime Krisen besser als
schwergängige Demokratien?
[1][Adam Tooze:] Diese Frage hat einen für meinen Geschmack zu scharfen
Kontrast. Südkorea war mit Tests auch schnell erfolgreich. Selbst wenn wir
feststellen, dass autoritäre Regime manchmal besser funktionieren – hilft
uns das weiter? Nein. China zu imitieren ist ja keine Option. Interessanter
ist es, den Westen an seinen eigenen Ansprüchen zu messen. Anfang 2020
exotisiert der Westen das Virus in China, als hätten wir damit nichts zu
tun. Wuhan ist eine Zehnmillionenstadt, in der Millionen so wohlhabend
sind, dass sie Anfang 2020 über Neujahr in alle Himmelrichtungen verreisen.
Als Peking sich von Wuhan abschottet, müssten auch in London, New York und
Los Angeles die Alarmglocken angehen. Das passierte nicht. Oder erst, als
es zu spät war. Der Westen hat diese global vernetzte, wirtschaftlich
integrierte Welt geschaffen. Aber er versteht sie nicht.
Die Staaten haben danach global 18 Billionen Dollar ausgegeben, um den
wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Lockdown zu verhindern. Das sind 18
mal 1.000 Milliarden Dollar, eine schwer vorstellbare Summe …
Weil das globale Bruttosozialprodukt so gigantisch ist, müssen auch die
Interventionen der Notenbanken riesig sein. Zwei Drittel der 18 Billionen
haben die USA ausgegeben.
Warum?
Aus zwei Gründen. Das US-Sozialsystem ist eine Ruine. Es gibt in weiten
Teilen der USA, vor allem im Süden, keine Arbeitslosenversicherung. Das
wurzelt im Rassismus. Wohlfahrtstaat ist für viele Weiße ein Synonym für:
Wir geben Geld aus für Schwarze, die nicht arbeiten. Anders als in
Deutschland müssen in den USA in der Krise also Ad-hoc-Programme aus dem
Boden gestampft werden. Der zweite Grund ist: Das globale Geldsystem
basiert noch immer auf dem Dollar. Im März droht der Markt für
US-Staatsanleihen zu kollabieren. Das ist für das globale Finanzsystem weit
gefährlicher als die Krise 2008. Die US-Notenbank löst diese Treasury-Krise
mit massiven Käufen von US-Staatsanleihen. Wir haben es also mit einer
Gleichzeitigkeit von Fiskal- und Geldpolitik zu tun.
Markieren diese massiven Interventionen also das Ende des Neoliberalismus?
Oder den Sieg des Keynesianismus?
Das sieht oberflächlich so aus. Die Koppelung von Geld- und Fiskalpolitik
ist ja die Utopie des linken Keynesanismus. Darin drückt sich die
Souveränität des demokratischen Staates aus, der alles, was er tun kann,
sich auch leisten kann, wie Keynes es gesagt hat. Aber ich warne vor zu
viel Optimismus. Es wurde zwar extrem viel staatliches Geld in die Märkte
gepumpt – aber aus äußerst konservativen Gründen. Es ging nur darum, die
Vorkrisensituation wieder herzustellen, Märkte zu stabilisieren und
private Anleger zu schützen. Und nur wegen dieser Legitimation fallen die
Programme so groß aus. Es ist absurd. Billionen auszugeben, um Märkte zu
retten, gilt als legitime Begründung. Aber kaum jemand wagt zu sagen: Wir
brauchen die Billionen für das Gemeinwohl.
Wir sind also, wie nach der Finanzkrise 2008, in einem Zwischenzustand?
Die Antikrisenpolitik ist aus sehr verschiedenen Materialen zusammengebaut.
Sie ist postklassisch. Sie hat keine richtige Gestalt. Sie ist wie eine Art
Frankenstein, mit einer schiefen Naht im Gesicht und einem Bolzen, die die
Figur irgendwie notdürftig zusammenhält.
Stimmt das auch für die EU? Da gibt es doch, verglichen mit der Eurokrise,
in der Deutschland nur auf der Bremse stand, mit dem
750-Milliarden-Euro-Programm einen realen Fortschritt.
Ja, absolut. Aber es gab ja einen Vorlauf. Im Frühjahr 2020 passierte
nichts. Die Coronabonds wurden von Berlin abgelehnt. Das war ein Schock für
Frankreich, Italien und Spanien. Die EZB war äußerst zögerlich. Macrons
Warnung vor dem Ende der EU war ernst gemeint. Das 750-Milliarden-Programm,
an dem Olaf Scholz seinen Anteil hat, ist schönste europäischen
Ingenieurskunst auf politischer Ebene. Es ist über Brüssel finanziert und
nach vorn gerichtet – auf Digitalisierung und Klimaschutz – und auch noch
mit der Rechtstaatsklausel versehen. Großartig.
Aber?
Es ist zu klein und kommt zu spät. Wesentlicher für die EU waren die
Aufhebung der Schuldengrenze für die nationalen Haushalte und die EZB-Käufe
von Staatsanleihen, etwa von Italien. Die haben dafür gesorgt, dass der
Zinsunterschied zwischen Berlin und Rom nicht explodiert ist und es wieder
eine Eurokrise gibt. Da sind wir wieder bei der Frankenstein-Metapher.
Aber die Reaktion der EU war doch anders als 2009. Damals hat Merkel
bekundet, solange sie lebt, würde es keine gemeinsamen Schulden in der EU
geben. Die gibt es mit dem 750-Milliarden-Programm. Das war ein
Lernprozess.
Ja, Frankenstein ist lernfähig. Aber er bleibt trotzdem Frankenstein. Wir
haben keine verlässliche Struktur der Finanz- und Geldpolitik in der EU.
Das 750-Milliarden-Programm ist wunderschön, aber es ist funktional mit dem
Torso der EU-Geld und Finanzpolitik verbunden. Und auch die Revision von
Lernprozessen ist möglich. Politiker wie Friedrich Merz oder Christian
Lindner versprechen den Wählern, zur alten Maastricht-Welt zurückzukehren,
mit höchstens 60 Prozent Staatsverschuldung und 3 Prozent Neuverschuldung.
Das ist schlichte Realitätsverweigerung. Mehr als die Hälfte der EU-Bürger
lebt in Staaten mit mehr als 100 Prozent Staatsverschuldung. Christian
Lindner als Finanzminister in Berlin ist eine besorgniserregende
Vorstellung.
Die Pandemie hat die soziale Kluft vertieft. Wie sehr hat sie das getan?
Ein britischer Journalist hat das auf den Punkt gebracht und geschrieben:
Die Mittelklasse hat sich zu Hause verkrochen und sich von der Unterschicht
bedienen lassen. In New York war die Todesrate bei den Köchen in den
Take-away-Restaurants besonders hoch, weil die auf engem Raum arbeiten
mussten. Die Pandemie hat wie eine Rakete, die sich ihr Ziel selbst sucht,
bestehende Ungleichheiten vergrößert. Das betrifft Jobs, Klasse und
Geschlechter. Das kann man auch an der Produktivität von männlichen und
weiblichen ProfessorInnen in der Pandemie ablesen. Die von Professoren ist
gestiegen, die von Professorinnen gesunken. Global gesehen ist die Kluft
zwischen OECD-Staaten und Ländern mit Favelas und informellen Sektoren in
Asien, Afrika und Lateinamerika extrem gewachsen.
Es gab 2020 deswegen eine Initiative zur Entschuldung der ärmsten Länder,
die besonders hart von der Pandemie getroffen wurden. War das ausreichend?
Nein, es war kläglich. Von Weltbank und IWF gab es minimale Subventionen.
Die Entschuldung der G 20 war noch nicht mal ein richtiges Moratorium, nur
ein Aufschub. Was die armen Länder jetzt als Zinsen nicht bezahlen, müssen
sie in Zukunft durch höhere Zinsen erbringen. Das ist ein schlechter Witz.
Es gibt ein Detail, das zeigt, wie bizarr die Lage ist. Die Weltbank hat
sich an dem bescheidenen Schuldenaufschub der G 20 nicht beteiligt. Der
Grund: Sie fürchtete ihren Triple-A-Status zu verlieren. Dabei sind die
wichtigen Staaten der Welt die Aktionäre der Weltbank. Das zeigt, wie sehr
Marktmechanismen öffentliche Strukturen unterworfen haben.
27 Oct 2021
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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