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# taz.de -- Chinas Weg zur Marktwirtschaft: Das geplante Wunder
> Isabella Weber schildert, wie China in den 80ern mit Märkten
> experimentierte. Es vermied den Irrweg, der Russland in den Abgrund
> führte.
Bild: Übergang zur Marktwirtschaft: Eine Frage der Balance
Eines der erstaunlichsten wirtschaftspolitischen Phänomene der letzten
Jahrzehnte ist der Rollentausch zwischen Russland und China. Im 20.
Jahrhundert war Russland im Vergleich mit dem armen Nachbarn fast
wohlhabend. Seit 1990 hat sich dieses Verhältnis radikal umgedreht. Das
durchschnittliche Realeinkommen in Putins Reich ist seit 1991 gesunken, in
China hat es sich vervierfacht. Die russische Wirtschaft ist abhängig von
Rohstoffexporten, die chinesische konkurriert auf Augenhöhe mit
OECD-Ländern.
Dieser Prozess ist verblüffend – denn die Ausgangsbedingung für Moskau und
Peking in den späten 80er Jahren war ähnlich. Hier wie dort versuchten
verzweifelte kommunistische Führungen, unproduktive Staatsökonomien in
Marktwirtschaften zu verwandeln. In China war das Ergebnis glanzvoll, wenn
auch mit extremer Ungleichheit bezahlt, in Russland [1][ein Fiasko mit
Hyperinflation und massenhafter Armut]. Warum?
Diese Frage leuchtet im Hintergrund der Studie von Isabella Weber, die
Miterfinderin der Gaspreisbremse und ein rising star in der globalen
Ökonomenszene ist. Auf 500 Seiten analysiert sie haarklein, wie China in
den 80er Jahren versuchte, Märkte zu etablieren und zu bändigen.
Dabei entschied China keineswegs autark, sondern holte sich international
Rat. In Peking gaben sich in den 80ern Ökonomen die Klinke in die Hand.
Milton Friedman, Gott der Neoliberalen, plädierte für so viel Markt so
schnell wie möglich. Auch ernüchterte osteuropäische Reformer wie Ota Šik,
der das Wirtschaftsprogramm des Prager Frühlings 1968 skizziert hatte,
[2][warben für eine schnelle Schocktherapie]. Sie fürchteten, dass, wie in
Ungarn und Jugoslawien, ein bisschen Markt verpuffen würde, ohne die
Produktivität entscheidend zu steigern. Keynesianer wie James Tobin warnten
vor zu viel Tempo.
In China rangen zwei Fraktionen um den richtigen Weg zu mehr Wettbewerb.
Eine setzte auf vorsichtige Schritte und staatliche Preise, vor allem um
eine Hyperinflation zu vermeiden. Die andere hoffte euphorisch auf den big
bang, die völlige Freigabe der Preise.
Der Dissens zwischen Zögerern und Neoliberalen war nicht die Frage, wohin,
sondern wie schnell. Die aber war entscheidend. Und der Ausgang dieses
Kampfes war ungewiss. Zweimal, 1986 und 1988, schien die
Schocktherapie-Fraktion die Oberhand zu gewinnen. Als 1989 die Inflation
auf 28 Prozent stieg, bremste Peking die Preisliberalisierung wieder ab.
Letztlich setzten sich die zögernden Pragmatiker durch. China behielt lange
ein zweigliedriges Preissystem. Der Staat bestimmte die Preise
grundlegender Güter. Die Überschussproduktion und Luxusgüter wurden nach
und nach frei gehandelt. Man folgte dem chinesischen Sprichwort „Nach den
Steinen tastend den Fluss überqueren“, eine Methode, die an Karl Poppers
Stückwerk-Sozialtechnik erinnert, laut der nicht revidierbare
Entscheidungen zu vermeiden sind.
## Ordoliberale gegen die Schocktherapie
Unterstützung bekamen die Zögerer in Peking von unerwarteter Seite: von
deutschen Ordoliberalen. Während Milton Friedman der chinesischen Führung
das deutsche Wirtschaftswunder und Ludwig Erhards Preisfreigabe 1948 als
leuchtendes Vorbild empfahl, rieten Hans-Karl Schneider und Herbert
Giersch, beide stramme Ordoliberale, ab. Eine abrupte Preisfreigabe wie bei
Erhard funktioniere nur mit einem ausgebildeten Rechtssystem und
Unternehmen, die Märkte verstehen. Solange beides in China fehle, würde
eine Schocktherapie schaden.
Wenn man mit der chinesischen Innenpolitik der 80er Jahre nicht vertraut
ist, liest sich manches etwas strapaziös. Doch gerade die präzise
Nachzeichnung der Kämpfe, Ausweich- und Suchbewegungen der beiden
Fraktionen, die wiederum mit dem ZK kurzgeschlossen waren, macht den Wert
dieses Buches aus. Nicht genug zu rühmen ist, dass die Autorin in China mit
Veteranen der Reformstreits lange Interviews führte.
So endet diese akribische Darlegung mit einer Art Rehabilitierung. Man
erfährt, dass die Anhänger der neoliberalen Schocktherapie nach dem
Tian’anmen-Massaker 1989 in China teils steile Karrieren machten. Die
Pragmatiker, in westlicher Lesart eher KP-nah, landeten hingegen im Off
oder im Exil und wurden von der historischen Forschung eher wenig beachtet.
## Die neoliberalen Sirenengesänge
[3][Zhao Ziyang, Ministerpräsident in Peking von 1980 bis 1987,] der
heimliche Held in „Das Gespenst der Inflation“, vermittelte zwischen den
beiden Fraktionen. Er versuchte die Niederschlagung der Studentenbewegung
1989 zu verhindern – und bezahlte dies mit Hausarrest bis zu seinem Tod
2005.
In Russland gab Jelzin 1992 alle Preise frei und öffnete den Weg in die
Hölle. Dass der Markt wie ein Deus ex Machina alles schaffen würde, was er
brauchte, war eine neoliberale Illusion, die träge mafiotische
Oligarchenherrschaft das Resultat. Die Idee, dass Preise der Kern des
marktwirtschaftlichen Heils sind, der Rest Beiwerk, hat eine fast religiöse
Anmutung. In Moskau hörte man auf die neoliberalen Sirenengesänge, in
Peking nicht. „Die Schocktherapie ist kein Rezept für den Aufbau, sondern
für Zerstörung“, so Weber.
„Das Gespenst der Inflation“ ist mehr als gut recherchierte
Wirtschaftsgeschichte. Es zeigt beispielhaft, dass die Integration in die
globale Marktwirtschaft nur gelingt, wenn man sich dem Markt nicht
unterwirft. Und dass wie ein Zauberlehrling scheitert, wer eine
unsteuerbare Marktdynamik entfesselt. Gerade das Zögern der Pragmatiker hat
die Grundlagen für das chinesische Wirtschaftswunder geschaffen, das viele
im Westen lange als Sieg des Marktes bestaunten und das sie nun zu fürchten
beginnen.
30 Apr 2023
## LINKS
[1] https://www.spiegel.de/politik/raubtierkapitalismus-auf-russisch-a-e813885e…
[2] https://www.zeit.de/1981/47/auf-der-suche-nach-dem-dritten-weg/komplettansi…
[3] https://www.spiegel.de/politik/ausland/zum-tod-zhao-ziyangs-der-weggeschlos…
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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