# taz.de -- Zonen für paranationalen Kapitalismus: Fragwürdige Fluchtfantasien | |
> Freiheit ohne Staaten: Der kanadische Historiker Quinn Slobodian geht im | |
> Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ den marktradikalen Utopien auf den | |
> Grund. | |
Bild: Den Preis für die Träume der Marktradikalen zahlen vor allem Gastarbeit… | |
Vielleicht haben Sie schon mal von heutigen libertären Fantasien gehört, | |
auf der Hochsee oder in den Tiefen des Weltalls neue Mikrostaaten zu | |
gründen, in denen das „freie Spiel“ der Markt- und Kapitalkräfte nicht | |
durch die „harte Hand“ eines demokratischen Wahlvolks an die Kette gelegt | |
wird? Überraschen wird Sie womöglich trotzdem, dass es diese Fantasien – | |
und die dazugehörigen Real-Utopien – im modernen Kapitalismus immer schon | |
gegeben hat. | |
Der kanadische Historiker Quinn Slobodian hat ihnen unter dem Titel | |
„Kapitalismus ohne Demokratie“ ein hervorragendes Buch gewidmet. Im | |
Vorgänger „Globalisten“ von 2019 untersuchte Slobodian marktradikale | |
Strategien beim Aufbau transnationaler Institutionen, nun geht es um | |
paranationale Nationen oder „Zonen“. | |
Als Muster seiner Art galt hier lange [1][Hongkong. Aus seinem | |
Zwitterstatus als letzte britische Kolonie und (künftig) teilsouveräne | |
„Sonderverwaltungszone“] wurde die winzige Halbinsel dank geringer Steuern, | |
Zölle und Regulierungen sowie fehlender demokratischer Kontrolle im Laufe | |
der Nachkriegsjahrzehnte zu einer der bedeutendsten Industrie- und | |
Finanzstätten der Welt. | |
## Libertäre Vordenker | |
Doch die Begeisterung libertärer Vordenker wie Milton Friedman für Hongkong | |
als „der letzte wirklich kapitalistische Ort auf der Erde“ ließ sich etwas | |
schmälern durch den Verweis auf stetig steigende Staatsausgaben für | |
Sozialwohnungen oder medizinische Versorgung einer riesigen Zahl an | |
Gastarbeitern. Hier zeigt sich ein von Slobodian herausgearbeiteter | |
Widerspruch der neoliberalen Ideologie: dass ihre Antistaatsrhetorik | |
gewöhnlich übersieht – oder bewusst verschweigt –, dass marktradikale | |
Visionen zu ihrer Durchsetzung in der Regel sehr wohl staatlicher | |
Interventionen bedürfen. | |
Besonders deutlich wird das an anderen libertären Vorzeige-Stadtstaaten wie | |
Singapur oder Dubai, deren Rolle als außerwestliche Enklaven des | |
Kapitalismus durchaus einem „großen staatlichen Plan“ entsprang, den/die | |
man auch als „liberalen Autoritarismus“ beschreiben kann, oder als | |
„wirtschaftliche Freiheit ohne politische Freiheit“. | |
Während auch [2][China schon vor der Rückgabe Hongkongs 1997 zahlreiche | |
Kopien der kapitalistischen Insel im Kommunismus als | |
„Sonderwirtschaftszonen“] aufzubauen versuchte, wurden auch im Westen | |
„mobile“ „Miniatur-Hongkongs“ geschaffen – inzwischen gibt es weltwei… | |
als 5.400 solcher „Zonen“. | |
Eine der bekanntesten ist das wie eine Sonderwirtschaftszone innerhalb | |
einer europäischen Hauptstadt funktionierende Finanzmekka der City of | |
London, einem „Vatikan des Kapitalismus“, sowie ihre Geschwister in den | |
Londoner Docklands. Vermeintlich altehrwürdig wie die City ist auch das | |
Fürstentum Liechtenstein, das als größter „Safe“ der Welt einer der | |
Erfinder der Steueroase war. | |
## „Crack-up-Kapitalismus“ | |
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat dann seit den 1990er Jahren einen | |
unerwarteten Boom neuer Staatsgründungen und die Aufwertung bestehender | |
Zwergstaaten hervorgebracht, die von Libertären und Vertretern eines | |
„Crack-up-Kapitalismus“, der alte, größere Länder in neue, kleinere | |
„aufbrechen“ will, um sie als Experimentierfeld zu nutzen, euphorisch | |
begrüßt wurde. | |
Slobodian folgt diesen „anarchokapitalistischen“ Reallaboren vor und nach | |
1990 von Südafrika über Somalia bis Honduras, von Gated Communities (als | |
„globale Apartheid“) über souveräne Unternehmen („Sovcorps“) und Seas… | |
(als „juristische Mobile Homes“) bis hin zu „Start-up-Städten“ eines | |
Silicon-Valley-Kolonialismus zu Land, Wasser, im Weltraum wie im | |
Metaversum. | |
Indem sie/ihre Akteure wie etwa die Friedman-Nachkommen David und Patri | |
Teile des 19. Jahrhunderts oder gar des Mittelalters in die Gegenwart | |
importieren wollen, machen sie deutlich, dass „der Übergang vom Zeitalter | |
der Imperien zum Zeitalter der Nationen keine Einbahnstraße“ war – wenn er | |
überhaupt je konsequent beschritten wurde. | |
## Staaten gehören den Reichen | |
Slobodian widmet den düsteren Experimenten wie ihren zynischen Visionären | |
ein beeindruckend akribisch recherchiertes und dabei erfreulich pointiert | |
geschriebenes Buch, das wir als Warnung vor einer (bereits gegenwärtigen) | |
Zukunft verstehen müssen, in der Staaten als Unternehmen auch rechtlich | |
nicht mehr dem Staatsvolk als Ganzem gehören, sondern allenfalls noch | |
seinen reichsten Vertretern. | |
Man darf sich von den libertären Fluchtfantasien nicht täuschen lassen. Am | |
Ende weiß auch jemand wie Peter Thiel – Paypal- und Palantir-Gründer sowie | |
Seastead-Unterstützer –, dass eines noch besser ist, als „mühsam einen | |
neuen Staat zu errichten“: nämlich „den existierenden Staat zu übernehmen… | |
7 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tom Wohlfarth | |
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