# taz.de -- Experte über gestoppte Coronahilfen: „Gericht in der Gefahrenzon… | |
> Das Coronahilfspaket der EU ist von historischer Bedeutung, sagt | |
> Wirtschaftshistoriker Adam Tooze – und kritisiert das | |
> Bundesverfassungsgericht. | |
Bild: Pfandleiher in Neapel. Für Italien sind die EU-Gelder ein beträchtliche… | |
taz am wochenende: Herr Tooze, der Bundestag hat den Weg frei gemacht für | |
das Coronahilfspaket der EU, das 750 Milliarden Euro umfasst. Das | |
Verfassungsgericht hat die Ratifizierung nun gestoppt. | |
Adam Tooze: So ein Eingriff in letzter Minute: Das ist angesichts der | |
Bedeutung kaum zu fassen. | |
Das Programm ist ein historischer Durchbruch? | |
Ja absolut. Es ist bemerkenswert, dass die EU-Kommission erstmals Schulden | |
aufnehmen dürfte. Dies ist ein Schritt zu einer gemeinsamen Finanzpolitik. | |
Was in Deutschland viele kritisieren. | |
Wie schon im Mai letzten Jahres lässt sich das Gericht durch eine | |
euroskeptische Minderheit in Deutschland instrumentalisieren. Es begibt | |
sich in europäischen Grundrechtsfragen in eine nationalistische | |
Gefahrenzone. | |
Sind denn die Ziele des Programms richtig? | |
Ja, ein großer Teil des Geldes soll dazu dienen, Öko-Energie zu fördern. | |
Und zudem wurde beschlossen, dass die Hilfen nur in Länder fließen, in | |
denen der Rechtsstaat nicht unterminiert wird. Die anderen EU-Staaten haben | |
sich also gegen die autoritären Regierungen in Polen und Ungarn | |
durchgesetzt – beachtlich. | |
Reichen denn 750 Milliarden Euro? | |
Es hängt davon ab, ob die Hilfen als normales Konjunkturpaket verstanden | |
werden. Dann reichen sie nicht. Die USA geben kurzfristig weitaus mehr Geld | |
aus, um die Coronakrise zu bekämpfen. Aber das EU-Programm will langfristig | |
wirken. Ein Drittel des Geldes wird in „grüne“ Energie fließen. Zudem | |
werden die Hilfen nicht nach dem Prinzip Gießkanne verteilt, sondern | |
fließen gezielt in jene Länder, die am stärksten von der Pandemie getroffen | |
wurden. In Italien werden die EU-Gelder 10 Prozent des BIP ausmachen, in | |
Bulgarien sogar noch mehr. | |
Corona wütet schon seit einem Jahr. Aber die geplanten 750 Milliarden Euro | |
werden wahrscheinlich erst ab Sommer ausgezahlt. Kommt die Hilfe zu spät? | |
Das Paket ist keine unmittelbare Hilfe – hat aber trotzdem sofort gewirkt. | |
Denn es war ein Signal der europäischen Solidarität, was die Stimmung an | |
den Finanzmärkten gleich verändert hat. Weltweit haben die Anleger | |
verstanden, dass sich die Eurokrise nicht wiederholen würde. Also sind die | |
Zinsen gefallen, weil für die großen Fonds klar war, dass europäische | |
Staatsanleihen sicher sind. Dazu hat auch beigetragen, dass die Europäische | |
Zentralbank EZB die Staatsanleihen aller Mitgliedsländer aufkauft – also | |
auch von Italien oder Griechenland. | |
Die Hilfsgelder sollen in bestimmte Projekte fließen. Zum Beispiel in | |
Klimaschutz oder Digitalisierung. Ist diese Koppelung sinnvoll? Wird es | |
dadurch nicht zu bürokratisch? | |
Sicher, man kann Gelder auch schneller ausgeben. In den USA hat man einfach | |
Schecks verteilen lassen. Aber das EU-Programm will langfristige | |
Industriepolitik betreiben – und gleichzeitig auch die | |
Steuerungskapazitäten aufbauen, um diese Mittel zu verwalten. Die Folgen | |
sieht man etwa an Italien. Dort wurde die ganze Regierung ausgetauscht, um | |
zu entscheiden, was mit dem Geld geschehen soll. Und der einstige EZB-Chef | |
Mario Draghi ist jetzt der Premierminister. Um die geplanten Programme | |
auszuarbeiten, hat Italien dann Unternehmensberater angeheuert. | |
Die EU-Kommission darf jetzt zwar erstmals Schulden machen, aber dies soll | |
eine Corona-Ausnahme bleiben und sich nicht wiederholen. Wäre es sinnvoll, | |
wenn die EU-Kommission regelmäßig Kredite aufnehmen dürfte – wie die | |
Staaten auch? | |
Ja. Dann wäre das jetzige Programm auch ein nachhaltiger Durchbruch. Bisher | |
war es in der EU ein Tabu, gemeinsame Aufgaben durch gemeinsame Kredite zu | |
finanzieren. Aber es könnte sein, dass dieses Denkverbot demnächst fällt. | |
Deutsche Konservative bestehen natürlich darauf, dass das | |
Coronahilfsprogramm eine Ausnahme sei, was zweifellos auch von den | |
Niederländern oder den Österreichern geteilt wird. Aber wenn man mit | |
Italienern, Franzosen oder Spaniern spricht, dann sehen sie die jetzigen | |
Beschlüsse eher als Präzedenzfall denn als Ausnahme. | |
Ist das realistisch? | |
Entsprechende Vorbilder gibt es: Als die EZB begann, Staatsanleihen | |
aufzukaufen, sollte dies auch eine Ausnahme bleiben. Inzwischen ist es die | |
Norm. In diesem Ringkampf zwischen den Konservativen und den Gegenkräften | |
wird sich die Zukunft der EU entscheiden. | |
Viele Deutsche haben Angst, dass die EU zu einer Art Selbstbedienungsladen | |
für die ärmeren Länder wird, wenn die Kommission unbegrenzt Schulden machen | |
darf. | |
Diese Angst ist unnötig. Das jetzige Hilfsprogramm wird engmaschig | |
begleitet und kontrolliert. Zudem sollte man nicht vergessen, dass die EU | |
und vor allem die Eurozone ein einheitlicher Wirtschaftsblock mit einer | |
gemeinsamen Währung sind. Da benötigt man eine gemeinsame Finanzpolitik, | |
vor allem in Krisenzeiten. Dies kann natürlich auch eine gewisse | |
Umverteilung bedeuten, damit der gesamte Wirtschaftsraum prosperiert. | |
Dennoch sollten sich die Deutschen nicht als Opfer fühlen. Die | |
Bundesrepublik hat einen enormen Einfluss auf allen Ebenen der EU und | |
gewinnt vor allem durch den Handel. | |
Deutschland wird 65 Milliarden Euro mehr zahlen, als es bekommt, wie der | |
Bundesrechnungshof schätzt. Ist das eine gute Investition? | |
Unbedingt. Denn Deutschland ist ein Exportland, und die EU ist der | |
wichtigste Handelspartner. Die Bundesrepublik profitiert enorm, wenn auch | |
die Nachbarn wohlhabende und stabile Länder sind. | |
Hat Deutschland aus der Eurokrise gelernt? | |
Ein Teil der deutschen Öffentlichkeit und Politik hat definitiv | |
dazugelernt. Man war entsetzt über die ökonomischen Folgen, beispielsweise | |
in Griechenland und in Italien. Man war aber auch bestürzt über den | |
nationalistischen Populismus, der durch die Eurokrise entstanden ist. Viele | |
haben es inzwischen vergessen, aber die AfD wurde als Anti-Euro-Partei | |
gegründet. Zudem spielt eine Rolle, dass Wolfgang Schäuble nicht mehr | |
Finanzminister ist. SPD-Finanzminster Olaf Scholz hat schon vor der | |
Coronakrise Projekte wie die europäische Bankenunion oder eine europäische | |
Arbeitslosenversicherung vorangetrieben. Im April und Mai 2020 waren Scholz | |
und sein Team wichtige Verbindungsleute zwischen dem französischen | |
Präsidenten Macron und Kanzlerin Merkel. | |
Das Rettungspaket ist beschlossen worden, während der deutschen | |
EU-Ratspräsidentschaft. Gäbe es diese Maßnahmen auch, wenn die Deutschen | |
nicht den Vorsitz gehabt hätten? | |
Falls Frankreich, Spanien oder Italien den EU-Vorsitz gehabt hätten, wäre | |
wahrscheinlich versucht worden, ein noch größeres Hilfspaket auszuhandeln. | |
Die Frage ist, warum Merkel im Mai plötzlich ihre Meinung geändert hat. | |
Anfangs war sie klar gegen Schulden, die direkt von der EU-Kommission | |
aufgenommen werden. Also hat man die Lösung gefunden, das Kreditprogramm | |
über den EU-Haushalt laufen zu lassen. Das hat geholfen. | |
Gleichzeitig forderten viele Deutsche mehr europäische Solidarität ein. | |
Es gibt die strukturelle Logik: Die EU funktioniert nur, wenn man gemeinsam | |
handelt. Allerdings zeigt ja das traurige Beispiel der Eurokrise, dass es | |
allzu lange dauern kann, bis eine notwendige Lösung auch tatsächlich | |
umgesetzt wird. Wenn das Coronahilfsprogramm kommt, dann wird Geschichte | |
gemacht. | |
27 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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