| # taz.de -- Neuverschuldung und Corona: Loblied auf die Schulden | |
| > 2020 gab es revolutionäre Finanzspritzen. Märkte können nur noch | |
| > existieren, wenn der Staat sie schützt. Wie die Herrschaft der | |
| > Neoliberalen endete. | |
| Bild: Da kommt sie angerollt, die Geldwelle | |
| Berlin taz | Die Coronakrise hat ihre Vorteile. Sie dürfte die neoliberale | |
| Ideologie beerdigen, die die westliche Welt seit 1980 dominiert hat. Die | |
| Marktradikalen sind jetzt nur noch ein kleiner Trupp, der auf verlorenem | |
| Posten kämpft. Denn die Coronakrise zeigt, dass der „freie Markt“ eine | |
| Fiktion ist. Märkte können nur existieren, wenn der Staat sie stützt. | |
| Das Auf und Ab vom Aktienindex DAX ist dafür ein Lehrstück: Als im Frühjahr | |
| deutlich wurde, dass die Coronapandemie von China nach Europa überspringen | |
| würde, brachen die deutschen Börsenkurse um fast 40 Prozent ein – und sie | |
| wären noch weiter gefallen, wenn allein der „freie Markt“ gewaltet hätte. | |
| Der DAX hat sich nur erholt, weil die deutsche Regierung etwa 500 | |
| Milliarden Euro in Coronahilfen steckt. Die „schwarze Null“ ist kein | |
| Mantra mehr, stattdessen werden Schulden gemacht, um die Konjunktur | |
| anzukurbeln – und prompt erleben alle, wie leistungsstark und | |
| handlungsfähig der Staat ist. | |
| Neoliberale haben stets die Mär verbreitet, dass der Staat nur stören würde | |
| und dass vor allem Staatsschulden extrem gefährlich seien: Die Zinsen | |
| würden steigen, und eine Inflation wäre unausweichlich. Die Realität | |
| beweist das Gegenteil. Die Bundesrepublik zahlt sogar Minuszinsen, sodass | |
| der Staat Geld geschenkt bekommt, wenn er Kredite aufnimmt. Auch eine | |
| Geldentwertung ist nirgends in Sicht, stattdessen fallen die Preise. Im | |
| November lag die Inflation bei minus 0,3 Prozent. | |
| ## Schulden wie seit 1945 nicht | |
| Doch nicht nur Staaten machen neuerdings Schulden, wie man sie seit dem | |
| Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat. Auch die EU-Kommission darf | |
| erstmals Kredite aufnehmen und mit 750 Milliarden Euro jene Mitgliedsländer | |
| unterstützen, die durch Corona am schwersten getroffen wurden. Dies ist | |
| geradezu revolutionär. Bisher durfte Brüssel nur verwalten, was die | |
| Mitgliedstaaten an Beiträgen zahlten. Doch jetzt gibt es Coronabonds, auch | |
| wenn sie nicht so heißen. | |
| Kanzlerin Merkel lernt endlich vom Europapolitiker Helmut Kohl. Sie lässt | |
| „Bimbes“ springen, um das Projekt Europa zu retten. Sie ist nämlich nicht | |
| nur bereit, europäische Coronabonds zu akzeptieren. Sie hat sogar | |
| zugelassen, dass Deutschland zum Nettozahler wird und weitaus mehr Geld zum | |
| EU-Wiederaufbaufonds beisteuert, als es erhält. Etwa 52,3 Milliarden Euro | |
| wird die Differenz betragen. Vor Corona wäre undenkbar gewesen, dass | |
| Deutschland so solidarisch ist. | |
| Allerdings verfolgt die Bundesrepublik auch Eigeninteressen, wenn sie sich | |
| großzügig zeigt. Deutschland erdrückt die Nachbarn mit seinen | |
| Exportüberschüssen. Diese Unwucht wurde durch Corona noch verschärft, weil | |
| viele EU-Länder nicht reich genug sind, um ihre Betriebe zu unterstützen. | |
| ## Wettbewerbsverzerrung? | |
| EU-Wettbewerbskommissarin Vestager schlug daher schon früh Alarm: Die | |
| Hälfte aller Anträge für Unternehmenshilfen stammten aus Deutschland, was | |
| eine „Wettbewerbsverzerrung“ sei. Vestager hat nicht übertrieben. Die | |
| Gefahr ist enorm, dass vor allem deutsche Firmen die Krise überleben – und | |
| dann den EU-Binnenmarkt aufrollen. Auf den ersten Blick mag es erfreulich | |
| wirken, wenn man seine Nachbarn in den Boden konkurriert. Neoliberale | |
| glauben bis heute an den Wettstreit der Nationen. Doch dieser Egoismus wäre | |
| kurzsichtig: Die anderen können deutsche Waren nur kaufen, wenn auch sie | |
| über Einkommen verfügen. Europa wird gemeinsam reicher, nicht getrennt. | |
| Die Neoliberalen sind also auf dem Rückzug. Doch sollte man sich nicht zu | |
| früh freuen. Entschieden ist ihre Niederlage noch nicht, wie die | |
| Finanzkrise ab 2008 lehrt. Man erinnert sich: Damals hatten die Banken | |
| Billionen an faulen Kredite vergeben. Um globales Chaos zu vermeiden, haben | |
| sich die Staaten auch damals verschuldet und die Konjunktur gestützt. Doch | |
| kaum war die Krise vorbei, setzten die Neoliberalen zu einer | |
| atemberaubenden Volte an: Es wurde einfach so getan, als hätten die Staaten | |
| hemmungslos Kredite aufgenommen – die Verantwortung der Banken wurde | |
| verdrängt. Um diese angebliche „Staatsschuldenkrise“ zu beheben, wurde 2009 | |
| sogar eine „Schuldenbremse“ im Grundgesetz verankert. Sie könnte jetzt noch | |
| tückisch werden, denn sie verlangt, dass die Kredite aus Coronazeiten in | |
| den nächsten zwanzig Jahren zurückgezahlt werden. | |
| Auf den ersten Blick mag es einleuchtend klingen, dass der Staat seine | |
| Schulden tilgt. Wenn eine Familie eine Hypothek aufnimmt, um ein Haus zu | |
| kaufen, muss sie diesen Kredit schließlich auch abstottern. Dennoch wäre es | |
| fatal, den Staat mit seinen Bürgern zu vergleichen. Denn der deutsche Staat | |
| könnte seine Kredite nur tilgen, wenn er Steuern erhöht. | |
| Doch sobald die Bürger mehr Geld ans Finanzamt abführen müssten, hätten sie | |
| weniger Mittel, um zu konsumieren. Die Nachfrage würde einbrechen, was dann | |
| in eine Wirtschaftsflaute führte. Die Coronakrise würde sich endlos | |
| verlängern. Staaten sind keine normalen Bürger. Sie zahlen ihre Schulden | |
| nicht zurück, sondern setzen darauf, dass die Kredite langsam bedeutungslos | |
| werden – indem die Wirtschaft wieder wächst. Dieses Vorgehen ist leicht zu | |
| verstehen; nur Neoliberale tun sich damit schwer. | |
| 31 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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