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# taz.de -- Verschuldung in der Corona-Krise: Deutschlands historisches Zögern
> Verweigert sich Deutschland in der Wirtschaftskrise europäischer
> Solidarität? Gespräche mit zwei Ökonomen, die das kaum fassen können.
Bild: Hinter der Hecke: Italien trifft die Corona-Krise auch wirtschaftlich vie…
Adam Tooze hat nur eine leichte Erkältung, nichts Schlimmes, sagt er am
Telefon in New York. Am Anfang also Smalltalk mit diesem gefragten
britischen Wirtschaftshistoriker, der mit schlimmen Aussichten endet: Noch
ein paar Tage, dann wird in New York die Triage beginnen, schätzt Tooze.
Das heißt, die Ärzt*innen in den Krankenhäusern müssen in Ermangelung von
Beatmungsgeräten über Leben und Tod entscheiden: darüber, wen der an
Covid-19 schwer Erkrankten sie mit Sauerstoff versorgen, wem sie also eine
Chance aufs Überleben geben. Und wem nicht.
Und trotzdem müssen wir über Ökonomie reden. Tooze lehrt an der Columbia
University, er hat die großen Krisen studiert, die NS-Vergangenheit des
deutschen Finanzministeriums aufgearbeitet, über die Auswirkungen der
Weltfinanzkrise 2008 schrieb er einen internationalen Bestseller.
Wie schlimm steht es also? „Seit wir ökonomische Daten aufzeichnen, gab es
noch nie irgendeine Wirtschaft, die einen solchen Schock erlebt hat wie
derzeit die Ökonomien in den USA und Europa“, sagt Tooze. Er meint die
schiere Geschwindigkeit, mit der alles passiert. Und die Reaktionen der
Regierungen und Zentralbanken.
Tooze ist mit Vergleichen vorsichtig. Es sei nicht 1914, 1929, 1941 oder
2008, Nostalgie helfe nicht, das sei 2020, etwas Neues. „Monumental“ soll
die Präsidentin der Europäischen Zentralbank EZB, Christine Lagarde, die
Krise am Donnerstagabend vor den EU-Staats- und Regierungschefs in einer
Videokonferenz genannt haben.
## Bloß keine gemeinsamen Schulden
Binnen einer Woche haben sich in den USA über 3 Millionen Menschen
arbeitslos gemeldet. Die Quote steige gerade zehnmal schneller als während
der Finanzkrise ab 2008, sagt Tooze. Noch ist sie relativ niedrig. Doch bis
zum Sommer könnte sie auf nie dagewesene 30 Prozent schnellen, warnen
Ökonomen. Das wäre mehr, als in der Zeit nach 1929, als die Krise in
mehreren Wellen kam. Deutschland federt das besser ab, hier gibt es
Kurzarbeitergeld, aber auch hier könnten 1 Million Vollzeitjobs wegfallen,
die Wirtschaft um bis zu 20 Prozent einbrechen, warnte das Münchner
ifo-Institut diese Woche. Die Deutsche Bank sagt, die Krise könnte der
Volkswirtschaft 1,5 Billionen Euro kosten.
Und ausgerechnet in dieser Situation verweigere sich Deutschland Europa,
sagt Tooze. Zuletzt forderten nicht nur namhafte Ökonom*innen, sondern auch
die EZB-Chefin sowie die Staats- und Regierungschefs von Frankreich,
Italien, Spanien und sechs weiteren EU-Ländern ein „gemeinsames
Schuldeninstrument“, um mehr Mittel zur Bekämpfung der Pandemie für das
Gesundheitswesen und die Wirtschaft zu bekommen.
Und wie reagierte Berlin? Finanzminister Olaf Scholz (SPD) will kein System
der Gemeinschaftshaftung, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sprach
von einer „Geisterdebatte“, Bundeskanzlerin Angela Merkel blockte in einer
Videokonferenz mit ihren Kolleg*innen ab – Neuvorlage in 14 Tagen. Man
verweist auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, der kein
Mechanismus, sondern eine Finanzierungsinstitution von 19 EU-Ländern ist,
die 400 Milliarden Euro an Staaten in Not verleihen kann – abgesichert von
allen, vor allem von Deutschland.
Schon während der Eurokrise gab es eine Debatte über gemeinsame Schulden,
die reichere EU-Länder ablehnten. „Solange sie lebe“ werde es das nicht
geben, sagte Merkel 2012. Zu groß war die Angst, dass sich die anderen
Länder auf Kosten der Nordländer verschulden. Stattdessen schuf man den
ESM, der nun zu klein sein könnte und vor allem ein politisches Zeichen
ist, nicht gemeinsam auf die Krise reagieren zu wollen, sagt Tooze.
## Die Krise könnte die Eurozone weiter spalten
Er ist regelrecht fassungslos, dass Deutschland sich echten gemeinsamen
Schulden weiter verweigert und stoisch auf den ESM verweist. „Die neun
Länder werden sich merken: Im Moment ihrer größten Krise seit dem Zweiten
Weltkrieg hat Berlin Nein gesagt. Zu einem Vorschlag, der in jederlei
Hinsicht vernünftig ist“, sagt Tooze. „Die Italiener wollen die Deutschen
doch nicht abzocken. Es geht lediglich darum, dass Deutschland seine gute
Kreditwürdigkeit für einen Nachbarn einsetzt, der eine schlechte
Kreditwürdigkeit hat – im Moment eines nationalen Notstands. Das ist
alles.“ Niemand könne was für die Krise, das sei doch offensichtlich, sagt
Tooze.
Ähnlich fassungslos ist Guntram B. Wolff. Er ist Direktor des Thinktanks
Bruegel in Brüssel. „Wenn wir es in so einer massiven Krise nicht schaffen,
den nächsten Schritt in Europa zu gehen, dann kann ich mir nicht
vorstellen, wie man jemals einen nächsten Schritt gehen wird“, sagt er.
Während Deutschland 600 Milliarden Euro an Krediten, Hilfen und
Bürgschaften für Unternehmen und 156 Milliarden Euro Neuverschuldung für
sonstige Maßnahmen, etwa für Freiberufler und das Gesundheitssystem
mobilisiert, sind es in Italien gerade mal 24 Milliarden. Das Land ist hoch
verschuldet, bis heute hat die Industrie die Leistungsfähigkeit von der
Zeit vor der Finanzkrise ab 2008 nicht mehr erreicht, sagt Tooze.
Deutschland hingegen boomte. Dass Italien nie aus seinem Loch herauskam,
juckte Berlin nicht.
Dieser Zustand macht ein Szenario denkbar, dass die Eurozone ökonomisch
noch weiter spalten könnte. Es hat mit dem Buchstaben V zu tun: Lars Feld,
der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen hofft auf das V, Bundesfinanzminister
Peter Altmaier, auch Donald Trump. Ein steiler Absturz gefolgt von steilem
Wachstum. Ein BIP wie ein V eben.
## Wer zahlt das alles?
Doch das wird immer unwahrscheinlicher, je länger die Krise dauert – und je
weniger Geld einzelne Länder haben, um gegen sie anzukämpfen. Am Ende
könnte Deutschland das V schaffen, während in Italien oder Spanien
ökonomische Strukturen so grundsätzlich zerstört sind, dass die Länder über
Jahre am Boden liegen. „Wenn der Shutdown zu lange dauert, fehlen danach
die Unternehmen, um wieder neu zu wirtschaften“, sagt Wolff.
Um das V zu schaffen, werden nun überall surreale Summen aufgerufen.
Washington schnürt ein Paket von 2 Billionen Dollar. Gemessen an der
Wirtschaftsleistung nimmt etwa die dänische Regierung noch mehr Geld in die
Hand. Der Ökonom Flemming Larsen von der Universität Aalborg drückt die
Idee im Magazin The Atlantic so aus: „Lasst uns die ganze Wirtschaft in
einen sehr großen Kühlschrank werfen, und wenn das Virus weg ist, tauen wir
sie wieder auf.“ Und alle gehen wieder arbeiten.
Und wer zahlt das alles? „Stellen Sie sich vor: Geld ist eine Menge da“,
sagt Wolff. Momentan suche alle Welt eine sichere Anlage und Staatsanleihen
seien eben relativ sicher. So vergemeinschafte man die Kosten. „Die
Verteilungswirkung hängt dann vom Steuersystem ab. Also, wie die Zinsen in
Zukunft bezahlt werden. Von den Reichen durch Steuern oder von den Armen,
weil Ausgaben für sie gekürzt werden?“, fragt Wolff. Immerhin hat Brüssel
beschlossen, dass sich EU-Staaten zur Bekämpfung der Krise bedingungslos
verschulden dürfen. Es kommt also nicht automatisch zu Kürzungen im
Gesundheitswesen, bei Renten oder Sozialausgaben, was nach der Finanzkrise
viele Menschen in Südeuropa ins Elend gestürzt hat.
Eine besondere Rolle kommt der Europäischen Zentralbank zu, die einen sehr
großen Kühlschrank hat. Sie hat im Rahmen ihres Hilfsprogramms Pandemic
Emergency Purchase Programme (PEPP) diese Woche beschlossen, Staatsschulden
in quasi unbegrenzter Höhe auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen. „Das heißt,
der Schuldenberg durch die Krise landet irgendwann bei der Zentralbank und
wird in ihrer Bilanz absorbiert“, sagt Wolff. Also: Italien leiht sich Geld
bei einer Bank, einem Versicherer, einem anderen Staatsfonds oder bei
Ihnen, und Sie wissen, dass Sie darauf nicht sitzenbleiben werden, wenn
sich das Land wegen der Krise überschuldet – denn die EZB steht stets als
Käuferin im Hintergrund parat. Also sinkt das Risiko und Sie borgen Italien
was.
## Einen ewigen Shutdown macht niemand mit
Das Problem dahinter: Wenn Regierungen sich zu viel Geld leihen, unter die
Leute bringen und die das dann ausgeben wollen, obwohl es zu wenig zu
kaufen gibt, dann kommt es zum Wettbieten – also Inflation. Aber das
Problem stelle sich im Moment nicht, sagt Wolff. „Derzeit müssen wir
Brücken aus der Krise bauen.“ Trotzdem sei die Zentralbank keine
Dauerlösung. „Je tiefer die Krise wird, desto unruhiger werden die in
Frankfurt. Weil es politisch und demokratietheoretisch große Fragen
aufwirft“, sagt Wolff. Nicht umsonst steht auch die EZB hinter gemeinsamen
Schulden der Eurostaaten – und je länger die Krise andauert, desto
unausweichlicher könnten sie werden. Weil die Schuldenquote von Italien bei
einbrechender Wirtschaft schnell jenseits der 150 Prozent der
Wirtschaftsleistung liegt, glaubt Tooze. In normalen Zeiten würde die
Zinsen dann explodieren, sprich: Italien wäre pleite.
„Wir müssen jetzt ganz hart an einer Öffnungsstrategie arbeiten“, sagt
Wolff und fordert: Mehr Tests, mehr Atemmasken, hoffentlich eine Impfung,
KI und Apps, um die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. „Man
kann den Shutdown nicht ewig aufrechterhalten. Das machen weder die
Wirtschaft noch die Menschen mit“, sagt Wolff.
27 Mar 2020
## AUTOREN
Ingo Arzt
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