# taz.de -- Die Pandemie und die Folgen: Was wir aus der Coronakrise lernen | |
> Der Neoliberalismus ist endgültig bankrott. Der Nationalstaat kehrt | |
> zurück. Das ist gut, aber längst noch keine Lösung. | |
Bild: Das Virus legt die Schwächen der autoritären Regime und der neoliberale… | |
Nichts wird nach Corona mehr so sein wie zuvor. In diesem Satz hallt noch | |
das Erstaunen nach, wie rasch und radikal sich der Alltag verändert hat. | |
Der abrupte Wandel vom Normal- in den Ausnahmemodus erscheint als ein | |
einschneidendes Ereignis, das Folgen haben muss. Die Katastrophe, die auf | |
uns zurollt, wird manchen zum kathartisch aufgeladenen Moment, der die Zeit | |
in vorher und nachher teilt. Das Nachher soll ein besseres sein. | |
Die Idee hat einen diffus christlichen Oberton. Sie fügt das erwartete | |
Leiden in eine sinnstiftende Erzählung. Auf Sünde und Hybris der | |
ungezügelten Globalisierung, die das Virus so rasch verbreitete, folgt die | |
Strafe – Tod, und die Kollateralschäden der sozialen Isolation –, ehe die | |
Läuterung das Desaster in einer überwölbenden Tröstungserzählung abpuffert. | |
[1][Die Welt nach Corona] soll ökologischer und gerechter, ungefährlicher | |
und freundlicher, langsamer und achtsamer sein. Eine Kitschversion dieser | |
Erzählung stammt von dem Trendexperten Matthias Horx, der den Technik-Hype | |
für beendet erklärt. „Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf | |
die humanen Fragen: Was ist der Mensch?“ | |
Der Rückgriff auf diese profanisierte Erlösungsgeschichte ist eine | |
Gehhilfe, um das schwer Fassbare zu verarbeiten. Die Coronakrise ist für | |
moderne Individuen, die es gewohnt sind, zu planen und die Dinge rational | |
zu kalkulieren, eine echte Zumutung: Das Virus ist der Einbruch des | |
Unvorhergesehen mit schwer abschätzbarer Zerstörungswirkung in den Alltag. | |
Dass das Ende nicht absehbar ist, macht erst recht nervös. So etwas kennen | |
wir sonst nur aus Blockbustern, in denen Bedrohungen wie Aliens, böse | |
Maschinen, Zombies oder (selten) Pandemien uns das Gruseln lehren. Jetzt | |
sind wir deshalb zu Hause eingesperrt. | |
Katastrophen hinterlassen Einkerbungen und Riefen in Gesellschaften. Sie | |
beschleunigen Prozesse, machen Verborgenes sichtbar und nötigen | |
Lernprozesse auf – allerdings verlaufen die selten als moralische | |
Läuterung. | |
Was also lernen wir aus Corona? Die Krise fördert ein paar Erkenntnisse | |
über Solidarität, den Nationalstaat und Neoliberalismus zutage, die nicht | |
völlig neu sind, aber die man vor ein paar Wochen noch nicht so scharf | |
konturiert sah. | |
Das Solidaritätsvermögen der bundesdeutschen Gesellschaft ist größer, als | |
man vermuten konnte. Die Mehrheit verzichtet bereitwillig auf | |
Bewegungsfreiheit, Einkommen und Zukunftssicherheit, um gefährdete Gruppen | |
wie Ältere vor Zuständen wie in Bergamo zu schützen. Das Hamstern von | |
Klopapier ist in diesem Bild nur eine bizarre Randerscheinung. Die | |
Gesellschaft tickt, wie Umfragen über Wertvorstellungen seit Jahren zeigen, | |
im Grunde sozialdemokratisch: etatistisch, sozial, im Zweifel egalitär. Der | |
Notfall beweist dies. | |
Wird die Demokratie außer Kraft gesetzt? Die Opposition stimmt im Bundestag | |
brav für die Regierung. Auf der anderen Seite sehen wir eine Regierung, die | |
Lösungen öffentlich abwägt und, mal abgesehen von Markus Söder, ohne | |
Notstandspathos auskommt. Merkel, sowieso unbrauchbar für Machtworte, rät | |
uns, mal wieder Briefe zu schreiben. Obrigkeitsstaat, wo ist deine Fratze? | |
## Konsens, kein Burgfriede | |
Ja, das Säurebad öffentlicher Kritik, das zentral für offene Demokratien | |
ist, ist in diesen Tagen geschlossen. Aber dieser Konsens ist kein | |
Burgfrieden, und der Kampf gegen das Virus ist kein Krieg. [2][Die | |
Ausnahmesituation der Demokratie] wird schneller enden als die | |
Infektionskette. Schon die anstehende Debatte, wann für wen die | |
Kontaktsperre gelockert wird, findet wieder im Normalmodus statt – | |
polarisiert, zugespitzt, an Interessen orientiert. | |
Derzeit handelt die Regierung so, wie die Bürger ticken – | |
sozialdemokratisch. Sie pumpt entschlossen keynesianisch Geld in die | |
stillgelegte Wirtschaft. Die Blaupause dafür ist die Finanzkrise 2008. Die | |
Groko reagiert diesmal schneller und großzügiger. Das ist nötig und doppelt | |
wirksam: Es dämpft die Angst und verhindert Pleiten und Arbeitslosigkeit, | |
die volkswirtschaftlich teurer kommen als jedes Rettungspaket, zumal in | |
Zeiten, in denen Deutschland null Prozent Zinsen zahlt. Deutschland kann | |
den Absturz nahezu grenzenlos mit Schulden abfedern. Die Aussichten sind | |
insofern ähnlich wie vor elf Jahren: Die Krise wird die deutsche | |
Exportökonomie extrem hart treffen, danach geht es wieder aufwärts. | |
Nicht nur in Deutschland ist der Nationalstaat der alles entscheidende | |
Akteur. Die Krise erfordert Koordination, schnelle, auch radikale | |
Entscheidungen, ohne die demokratischen „checks and balances“ außer Kraft | |
zu setzen. Autoritäre Staaten, in denen alles top-down geht, sind für diese | |
Krise nicht gut präpariert. Die China-Bewunderer vergessen, dass der Arzt | |
Li Wenliang, der vor 12 Wochen das Virus entdeckte, dafür fast im Gefängnis | |
gelandet wäre. Auch für komplexe Risikoabwägungen sind freie Debatten | |
nötig, die autoritäre Regime fürchten. Diese Krise prämiert somit | |
funktionstüchtige, durchlässige Demokratien, mit einem brauchbaren, wenig | |
privatisierten Gesundheitswesen, das nicht oder nur wenig von der Logik des | |
Profits beherrscht wird. Im Grund ist dies ein sozialdemokratischer Moment | |
– und zwar der Oldschool-Sozialdemokratie vor Tony Blair, der die | |
kapitalistische Globalisierung für ein Naturereignis hielt. | |
## Aus der Finanzkrise lernen | |
Bei allem Lob des Nationalstaats muss man auch dessen beschränkten Radius | |
sehen. In der Finanzkrise 2008 waren die Staaten die Feuerwehr, die den | |
Brand löschten – doch bis heute sind sie nicht in der Lage, gegen den | |
globalen Finanzkapitalismus eine neue Brandschutzverordnung durchzusetzen. | |
Der Neoliberalismus ist mehrfach blamiert und zur Kenntlichkeit entstellt. | |
Das nachlässige Nichtstun von Boris Johnson, der damit Risikogruppen einer | |
unkalkulierbaren Gefahr aussetzt, spiegelt das verrohte Denken, dem der | |
Markt alles ist. Die Idee, dass die Gesundheit der Älteren nun wirklich | |
kein Grund ist, um die Wirtschaft stillzulegen, hat Jeremy Warner, | |
Kommentator des Telegraph, radikalisiert. Ökonomisch, so das Argument, sei | |
Covid-19 recht vorteilhaft, weil es „viele ältere Angehörige tötet“. Sol… | |
moralischen Abgründe mögen schon immer zum Neoliberalismus gehört haben – | |
jetzt klingen sie noch schriller als früher. | |
Die Pandemie besiegelt den Bankrott des neoliberalen Modells. Der Kult des | |
starken Egos, dessen schrankenlose Freiheiten letztlich allen nutzen | |
sollten, ist angesichts einer Bedrohung, die nur kollektiv bekämpft werden | |
kann, lächerlich. Der Neoliberalismus ruiniert zudem den Vertrag, auf dem | |
Staaten fußen. Der Staat beansprucht das Gewaltmonopol, dafür bietet er | |
Bürgern und Steuerzahlern Sicherheit vor existenziellen Bedrohungen. Dazu | |
aber sind privatisierte, extrem teure Gesundheitssysteme wie in den USA | |
kaum in der Lage. | |
Das Virus legt die Schwächen der autoritären Regime und der neoliberalen | |
Propaganda bloß. Ist also alles, den Umständen entsprechend, gut? Stößt die | |
Krise Lern- und Erkenntnisprozesse an, die die Dinge zum Besseren wenden? | |
Die Wirtschaftswissenschaflerin Mariana Mazzucato skizziert im Guardian die | |
Pandemie als Chance, einen anderen Kapitalismus zu etablieren, in dem ein | |
starker Staat energisch die Profitinteressen der Pharmakonzerne beschränkt | |
und die gigantischen staatlichen Rettungspakete den Weg in einen Green New | |
Deal bahnen. Ist das die dialektische Volte des Virus, die List der | |
Geschichte? | |
## Leben im globalen Dorf | |
In gewisser Weise ja. Aber nur wenn man den Blick verengt. Das globale Bild | |
sieht anders aus. Corona führt uns blitzartig vor Augen, dass wir in einem | |
globalen Dorf leben, in dem Wuhan und New York, Gaza und Berlin miteinander | |
verknüpft sind. Doch die Reaktionen auf die Krise sind engherzig national, | |
ja brutal egoistisch. Die Rückkehr des Nationalstaats hat eine finstere | |
Seite. | |
Deutschland hatte zwei Wochen lang verboten, medizinische Güter zu | |
exportieren – eine angesichts der Lage in Italien abgründige Maßnahme. Dass | |
die erste Hilfe für Italien aus China kam, illustriert das Versagen der EU. | |
Nun werden zwar ein paar französische und italienische Patienten in | |
deutschen Krankenhäusern behandelt. Doch die Botschaft der Krise ist | |
schmerzhaft klar: Grenzen dicht. Solidarität gibt es nur national. | |
Krisen wie diese treffen nur auf den ersten Blick alle gleichermaßen. | |
Deutschland, stark und reich, kann sich gut schützen und wirtschaftliche | |
Schäden abfedern. Ärmere EU-Länder werden härter getroffen. Südeuropa | |
leidet noch immer unter den Folgen von 2008. Die Jugendarbeitslosigkeit ist | |
in Italien, Spanien und Griechenland noch immer extrem hoch. Und der | |
Sparzwang hat die Gesundheitssysteme demoliert. | |
Die EZB kauft nun großformatig Staatsanleihen, um einen Absturz Südeuropas | |
wie 2010 zu verhindern. Das ist nötig und richtig. Doch die Inschrift, die | |
diese Krise in die Gedächtnisse der Bürger Europas eingraviert, lautet | |
anders. Wenn es ernst wird, ist nur auf den Nationalstaat Verlass, nicht | |
auf die EU. | |
Dieser nationale Egoismus regiert nicht nur die EU – rund um den Globus | |
lautet das Motto: Unsere Nation zuerst. Das ist eine kurzatmige, absurde | |
Reaktion auf eine Pandemie. Covid-19 kann nur global bekämpft werden. | |
Deshalb müssen schnell und in großen Mengen Tests und Schutzausrüstung in | |
den globalen Süden geliefert werden. Genau so wichtig ist es, ärmere | |
Staaten vor den absehbaren Folgen der heranrollenden Wirtschaftskrise zu | |
schützen. | |
2008 flossen hunderte Milliarden Euro von finanziell als unsicher geltenden | |
Schwellen- und Drittweltländer in die kapitalistischen Metropolen. | |
Gleichzeitig stiegen die Preise für Nahrungsmittel rasant, während die | |
Weltmarktpreise für Rohstoffe, mit deren Ausfuhr viele ärmere Länder die | |
einzigen Exporterlöse erzielen, rapide sanken. Das Ergebnis: Die Zahl der | |
Hungernden stieg 2008 schlagartig um 75 Millionen. Die toxische Mischung | |
von Verschuldung, hohen Zinsen, Kapitalflucht und Nahrungsmangel droht sich | |
nun wiederholen. Dass solche Staaten nicht mehr in der Lage sind, eine | |
Pandemie zu bekämpfen, versteht sich von selbst. | |
Dieses Szenario ließe sich verhindern. Die vereinigten Staaten und | |
Deutschland bremsen mit viel Geld den Absturz. Das Gleiche muss global | |
geschehen. Der Internationale Währungsfonds fordert ein Schuldenmoratorium | |
für Ärmere. Das wäre ein erster Schritt. Effektive Hilfe ist nur möglich, | |
wenn die Wirtschaftsmächte USA, EU und China sie forcieren. Dafür spricht | |
nicht viel. Was am nötigsten ist, scheint derzeit am weitesten entfernt: | |
ein multilaterales Krisenmanagement, das nicht national, sondern global | |
denkt. | |
29 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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