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# taz.de -- Coronavirus in Frankreich: Totgesparte Krankenhäuser
> Monatelang haben Streikende gewarnt: Frankreichs Gesundheitssystem ist
> schlecht ausgestattet. Das rächt sich in Zeiten von Corona.
Bild: Die Fallzahlen von Coronainfizierten steigen weiter: Testation in einem K…
PARIS taz | Jeden Abend um 20 Uhr klatschen in Frankreich die Leute am
Fenster oder auf dem Balkon. Die Geste der Solidarität kommt aus Italien.
Der Applaus gilt dem medizinischen Personal der öffentlichen Krankenhäuser,
das unermüdlich gegen den Vormarsch von Covid-19 kämpft und jeden Tag, so
gut es ihnen menschenmöglich ist, Leben rettet.
Sie zählen ihre Arbeitsstunden nicht mehr, sehen ihre Familien kaum noch,
und viele von ihnen sind selbst bereits mit dem Coronavirus infiziert.
Trotz der Gesten der Dankbarkeit verspüren die gefeierten „Helden und
Heldinnen der Nation in Weiß“ eine gewisse Bitterkeit. Sie hatten seit
Monaten mit Streiks und Demonstrationen auf die Mängel und verschlechterten
Arbeitsbedingungen vor allem in den Notfallstationen der Krankenhäuser
aufmerksam gemacht und bei der Regierung nur wenig Verständnis oder
Bereitschaft zu Abhilfe vorgefunden.
„Vor ein, zwei Monaten wollte uns niemand zuhören. Heute lieben uns alle“,
sagt Simon Audibert. Er ist Arzt in der Notaufnahme des Hôpital Georges
Pompidou am südlichen Stadtrand von Paris. Kleine Gesten der Anerkennung
beweisen, wie der Einsatz in Corona-Zeiten geschätzt wird: „Wir bekommen
Schokolade und Pizzen geliefert, Leute bringen uns Crêpes.“ Seltener kommen
Firmen oder auch Privatpersonen mit dringend benötigten Schutzmasken.
Sein Krankenhaus und seine Abteilung seien relativ gut ausgerüstet und
derzeit nicht mit Engpässen konfrontiert. Die ganze Organisation dreht sich
um die Aufnahme von Corona-PatientInnen, für die zwei separate Etagen
eingerichtet wurden, die schon jetzt weitgehend belegt sind.
## Der Ansturm kommt erst noch
Wie alle GesprächspartnerInnen erwartet Audibert den großen Ansturm erst in
ein paar Tagen. Besonders wichtig ist ihm jetzt die Kollegialität: „Die
traditionelle Hierarchie ist locker geworden. Unter uns Notfallärzten ist
jeder und jede im Turnus Chef des Teams.“ Er selbst fühlt sich nicht allzu
gestresst. „Wir haben trotz allem noch ein intaktes Gesundheitssystem. Wenn
ich daran denke, was jetzt auf die Amerikaner zukommt...“
Der Vorsitzende der französischen Vereinigung der Notfallärzte (AMUF),
Christophe Prudhomme, ist dagegen sehr aufgebracht: „Hätten wir zu Beginn
[1][dieses ‚Kriegs‘, wie der Präsident der Republik das genannt hat],
dieselbe Anzahl von Betten in Intensivstationen pro Bevölkerung wie
Deutschland gehabt, würde das viel ändern. Statt nur 5.000 Betten zu Beginn
der Krise hätten wir 10.000. Weil dem nicht so ist, müssen wir
organisatorisch mit einer Knappheit auskommen.“
Obwohl in den Krankenhäusern noch in aller Eile zusätzliche Covid-Plätze
geschaffen werden, stößt nach dem Elsass auch die Region Paris demnächst an
die Grenzen der Aufnahmekapazitäten in den Intensivstationen mit
Beatmungsgeräten. Die Gesundheitsbehörden haben begonnen, mit Sonderflügen
oder in einem speziell ausgestatteten TGV-Zug aus den total überforderten
Abteilungen im Elsass PatientInnen in den von der Epidemie weniger
betroffenen Südwesten zu transportieren. Der Aufwand ist beeindruckend.
## Eine Frage des Menschenverstands
„Anstatt 150 medizinisch qualifizierte Personen während 24 Stunden
aufzubieten, um 20 Patienten mit der Bahn zu transportieren – was an sich
bereits große Risiken birgt –, wäre es einfacher und sinnvoller,
Beatmungsgeräte an die Orte zu bringen, wo sie benötigt werden und wo, wie
in Paris, dafür Plätze geschaffen werden können. Das ist eine Frage des
gesunden Menschenverstands!“, kritisiert Prudhomme vor seinem Arbeitsort im
Pariser Vorort Bobigny.
Diese Alternative illustriert er mit einem Beispiel: „Wenige Kilometer von
uns entfernt steht ein Krankenhaus, das geschlossen wird. Zum Glück waren
dort die Beatmungsgeräte noch nicht verkauft worden. Wir konnten sie in die
zusätzlichen Plätze der Intensivstation bringen. In mehreren Krankenhäusern
konnten so zusätzliche Behandlungskapazitäten geschaffen werden.“
Zwischen zwei sehr ermüdenden Nachtdiensten schildert der Krankenpfleger
Pierre Schwob die Situation in seiner Notfallabteilung im Hôpital Beaujon
im Norden von Paris. Er war im letzten Jahr ein Wortführer des Komitees
„Inter-Urgences“, das die landesweite Streikbewegung im öffentlichen
Gesundheitswesen koordiniert hat.
Obwohl die [2][Forderungen des protestierenden Pflegepersonals] längst
nicht erfüllt wurden, sagt Schwob angesichts der aktuellen Lage, diese
Streiks seien „eine nützliche Warnung“ gewesen. „Was wäre, wenn wir nic…
Alarm geschlagen hätten? Zumindest wurde der Öffentlichkeit und den
Behörden bewusst, wie schlimm die Situation bereits im Normalfall war.“
## Bis an den Rand der Erschöpfung
Durch neoliberale Sparmaßnahmen habe Frankreich in zwanzig Jahren die
[3][Aufnahmekapazitäten um 100.000 Betten verringert], während sich der
Bedarf praktisch verdoppelt habe. Die Arbeit im Krankenhaus wurde so immer
weniger attraktiv, das erklärt den permanenten Personalmangel. Jetzt wächst
die Zahl von Covid-PatientInnen und die Lücken werden mit Auszubildenden
und MedizinstudentInnen ohne Abschluss gefüllt, MedizinerInnen müssen aus
anderen Fachbereichen „angelernt“ werden.
Dass Präsident Emmanuel Macron bei einem Abstecher nach Mülhausen zur
Einweihung eines Militärlazaretts dem Krankenhauspersonal eine Geldprämie
versprochen hat, findet er wie Audibert eher nebensächlich: „Urlaubs- und
Erholungstage sind gestrichen. Wir arbeiten bis an den Rand der
Erschöpfung. Aber wir machen das doch nicht fürs Geld!“
Aufgrund seiner Erfahrung als Pfleger in einer Abteilung, in der Todesfälle
nicht selten sind, befürchtet er aber eine Demoralisierung. „Nach der
Hitzewelle im Sommer 2003 (die in Frankreich rund 15.000 vorzeitige
Todesfälle bewirkt hatte, Anm. der Redaktion), haben viele Kollegen
aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse den Dienst im Krankenhaus
verlassen.“
Schon jetzt mehren sich Ausfälle wegen Sars-CoV-2-Infektionen. In den 39
Krankenhäusern des öffentlichen Gesundheitswesens der Region Paris waren am
27. März insgesamt 1.332 Personen von insgesamt rund 100.000 Beschäftigten
aus allen Aufgabenbereichen (technisches Personal und Labors, Logistik und
Reinigung, Pflegepersonal und Medizin) wegen positiver Sars-CoV-2-Tests als
Infizierte registriert. Die Kurve der Statistik belegt, dass ihre Zahl nach
dem 15. März parallel zur generellen Zunahme der Covid-Erkrankten stark
gestiegen ist.
Der Höhepunkt der Kurve, ab dem eine Verlangsamung und ein Abflauen erhofft
wird, dürfte in Paris erst in einer Woche erreicht werden. „Bis dann müssen
wir durchhalten, und dazu muss die Bevölkerung unbedingt so weit nur
möglich daheim bleiben“, sagt Pierre Schwob.
31 Mar 2020
## LINKS
[1] /Corona-Ausgangssperre-in-Frankreich/!5672039
[2] /Streik-in-Frankreichs-Krankenhaeusern/!5625073
[3] /Gesundheitssystem-in-Frankreich/!5643128
## AUTOREN
Rudolf Balmer
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