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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Katastrophenmedizin
> Die Austeritätspolitik hat uns Krankenhäuser beschert, in denen Ärzte
> heute wie im Krieg entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben
> muss.
Bild: Hochgeschwindigkeitszüge, die wie Krankenhäuser und Militärflugzeuge a…
Bei einem Zaubertrick besteht die Kunst darin, die Aufmerksamkeit des
Publikums abzulenken, damit es nicht merkt, was tatsächlich vor seinen
Augen geschieht. Bei der [1][Corona-Epidemie] liegt die Magie in einem
Diagramm mit zwei Kurven, das auf Fernsehkanälen in der ganzen Welt zu
sehen ist. Die x-Achse gibt die Zeit an, die y-Achse die Zahl der schweren
Erkrankungen.
Die erste Kurve geht steil nach oben, sie zeigt den Verlauf der Epidemie,
wenn nichts unternommen wird. Diese Kurve überschreitet sehr schnell die
horizontale Linie, mit der die maximale Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser
angegeben ist. Die zweite Kurve zeigt die Entwicklung, wenn Maßnahmen wie
Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus
begrenzen. Sie ist leicht gewölbt, wie ein Schildkrötenpanzer, und bleibt
unter der horizontalen Kapazitätsgrenze.
Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm macht deutlich, wie dringend
notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die
Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in
der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches
Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten
darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese „kritische
Schwelle“ wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis
politischer Entscheidungen.
Wenn man heute „die Kurve abflachen“ muss, liegt das auch daran, dass die
seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und
das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat. 1980 gab es in
Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute
noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019
vorgeschlagen, sie „bed managers“ zu überlassen, die das rare Gut zuteilen
sollten.
## Krankenhäuser sind keine Autofabriken
In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016.1 Nach
Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für
„schwere Fälle“ 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es
nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus
sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das
Resultat ist, dass die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie,
Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute
als „Katastrophenmedizin“ bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden
Ressourcen „könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur
Intensivversorgung festzulegen“.2 Auch im Nordosten von Frankreich spricht
man mittlerweile in ähnlicher Weise von „Kriegsmedizin“.
Die Coronakrise hat also nicht nur mit der Gefährlichkeit der Krankheit
Covid-19 zu tun, sondern auch mit dem organisierten Niedergang des
Gesundheitssystems. Doch statt diese Tatsache kritisch zu hinterfragen,
laden die großen Medien – seit jeher die Echokammern der Sparpolitik –
Leser und Zuschauer zu einer atemberaubenden philosophischen Diskussion
ein: Wie entscheiden wir, wen wir retten und wen wir sterben lassen?
Diesmal wird es jedoch schwierig werden, die politische Frage hinter einem
ethischen Dilemma zu verstecken. Denn die Corona-Epidemie führt allen vor
Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man
vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen,
um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik
die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.3
Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie
unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für
Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu
folgendes Paradox: „Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von
Covid-19 in China hat vermutlich zwanzigmal so viele Leben gerettet, wie
durch den Virus bisher verloren gingen. Das heißt nicht, dass Pandemien
gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme
sind, auch ohne Coronavirus.“4
Der Höhepunkt der Absurditäten in der Corona-Krise liegt dabei nicht einmal
darin, dass es durch die Verlagerung von Produktionsketten einen Mangel an
Medikamenten geben könnte, und auch nicht in der Verbohrtheit, mit der die
Finanzmärkte Italien bestraften, als die Regierung die ersten Maßnahmen
ergriff. Nein, den Höhepunkt finden wir in den Krankenhäusern selbst: Die
Mitte der 2000er Jahre in Frankreich eingeführte „Gebührenberechnung nach
Tätigkeit“ (tarification à l’activité, T2A) kalkuliert die Finanzierung …
Einrichtungen anhand des Behandlungsaufwands für jeden einzelnen Patienten.
Die Leistungen werden wie im Supermarkt einzeln abgerechnet.
## Pflege als Ware
Würde nun dieses [2][aus den USA importierte Prinzip der Pflege als Ware]
während der aktuellen Krise angewendet, wären die Krankenhäuser, die die
Schwerkranken aufnehmen, bald ruiniert. Denn der kritische Verlauf von
Covid-19 erfordert vor allem eine Beatmung, die Zeit kostet, aber in der
Tariftabelle weniger einbringt als diverse Untersuchungen und Eingriffe,
die wegen der Epidemie verschoben wurden.
Einbußen der Kliniken durch die Pandemie bestätigte etwa der deutsche
[3][Virusforscher Christian Drosten] in seinem populären Podcast. Drosten
sagte am 30. März im NDR: „Wir haben Betten freigeräumt. Das macht
natürlich auch im Krankenhaus massive finanzielle Verluste. Auch die
Medizin ist ein Wirtschaftszweig, und die Verluste sind extrem, die da
jeden Tag entstehen.“
Für kurze Zeit schien es so, als sprenge das Virus die sozialen Grenzen.
Seine Ausbreitung führte zu Maßnahmen, die wir uns jedenfalls in
Friedenszeiten nie hätten vorstellen können. War nicht der
Wall-Street-Banker plötzlich ebenso bedroht wie der chinesische
Wanderarbeiter? Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise
vor allem das Geld den Unterschied macht.
Auf der einen Seite machen die Gutbetuchten es sich in ihren Villen mit dem
Homeoffice-Laptop neben dem Pool gemütlich. Und auf der anderen Seite sind
die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte,
Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das
den Begüterten erspart bleibt. Eltern sitzen im Homeoffice in ihrer kleinen
Wohnung, durch die das Geschrei der Kinder schallt, Wohnungslose würden
gern in einem Zuhause bleiben.
## In Pestzeiten flohen die Reichen aufs Land
Der Historiker Jean Delumeau, Autor einer Geschichte der „Angst im
Abendland“, stieß in seiner Untersuchung über „typische kollektive
Verhaltensweisen in Pestzeiten“5 auf eine Konstante: „Wenn die Gefahr der
Ansteckung auftaucht, versucht man zunächst, die Augen davor zu
verschließen.“ Und Heinrich Heine notierte nach der offiziellen Ankündigung
der Choleraepidemie 1832 in Paris: „Die Pariser tummelten sich umso
lustiger auf den Boulevards“, als „das Wetter sonnig und lieblich war“.6
Als Nächstes flohen dann die Reichen aufs Land, und die Regierung ordnete
für die Stadt Quarantäne an.
„Die Unsicherheit entsteht nicht nur aus dem Auftreten der Krankheit“,
erklärt Delumeau, „sondern ebenso aus einer Auflösung des Alltags und der
gewohnten Umgebung. Alles ist anders geworden.“ Genau diese Erfahrung
machen heute die Einwohner von Wuhan, Rom, Madrid oder Paris.
Die großen Pestepidemien zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wurden oft
als Zeichen des Jüngsten Gerichts, des Zorns eines rächenden Gottes
gedeutet. Damals wandten sich die Menschen entweder der Religion zu und
flehten um Gnade oder sie suchten Schuldige in der Nachbarschaft. Juden und
Frauen waren beliebte Sündenböcke. Im Europa des 21. Jahrhunderts trifft
die Corona-Epidemie säkularisierte Gesellschaften, die seit der Finanzkrise
von 2008 bei Themen wie Klimaverschlechterung, Politik, Finanzen,
Demografie oder Migration in unterschiedlichem Ausmaß unter einem Gefühl
des Kontrollverlusts leiden.
In dieser Endzeitstimmung, in der wieder Bilder der brennenden Kathedrale
von Notre-Dame kursieren und über den kommenden Zusammenbruch geredet wird,
richten sich alle Blicke auf die Regierung. Der Staat hat das Problem durch
die langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems verschärft – und ist
dennoch die einzige Instanz, die eine Antwort auf die Epidemie finden kann.
Aber wie weit kann man dabei gehen?
## Drohnen mit Kameras und Megafonen
Noch im Februar löste die mehrwöchige Isolierung von 56 Millionen
Einwohnern der chinesischen Provinz Hubei, die Stilllegung der Fabriken
oder die Ermahnung der Bürger durch Drohnen mit Kameras und Megafonen in
Europa spöttische Reaktionen aus oder Kritik an der eisernen Faust der
Kommunistischen Partei.
„Aus der chinesischen Erfahrung lassen sich keine Lehren hinsichtlich der
möglichen Dauer der Epidemie ziehen“, erklärte die Zeitschrift L’Express
noch am 5. März. Sie sei dort durch „drastische Quarantänemaßnahmen
verlangsamt worden, die in unseren Demokratien wahrscheinlich nicht
anwendbar sind“. Doch kurze Zeit später war klar: Im Kampf gegen das Virus,
das sich nicht um die Überlegenheit „unserer“ Werte schert, kommt man nicht
umhin, zentralisierten Entscheidungen den Vorrang zu geben gegenüber den
Freiheiten des Wirtschaftsliberalismus.
WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, es sei möglich, die
Epidemie zu besiegen, aber nur mit einem kollektiven, koordinierten und
umfassenden Herangehen und unter Einsatz aller Kräfte.7 Kollektiv und
staatlich koordiniert: Das ist das Gegenteil von Markt. In wenigen Tagen
vollführen die bis dato unangreifbaren Experten, die uns die Welt erklären,
eine 180-Grad-Wendung: „Alles ist anders geworden.“ Begriffe wie
Souveränität, Grenze, Einschränkung und sogar staatliche Hilfen, die seit
einem halben Jahrhundert im öffentlichen Diskurs stets in die populistische
Ecke gestellt oder als „nordkoreanisch“ bezeichnet wurden, erscheinen
plötzlich als Lösungen in einer bis dato vom Kult der Geld- und Warenströme
und von der Sparpolitik regierten Welt.
Von Panik getrieben, entdecken selbst die Mediengurus plötzlich, was sie
eifrig ignoriert hatten: „Kann man nicht auch sagen, dass uns diese Krise
im Grunde auffordert, ganz neu über Aspekte der Globalisierung, unsere
Abhängigkeit von China, Freihandel und Flugverkehr nachzudenken?“, fragte
am 9. März auf France Inter der Journalist Nicolas Demorand, der sein
Mikrofon seit Jahren den Kritikern des Protektionismus überlässt.
## Man bezahlt Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt
Die Marktlogik muss den Verstand schon gründlich deformiert haben, wenn die
Mächtigen erst nach dem Ausbruch einer mörderischen Pandemie den einfachen
Wahrheiten Gehör schenken, die Mediziner seit Jahrzehnten wiederholen: „Ja,
wir brauchen eine staatliche Krankenhausstruktur, die ständig verfügbare
Betten hat“, betonen die Mediziner André Grimaldi, Anne Gervais Hasenknopf
und Olivier Milleron.8 „Das neue Coronavirus hat das Verdienst, uns an
Selbstverständlichkeiten zu erinnern: Man bezahlt die Feuerwehrleute nicht
nur, wenn es brennt. Man möchte, dass sie in ihrer Wache bereitstehen, auch
wenn sie nur ihre Fahrzeuge polieren, während sie auf den Alarm warten.“
Von der Krise im Jahr 1929 bis zur neoliberalen Offensive in den 1970ern
hat sich der Kapitalismus erhalten und erneuert, indem er seine
Institutionen, oft widerwillig, der Verpflichtung unterwarf, vorauszusehen,
was ohne Warnung hereinbricht: Brände, Krankheiten, Naturkatastrophen,
Finanzkrisen. Um das Unvorhergesehene zu planen, musste man mit der
Marktlogik brechen, die allein nach Angebot und Nachfrage einen Preis
festlegt, das Unwahrscheinliche ignoriert und die Zukunft mit Formeln
berechnet, in denen die Gesellschaft nicht vorkommt.
Diese Blindheit der Standardökonomie, die an den Börsen ins Extrem
getrieben wird, bemerkte auch der ehemalige Broker und Statistiker Nassim
Nicholas Taleb. In seinem Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst
unwahrscheinlicher Ereignisse“, das wenige Monate vor der Finanzkrise von
2008 erschien, schrieb er über die Prognostiker: „Das Expertenproblem
besteht darin, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie nicht wissen.“9
Taleb bezeichnete es als absurd, das Unvorhergesehene zu ignorieren in
einer Welt, die durch die Vervielfachung unerwarteter Ereignisse – eben die
„schwarzen Schwäne“ – geprägt sei.
Ende März 2020 kann jeder, der an seinem Fenster die Stille der
eingesperrten Stadt dröhnen hört, über die Verbissenheit nachdenken, mit
der sich der Staat nicht nur der Intensivbetten beraubt hat, sondern auch
seiner Planungsinstrumente, die heute von ein paar globalen Versicherungs-
und Rückversicherungskonzernen monopolisiert werden.10
## Weiterschauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung
Kann die Zäsur dieser Pandemie die Entwicklung umdrehen? Um das Mögliche
und das Zufällige wieder in die Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge
aufzunehmen, um weiter zu schauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung und
eine ökologische Planung vorzunehmen, müsste man den größten Teil der
Dienste verstaatlichen, die für das Leben der modernen Gesellschaft
unverzichtbar sind, von der Straßenreinigung über die digitalen Netze bis
zum Gesundheitswesen.
Die Sichtweise des Historikers legt nahe, dass eine Veränderung der
Verhältnisse, der Entwicklung, des Nachdenkens über das kollektive Leben
und die Gleichheit unter normalen Umständen unmöglich ist. „Im Laufe der
Geschichte“, schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel,
„haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit
verringert: Massenmobilisierungskriege, Revolutionen, der Bankrott von
Staaten und verheerende Pandemien.“11 Sind wir an diesem Punkt angelangt?
Andererseits hat das Wirtschaftssystem im Verlauf seiner Geschichte eine
außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die immer häufiger werdenden Stöße zu
parieren, die seine Irrationalität verursacht. So setzen sich auch bei
den heftigsten Erschütterungen in der Regel die Verteidiger des Status quo
durch. Sie nutzen die allgemeine Fassungslosigkeit aus, um die Macht des
Marktes noch weiter auszudehnen.
Der Katastrophen-Kapitalismus, den Naomi Klein kurz vor der großen
Rezession von 2008 analysierte, schert sich nicht um die Erschöpfung der
Rohstoffe und der sozialen Sicherungssysteme, die die Krise dämpfen
könnten. In einer Anwandlung von Optimismus schrieb die kanadische
Journalistin: „Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression.
Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise – und zwar schnell.“12
Diesen Eindruck wünschte wohl auch Präsident Macron in seiner Erklärung vom
12. März zu erwecken.
## Entwicklungsmodell offenbart seine Tücken
Er wolle, „das Entwicklungsmodell, dem unsere Welt seit Jahrzehnten folgt
und das jetzt seine Tücken offenbart, und die Schwächen unserer Demokratie
hinterfragen“, sagte Macron. Bereits heute offenbare diese Pandemie, dass
ein kostenloses Gesundheitswesen ohne Unterscheidung nach Einkommen,
Karriere oder Beruf sowie unser Wohlfahrtsstaat kein bloßer Kostenfaktor
sei, sondern „ein unverzichtbarer Trumpf, wenn das Schicksal zuschlägt“.
Die Pandemie zeige, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die außerhalb
der Marktgesetze stehen müssten. „Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere
Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in
fremde Hände geben. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen.“
Drei Tage später verschob er die Rentenreform und die Reform des
Arbeitslosengelds und verkündete Maßnahmen, die bisher als unmöglich
galten: die Einschränkung von Entlassungen und die Aufgabe der
Haushaltsbeschränkungen. Und die Umstände könnten diesen Wandel noch
verstärken: Die Obsession des Präsidenten etwa, die Ersparnisse und
Beamtenpensionen an den Aktienmärkten zu investieren, wirkt vor dem
Hintergrund des Absturzes der Börsenkurse nicht gerade wie ein visionärer
Geniestreich.
Das Arbeitsgesetz aussetzen, die Bewegungsfreiheit einschränken,
Unternehmen mit vollen Händen unterstützen und sie von Sozialabgaben
freistellen, auf denen das Gesundheitssystem beruht – diese Maßnahmen
allerdings stellen keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar.
Der massive Transfer von öffentlichen Geldern in den Privatsektor erinnert
an die staatliche Bankenrettung von 2008. Die Rechnung kam dann in Form der
Sparpolitik, von der vor allem die Angestellten und die öffentlichen
Dienstleistungen betroffen waren. Weniger Krankenhausbetten, um die Banken
wieder flottzumachen: das war die Devise.
Auch deshalb drängte sich bei Macrons Rede die Erinnerung an einen
Septembertag des Jahres 2008 auf. Damals, kurz nach dem Crash von Lehman
Brothers, trat der damalige Präsident Sarkozy vor die Kameras und
verkündete seinen verblüfften Anhängern feierlich: „Eine bestimmte
Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines
Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und
dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer
recht haben, war eine irrsinnige Idee.“13 Das hinderte ihn allerdings nicht
daran, auf den Weg des gewöhnlichen Wahnsinns zurückzukehren, sobald das
Unwetter vorüber war.
1 Quelle OECD.
2 „Raccomandazioni di etica clinica per l’ammissione a trattamenti
intensivi e per la loro sospensione“, Siaarti, Rom, 6. März 2020.
3 Bruno Canard, „J’ai pensé que vous avions momentanément perdu la partie…
Rede am Ende der Demonstration vom 5. März 2020, nachzulesen unter
academia.hypotheses.org.
4 Twitter, 9. März 2020.
5 Jean Delumeau, „Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste in
Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“, Reinbek (Rowohlt) 1998.
6 Heinrich Heine, „Französische Zustände“, online frei verfügbar bei
Zeno.org.
7 New York Times, 11. März 2020.
8 Le Monde, 11. März 2020.
9 Nassim Nicholas Taleb, „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst
unwahrscheinlicher Ereignisse“, München (Hanser) 2008.
10 Razmig Keucheyan, „La Nature est un champ de bataille. Essai d’écologie
politique“, Paris (La Découverte) 2014.
11 Walter Scheidel, „Nach dem Krieg sind alle gleich: Eine Geschichte der
Ungleichheit“, Darmstadt (Konrad Theiss Verlag) 2018.
12 Naomi Klein, „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des
Katastrophen-Kapitalismus“, Frankfurt a. M. (Fischer) 2009.
13 Rede in Toulon am 25. September 2008.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
8 Apr 2020
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