Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Suchtmediziner über Coronakrise: „Wie der Feldmarschall“
> 79.400 Menschen in Deutschland sind in einer Substitutionsbehandlung.
> Mediziner:innen und Ambulanzen geraten an ihre Grenzen.
Bild: Eine Krisensituation kann Menschen dazu bringen, in alte Suchtmuster zu v…
taz: Herr Lyonn, was hat sich in Ihrer Drogenambulanz seit der Coronakrise
geändert?
Norbert Lyonn: Wir wurden über die Kassenärztlichen Vereinigungen
informiert, dass wir Patientinnen und Patienten in einigen Fällen
großzügigere Take-Home-Verordnungen ausstellen können. Das bedeutet, dass
wir beispielsweise Menschen, denen wir bisher nur dreimal in der Woche eine
Ration Methadon geben durften, nun ein Rezept für eine Woche ausstellen
können. Das soll einerseits dazu führen, dass unsere Ambulanz entlastet
wird, und andererseits dazu, dass sich nicht mehr so viele Patienten auf
den Weg zu uns machen müssen. Viele Drogensüchtige haben nämlich durch den
langjährigen Drogenkonsum ein geschwächtes Immunsystem und gehören zur
Corona-Risikogruppe.
Was sich auch geändert hat: Die Obergrenzen für Patientinnen und Patienten
sind aktuell weggefallen, wir dürfen also mehr Menschen in der Ambulanz
aufnehmen. Außerdem haben wir unsere Dienstzeit zur Substitutionsvergabe
verlängert, haben einen Security-Mann vor der Tür und lassen nur noch fünf
Patientinnen und Patienten gleichzeitig in die Ambulanz.
Wie entscheiden Sie darüber, wem Sie eine Take-Home-Verordnung geben können
und wem nicht?
Wir sehen viele der Patientinnen und Patienten wöchentlich, manche sogar
täglich, und versuchen einzuschätzen, wessen Situation stabil genug für
eine größere Verordnung ist. Manche müssen weiterhin jeden Tag kommen, weil
der Beikonsum mit Heroin, Kokain oder Alkohol einfach zu chaotisch ist.
Aufgrund der aktuellen Situation geben wir aber auch manchen Patientinnen
und Patienten mit geringem Beikonsum eine Take-Home-Verodnung, die
normalerweise keine bekommen würden. Es ist also immer eine individuelle
Entscheidung.
Was bedeuten diese größeren Take-Home-Verordnungen für die Behandlung?
Ich befürchte, dass viele meiner Patientinnen und Patienten während der
Krise wieder mehr konsumieren werden. Wir hatten, seit die neue Regelung
aktiviert wurde, schon Menschen, die in die Ambulanz gekommen sind und
gesagt haben: „Ich hatte die Nase so voll, ich musste mich zumachen!“ Eine
Krisensituation kann Menschen dazu bringen, in alte Suchtmuster zu
verfallen, die wir in der Behandlung mühsam versuchen zu verändern. Die
Menschen haben Angst und sind unsicher, was dazu führt, dass sich ihr
Konsumrisiko vergrößert.
Können diese größeren Rationen auch andere negative Folgen mit sich
bringen?
Ja, es besteht das Risiko, dass die Take-Home-Verordnungen nun in größerem
Stil auf dem Schwarzmarkt landen und verkauft werden. Es sind seit Beginn
der Krise schon einige Patientinnen und Patienten in die Ambulanz gekommen,
die ihre Rationen angeblich verloren haben. Denen geben wir dann zwar ein
Substitut vor Ort, die Take-Home-Verordnung ersetzen wir aber nicht. Ein
Problem dabei ist, dass sich viele Menschen, die diese Substitutionsmittel
illegal in der Szene kaufen, nicht mit der Dosierung auskennen – und das
kann dann schlimme Folgen haben.
Wie reagieren Ihre Patientinnen und Patienten auf die Veränderungen?
Die meisten von ihnen sind kooperativ und dankbar. Einige versuchen auch
Druck auf uns auszuüben, um eine Take-Home-Verordnung zu bekommen, obwohl
ihre Lebenssituation nicht stabil genug dafür ist. Viele der suchtkranken
Menschen, die noch vor der Krise keine psychosoziale Behandlung wollten und
alles getan haben, dieser zu entgehen, fragen in der jetzigen Situation
nach unserem Betreuungsangebot. Wir können diesen Bedürfnissen aber gerade
nicht gerecht werden.
Der Anspruch, unterstützt zu werden, wird von einigen deutlich formuliert –
diese Patientinnen und Patienten reagieren mitunter wütend und beschimpfen
uns sogar. Viele dieser Menschen leiden unter existenziellen Problemen und
haben oft kein Handy, auf dem unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter
sie erreichen können. Unsere Aufgabe besteht aktuell darin, den
Patientinnen und Patienten zu sagen, was wir leisten können, oder besser
gesagt: was wir gerade nicht leisten können. Manche Menschen sind dem
System hilflos ausgeliefert.
Entlasten die vergrößerten Take-Home-Verordnungen Ihre Ambulanz?
Nein, wir haben gerade mehr Patientinnen und Patienten. Seit der
Coronakrise haben manche Angst, sich beim Kontakt mit ihrem Dealer
anzustecken, und kommen deshalb zu uns, um substituiert zu werden. Außerdem
werden seit der Coronakrise viele Menschen frühzeitig aus ihrer Haft
entlassen – und viele von denen brauchen Methadon oder ein anderes
Substitutionsmittel.
Diese Menschen sind oft wohnungslos, ohne Versicherung und sozial nicht
eingebunden. Sie haben also einen großen Bedarf für sozialarbeiterische
Angebote, den wir nicht erfüllen können. Diese Angebote wurden nämlich
stark reduziert und finden hauptsächlich telefonisch statt. Noch dazu
kommt: Da unsere stabilen Patientinnen und Patienten zu Hause bleiben, ist
der Anteil an Suchtkranken in unserer Ambulanz, die chaotische
Lebensverhältnisse haben, aktuell viel größer als sonst.
Wie schützen Sie und Ihr Team sich in der Ambulanz?
Wir geraten alle an unsere Grenzen und sind in einer prekären Situation,
[1][weil wir keine Schutzkleidung haben]. Mein Team trägt seit zwei Wochen
Gesichtsmasken, die eigentlich für einen Einsatz von vier bis fünf Stunden
vorgesehen sind. Das ist dramatisch. Ich verbringe einen großen Teil meiner
Zeit damit zu versuchen, Masken zu organisieren, und greife dabei auf all
meine Ressourcen zurück. Menschen aus meinem Bekanntenkreis haben bereits
angefangen, Masken für unsere Praxis zu nähen. Ich weiß nicht, woran es
liegt, aber wir werden weder vom Gesundheitsamt noch von der
Kassenärztlichen Vereinigung ausreichend unterstützt. Ich fühle mich im
Stich gelassen.
Wir können nur hoffen, dass wir gesund bleiben. Das Team in unserer
Ambulanz ist nicht groß genug, um zwei Gruppen zu bilden – damit im Notfall
ein Team einspringen kann, falls das andere krank wird. Ich mache mir große
Sorgen darüber, dass aufgrund eines Coronafalls eine größere Praxis in
Berlin geschlossen werden muss – und alle Patientinnen und Patienten
verteilt werden müssen. Ich weiß nämlich nicht, was dann mit diesen
Menschen passieren soll.
Was würde denn konkret passieren, wenn Ihre Ambulanz schließen müsste?
Wir würden entweder weiterarbeiten, ohne in Quarantäne zu gehen, oder
versuchen, aus dem Homeoffice unsere 330 Patientinnen und Patienten an
andere Praxen zu vermitteln. Das würde [2][diese Praxen aber überfordern,
denn viele sind aktuell schon an ihren Grenzen] und haben keine
ausreichenden Schutzmaterialien. Im schlimmsten Fall könnten die
Patientinnen und Patienten nicht mehr mit ihrem Substitutionsmittel
versorgt werden.
Wie geht es Ihnen in dieser Ausnahmesituation während der Arbeit?
Es ist sehr deprimierend. Ich arbeite gerne mit meinen Patientinnen und
Patienten und habe sonst immer lange Gespräche. Die Arbeit in einer
Drogenambulanz ist auch sonst kein Job, bei dem man schnelle Erfolge sehen
kann. Das hat sich nun verschlechtert. Wir können aktuell nur das Nötigste
tun und deshalb keine richtigen therapeutischen Interventionen durchführen.
Unsere Einrichtung ist für viele Patientinnen und Patienten oft die einzige
Anlaufstelle. Es ist für die Gesundheit dieser Menschen nicht förderlich,
wenn der Kontakt verringert wird. Wir sind aktuell fast wie eine
Vergabemaschine und ich komme mir vor wie der Feldmarschall. Ich weiß
nicht, wo das hinführen soll.
15 Apr 2020
## LINKS
[1] /Katastrophenforscher-ueber-Corona/!5677782
[2] /Ambulante-Dienste-schwer-gefordert/!5675260
## AUTOREN
Steven Meyer
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Drogen
Methadon
Medizin
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Emmanuel Macron
## ARTIKEL ZUM THEMA
Corona-Lockerungen in Deutschland: Riskanter Wettstreit gestoppt
Bundeskanzlerin Merkel setzt auf ein einheitliches Vorgehen gegen Corona.
Eine schnelle Rückkehr zur Normalität lehnt sie ab. Das ist richtig.
Ambulante Dienste schwer gefordert: SOS bei Einzelfallhilfe
Experten betonen die Wichtigkeit ambulanter Sozial- und Pflegedienste in
der Corona-Krise. Ohne sie könnten Krankenhäuser sonst überlaufen.
Drogensüchtige in Coronakrise: Die Hotels wären frei
Für Drogenabhängige ist das Coronavirus lebensbedrohlich.
Hilfseinrichtungen versuchen zu verhindern, dass sich die Lage
verschlechtert.
Aus Le Monde diplomatique: Katastrophenmedizin
Die Austeritätspolitik hat uns Krankenhäuser beschert, in denen Ärzte heute
wie im Krieg entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.