# taz.de -- Transatlantische Krise: Europa erfindet sich neu | |
> Es geht nicht nur um Geld. Wir können der innovative und kulturelle | |
> Magnet der Welt sein. Das ist die Stärke demokratischer Gesellschaften. | |
Bild: Die Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten nochmal gerade gerückt, bevor sie ge… | |
In diesen Tagen beginnt eine neue europäische Epoche. Seit dem Zweiten | |
Weltkrieg wurde die Entwicklung unseres freiheitlichen, prosperierenden und | |
friedlichen Europas von den Vereinigten Staaten garantiert. Damit ist es | |
jetzt vorbei. Während Russland Krieg gegen die europäische Friedensordnung | |
führt, greift [1][die amerikanische Regierung] die europäische Werteordnung | |
an. Wir können hoffen, dass die USA zu einem Wertebündnis mit Europa | |
zurückkehren. | |
Aber wir müssen handeln in der Annahme, dass dies nicht der Fall sein wird. | |
Einfach wird dieser Weg nicht werden, aber wir können ihn gemeinsam | |
bewältigen. Europa hat alle Voraussetzungen, um sich in dieser Welt zu | |
behaupten. Und Europa ist nicht allein. Die EU ist die zweitgrößte | |
Volkswirtschaft der Welt, mit 450 Millionen Einwohnern, der | |
zweitwichtigsten Währung der Welt und einer großen sozialen und kulturellen | |
Anziehungskraft. Mit dieser Stärke garantiert die EU die Unabhängigkeit | |
ihrer Mitgliedstaaten. | |
Das sollte in diesen Zeiten auch Ländern wie [2][Ungarn] oder der Slowakei | |
zu denken geben. Sie müssen sich fragen, ob sie als gleichberechtigte | |
Partner Teil einer regelbasierten Gemeinschaft sein oder von Russland | |
dominiert beziehungsweise von Washington über den Tisch gezogen werden | |
wollen. Gleiches gilt für die große Mehrheit der Länder weltweit, mit denen | |
Europa jetzt verlässliche Partnerschaften eingehen kann – auf Augenhöhe | |
statt mit Erpressermethoden. | |
Die [3][USA, Russland oder China] mögen Politik als Nullsummenspiel | |
betreiben, aber es gibt immer noch eine globale Mehrheit für | |
Partnerschaften und belastbare Kooperationen. Freiwillige Vereinbarungen | |
zwischen Staaten bringen beide Seiten voran, sei es bei Klimaabkommen, über | |
Forschungskooperationen bis hin zu Sicherheitspartnerschaften. Das 20. | |
Jahrhundert ist eine Erfolgsgeschichte genau dieses Prinzips. Deshalb leben | |
wir in Europa als unabhängige Staaten in Frieden, Freiheit und Wohlstand | |
zusammen. Dafür lohnt es sich selbstbewusst einzutreten. | |
## Abschied von alten Reflexen nehmen | |
Die Grundlage dafür ist militärische, wirtschaftliche und politische | |
Stärke. Wir brauchen eine wesentlich robustere [4][Rüstungs- und | |
Verteidigungspolitik], gerade auch mit Blick auf die Ukraine. Denn die | |
Ukraine ist die Frontlinie für die Verteidigung der Freiheit und | |
Unabhängigkeit Europas. Wir brauchen neue Impulse für Wachstum und | |
Innovation, um unsere Wirtschaft zu stärken. Und wir brauchen mutige | |
politische Führung, die für Interessenausgleiche in Europa sorgt und | |
Partnerschaften weltweit aufbaut und festigt. | |
Wir in Deutschland spielen dabei die wichtigste Rolle. Wir sind das | |
stärkste Land in der EU, und haben entscheidenden Einfluss auf den Erfolg | |
Europas und damit auf unser eigenes Schicksal. Der finanzielle Spielraum | |
dafür wird gerade geschaffen, und das ist gut so. Denn wenn wir jetzt nicht | |
bereit sind, in die Zukunft unserer Kinder zu investieren, gefährden wir | |
die Grundlagen ihrer Zukunft in Freiheit und Frieden. Geld alleine wird | |
allerdings nicht reichen. | |
Es geht auch darum, ob uns ein gesellschaftlicher Aufbruch und ein | |
umfassender Modernisierungs- und Innovationsschub gelingen werden. Wir sind | |
ein Land und ein Kontinent der Dichter und Denker. Nur mit Kreativität, | |
Innovation und Schaffenskraft können wir uns behaupten. Sorgen wir dafür, | |
dass die klügsten Köpfe und alle Menschen, die wirklich etwas bewegen | |
wollen, ihre Zukunft in Europa sehen und nicht in einem totalitären China | |
oder einem instabilen Amerika. | |
Der Abschottung der Nationalisten dieser Welt können wir ein Europa | |
entgegenhalten, das „open for business“ ist. Wir können der innovative und | |
kulturelle Magnet der Welt sein. Denn das ist die Stärke demokratischer und | |
offener Gesellschaften. Damit dies gelingt, braucht es Mut zur Veränderung | |
und den Willen, hart dafür zu arbeiten. So wie wir uns als Gesellschaft von | |
vielen Gewissheiten verabschieden müssen, sollten auch die demokratischen | |
Parteien alte Reflexe überdenken. | |
## Auf gesellschaftlichen Zusammenhalt setzen | |
Die Union könnte beispielsweise akzeptieren, dass Migration nicht in erster | |
Linie eine Bedrohung ist, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir uns als | |
Innovations- und Industriestandort behaupten können. Die SPD könnte ein | |
offeneres Ohr für die Belange unserer östlichen Nachbarstaaten entwickeln | |
und dafür, dass der Staat nicht die Antwort auf alle Probleme ist. Die | |
Linkspartei könnte sich von sicherheitspolitischen Illusionen ebenso | |
verabschieden wie von alten antieuropäischen Impulsen. | |
Und die Grünen könnten die Chancen mancher technologischer Innovationen | |
stärker in den Blick nehmen als deren Risiken. Jetzt ist die Gelegenheit, | |
unsere politischen Diskurse den neuen Realitäten anzupassen. Nicht zuletzt | |
brauchen wir nun einen intensiven gesellschaftlichen Dialog darüber, was | |
uns als Wertegemeinschaft ausmacht und was jede und jeder zur Verteidigung | |
und Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft beitragen kann. | |
Als Bürgerinnen und Bürger sind wir weder Konsumenten staatlichen Handelns | |
noch hilflose Objekte der Zeitgeschichte. Wir sind freie Menschen, die mit | |
unseren Ideen und unserer Tatkraft helfen können, Deutschland und Europa | |
zum Ort der Zukunft zu machen, in unserem Beruf, in unserer Nachbarschaft, | |
in unserem Gemeinwesen. | |
Ein [5][gesellschaftliches Dienstjahr für junge Menschen] könnte ein | |
möglicher Beitrag für diese neue Zeit sein und die stärkere Ermöglichung | |
und Einbindung von freiwilligem Engagement aller Teile der Gesellschaft. | |
Denn gerade wenn es schwierig wird, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt | |
unsere wichtigste Währung. Wir alle sind Mitgestalter dieser neuen Zeit. | |
Und wenn wir Erfolg haben, können wir eines Tages auf sie zurückblicken als | |
die neue Geburtsstunde Europas. | |
10 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Bastian Hermisson | |
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