# taz.de -- Corona-Krise und Großstädte: Wie geht's, Nachbarn? | |
> Nach zwei Wochen Kontaktsperre in Berlin: Kann man sich an den | |
> Corona-Ausnahmezustand gewöhnen? Momentaufnahmen aus vier Metropolen. | |
Bild: Auseinander! Eine Polizeistreife kontrolliert in Berlin, ob die Menschen … | |
## Hunde mit Harndrang | |
Vierbeiner hier in Rom könnten jetzt alle den gleichen Namen tragen: | |
„Triftig“. Hunden nämlich billigt die Regierung zu, sie stellten einen | |
„triftigen Grund“ dar, um ihre Besitzer_innen mitzunehmen auf einen | |
Spaziergang durchs Wohnviertel. Und so sieht man all die Herrchen und | |
Frauchen, wie sie mit ihrem Bello ohne Unterlass dem Hoftor unseres | |
Wohnblocks zustreben. Die Tiere, so scheint es, haben jetzt einen | |
Harndrang, wie sie ihn vor der Coronakrise nie verspürten. | |
In Rom ist der Frühling mit Macht ausgebrochen, strahlender Sonnenschein, | |
laue 22 Grad. Doch statt [1][deutschen „Ausgangsbeschränkungen“] herrscht | |
Ausgangssperre. Wer immer im Pkw, auf dem Fahrrad oder auch nur zu Fuß | |
unterwegs ist, riskiert Kontrollen, muss die Selbstbescheinigung vorweisen, | |
laut der er aus einem triftigen Grund unterwegs ist. So wird das Anstehen | |
vorm Supermarkt zum einzig verbliebenen Freizeitspaß. | |
Palmsonntag jedenfalls ist ausgefallen. Das übliche Bild an diesem Tag – an | |
jeder Ecke Menschen, die nach dem Besuch der Messe mit den Olivenzweigen in | |
der Hand an Jesu’ Einzug in Jerusalem erinnern – wurde 2020 nicht | |
geliefert. Stattdessen verwaiste Straßen, auf denen vor allem Polizeiautos | |
unterwegs sind. Genauso wird auch Ostern ausfallen, die üppigen Mittagessen | |
mit Oma und Opa, mit den Geschwistern, den Nichten und Neffen, genauso wie | |
die traditionelle Landpartie am Ostermontag. | |
Anders als Hunde stellen Kinder übrigens keinen „triftigen Grund“ dar, | |
spazieren zu gehen. Bloß zum Supermarkt oder zur Apotheke darf man sie | |
mitnehmen, wenn keiner zu Hause auf sie aufpassen kann. Und so tun die | |
Kleinen auf einmal das, was bei uns im Wohnblock immer verboten war: Sie | |
spielen im Hof. Ein Papa hat seine Fünfjährige in ein Tretauto gesetzt, | |
eine Mama führt ihre etwas größere Tochter an der Hand, während sie auf | |
Inline-Skatern die ersten ungelenken Schritte tut. | |
Es ist die eine Stunde Freigang, die einem im Knast zusteht. Viele Fenster, | |
viele Balkontüren stehen bei dem schönen Wetter offen. Doch ganz anders als | |
zu normalen Zeiten dringt aus den Wohnungen kaum je das Gebrüll eines | |
ordentlichen Familienkrachs. Michael Braun, Rom | |
## Der Trick mit dem Einkaufsbeutel | |
Madrid ist wie ausgestorben. Bis auf Supermärkte und kleine | |
Lebensmittelgeschäfte ist alles geschlossen. Polizei patrouilliert durch | |
die fast menschenleeren Straßen. Wer das Haus verlässt und nicht einkaufen | |
geht oder den Hund Gassi führt oder gar in Begleitung angetroffen wird, | |
muss mit einem Bußgeld rechnen. | |
Natürlich gibt es auch diejenigen, die versuchen, die Ausgangssperre zu | |
umgehen. Der einfachste Trick: ein zusammengefalteter Einkaufsbeutel unter | |
dem Arm oder ein Rundgang mit dem Hund des Nachbarn. Da hilft es ungemein, | |
dass Madrids Stadtpolizei, anders als noch vor Jahren, keine | |
Nahbereichsbeamten mehr hat, die ihre Nachbarn kennen. | |
[2][Der Verkehr hat um 87 Prozent abgenommen]. Aber es gibt noch Menschen, | |
die glauben, sie könnten das Auto nehmen, um in ihren Zweitwohnsitz zu | |
fahren. Deshalb hat die Verkehrspolizei ihre Kontrollen zu Beginn der | |
Osterwoche besonders verstärkt. Vor allem mitten in der Nacht nimmt der | |
Verkehr zu. | |
In den ersten drei Wochen nach dem Inkrafttreten der Verordnung am 14. März | |
wurden 11.816 Bußgeldbescheide ausgestellt. Ein Stadtteil sticht bei den | |
Verstößen ganz besonders hervor: Puente de Vallecas. Es ist einer der | |
ärmsten Innenstadtbezirke. Die Wohnungen sind klein. Was in normalen Zeiten | |
schon schwierig auszuhalten ist, wird durch die Ausgangssperre | |
unerträglich. Das Leben in Quarantäne ist auch eine Klassenfrage. Reiner | |
Wandler, Madrid | |
## Die Tauben turteln | |
Die Stille wird nur gelegentlich von der Sirene einer Ambulanz | |
durchbrochen, die wahrscheinlich einen Patienten mit Covid-19-Verdacht in | |
ein Krankenhaus transportiert. In den meisten Quartieren ist diese Stille | |
fast noch unheimlicher als die vom Verkehr und Menschenmengen leergefegten | |
Straßen. | |
Die wenigen Fußgänger halten sich auf Distanz zu den anderen, gehen | |
schweigend und schneller als sonst, und einige tragen eine Maske vorm Mund. | |
Man fragt sich, wo sie diese Mangelware wohl beschafft haben. Besonders | |
vereinsamt sehen Orte aus, wo sich wie rund um den Eiffel-Turm oder auf den | |
Champs-Elysées normalerweise die Touristen drängen. Dort turteln jetzt | |
ungestört die Tauben in der Frühlingssonne. | |
Die Regeln sind streng: Grundsätzlich herrscht ein Ausgehverbot für alle, | |
das von der Polizei kontrolliert wird, bei Zuwiderhandlung drohen | |
Geldstrafen. Wer mit den reduziert verkehrenden Bussen und den Metro-Linien | |
noch zur Arbeit gehen muss oder darf, braucht eine schriftliche | |
Bescheinigung des Arbeitgebers. Erlaubt sind pro Tag maximal eine Stunde | |
Marschieren oder Joggen im Umkreis von einem Kilometer und zwingend nötige | |
Einkäufe im Wohnquartier. | |
Jedes Mal muss dazu ein Formular mit Datum- und Zeitangabe ausgefüllt | |
werden, das man online herunterladen und ausgefüllt bei sich tragen muss. | |
Vor den Supermärkten, wo die Kassiererin meist hinter einer | |
Plastikschutzwand arbeitet, bilden sich Warteschlangen, in denen die Leute | |
diszipliniert den nötigen Abstand wahren. | |
Der Sonnenschein am Wochenende hat jedoch vor allem die Familien, denen es | |
in der Wohnung nach fast drei Wochen Mit- und Aufeinander eng wurde, nach | |
draußen gelockt. Die bisher respektierten Restriktionen wurden plötzlich | |
locker gehandhabt. Für die, die es sehr ernst nehmen, ist das ärgerlich. | |
Wahrscheinlich hat nur das massive Polizeiaufgebot mit Kontrollschranken an | |
den Ausfahrtstraßen verhindert, dass begüterte Hauptstadtbewohner | |
scharenweise in ihre Ferienhäuser aufbrechen. | |
Wenn um 20 Uhr die Nachbarn an den Fenstern aus Dankbarkeit für das | |
unermüdliche Pflegepersonal applaudieren, wird man aber sehen, wo in jetzt | |
unbeleuchteten Wohnungen Leute verschwunden sind. Rudolf Balmer, Paris | |
## Nur nicht wahnsinnig werden | |
In Warschau lockt der Frühling. An den Bäumen sprießt das erste frische | |
Grün, die Forsythien leuchten gelb, und die warme Aprilsonne lassen einen | |
die Atemmaske vom Kopf reißen. Doch Passanten werfen sofort missbilligende | |
Blicke, also zieht man sie wieder über Mund und Nase. Jeder kann die Zahlen | |
auswendig hersagen. Am Montag um 10 Uhr gibt es in Polen über 4.200 | |
bestätigte Covid19-Kranke und 98 Tote. Die Dunkelziffer ist wesentlich | |
höher, da die Labors in Polen nur rund 3.500 Tests auswerten können. | |
Überall auf den Straßen patrouillieren auch Polizisten, lassen sich den | |
Ausweis zeigen, fragen nach dem Woher und Wohin und mahnen, auf dem | |
schnellsten Wege nach Hause zurückzugehen. Wer keinen triftigen Grund für | |
seinen „Spaziergang“ angeben kann – erlaubt ist nur noch der Weg zur | |
Arbeit, zum Arzt oder zur Apotheke, sowie zum Einkaufen – kann gleich sein | |
Portemonnaie zücken. Die Geldbußen sind sofort zu bezahlen. Wer sich | |
weigert, muss sich auf eine Gerichtsverfahren einstellen. | |
Parks sind geschlossen, die Weichsel-Boulevards und –Strände auch, sogar | |
die Stadtwälder. Nur die Jäger haben noch Zutritt, und so hören die | |
Warschauer kaum noch ein fröhliches Tirilieren der zurückgekehrten | |
Zugvögel, sondern hinter rotweißen Plastikbändern nur das Knallen der | |
Flinten im Wald. | |
Restaurants, Cafés, Läden, Kinos und Theater, Spielplätze und Trimmpfade – | |
alles ist geschlossen. Das Wort rekreacja ist in aller Munde. Premier und | |
Minister verdammen die „Erholung“ in Zeiten der Corona-Pandemie, während | |
immer mehr Warschauer aufbegehren: ohne rekreacja an der frischen Luft | |
würde man zwariowac – „wahnsinnig werden“ | |
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre leiden besonders unter der | |
Kontaktsperre. Ohne ihre Eltern dürfen sie die Wohnung nicht mehr | |
verlassen. Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Die Online-Aufgaben | |
überfordern viele. Eltern sind genervt, auch weil sie nicht wissen, wie es | |
weitergehen soll. [3][So kommt es zu immer mehr Streit und häuslicher | |
Gewalt]. | |
Plötzlich zeigt die von vielen Polen mit Wählerstimmen belohnte | |
Kindergeldpolitik der nationalpopulistischen Recht und Gerechtigkeit (PiS) | |
ihr hässliches Gesicht: Zwar erhalten Eltern für jedes Kind monatlich 500 | |
Zloty (rund 115 Euro) ausgezahlt, doch inzwischen gibt es kaum noch soziale | |
Institutionen oder Hilfsorganisationen, an die sie sich bei Problemen | |
wenden könnten. | |
Vielen Straßenkindern in Warschau-Praga, einem sozialen Brennpunkt, droht | |
nun die Einweisung in eine „Besserungsanstalt“. Denn die durch | |
Projektgelder und Privatspenden finanzierten Streetworker, die sich | |
normalerweise um die Kinder kümmern und sie von der Straße holen, dürfen | |
das zur Zeit nicht tun. Von der staatlichen „Besserungsanstalt“ aber führt | |
der Weg meist direkt in den Knast. Hier rächt sich, dass Polens Regierung | |
den sozialen Wohnungsbau in den letzten Jahren völlig vernachlässigt hat. | |
Sechsköpfige Familien in einer Zwei-Zimmer-Wohnung sind in Praga keine | |
Seltenheit. | |
Das Krankenhaus, das sich vor allem um Covid19- Kranke kümmern soll, | |
entstand übrigens nicht im armen Praga, sondern im mondänen | |
Regierungsviertel Mokotow. Gabriele Lesser, Warschau | |
7 Apr 2020 | |
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