Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Folgen der Coronakrise: Lob der Provinz
> Corona macht's möglich: Plötzlich ist die Provinz attraktiver als die
> Stadt und die Uncoolen sind systemrelevant.
Bild: Entspannen im Garten in Brandenburg
Und wo wohnst du? Die angesagte Antwort darauf lautet zum Beispiel, in
Berlin, Kreuzberg, Neukölln oder Prenzlauer Berg. Niemand redet gern
darüber, in Orten mit Namen wie Waidmannslust oder Königs Wusterhausen in
der Peripherie zu leben. In Gegenden also, wo das Leben nicht gerade
pulsiert und man sich gerne auf einen Filterkaffee beim Bäcker im
Eingangsbereich von Kaufland trifft.
Großstadt und Freiheit – diese beiden Worte waren bisher untrennbar
miteinander verbunden. Dann kam das Coronavirus. Es hat für die Umkehrung
der Verhältnisse gesorgt. Die Bewohner:innen der coolen Stadtteile sind
in der Enge ihrer Wohnungen gefangen, Cafés und [1][Spielplätze bleiben
geschlossen], die Grünanlagen, Supermärkte und öffentlichen Verkehrsmittel
sind zu gefährlichen Orten mutiert.
Viele wünschen sich gerade nichts mehr, als den Corona-Frühling jenseits
der Ballungsräume verbringen zu können. Die Provinz scheint plötzlich
verlockend, denn was nützt es, dort zu wohnen, wo man jeden Film in der
Orginalfassung sehen kann, wenn die Kinos geschlossen sind? Was hat man von
der tollen Kinderbetreuung, den vielen Bildungsangeboten, wenn sie nicht
stattfinden? Die Stadt hat ihre Freiheit, die [2][unendlichen
Möglichkeiten] und ihre Coolness verloren. Kein Wunder, dass man sich hier
besonders laut eine Rückkehr zur Vor-Corona-Normalität oder zumindest eine
schnelle Lockerung der Einschränkungen wünscht.
Nicht weniger schockierend ist für viele Großstädter*innen die Erkenntnis,
nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen zu gehören. Das Gemeinwesen
funktioniert auch ohne die Werbeagentur, die Designerin, den Yogalehrer
oder die Geschichtsprofessorin. Systemrelevant sind plötzlich die mit den
uncoolen Jobs; Verkaufspersonal, Lkw-Fahrer, Pflegekräfte, Müllmänner.
Menschen, die sich Wohnungen in begehrten Großstadtlagen oft gar nicht mehr
leisten können.
Eine der Folgen der Pandemie muss und wird sein, dass sich die Wertigkeit
dieser Berufsgruppen verändert, im Ansehen, aber besonders auch in
finanzieller Hinsicht. Die Systemrelevanz sollte sich nicht nur in der
[3][Dankbarkeit der Allgemeinheit] ausdrücken, sondern sich auch auf den
Gehaltsabrechnungen niederschlagen. Das Virus hat schließlich nur sichtbar
gemacht, was auch in normalen Zeiten Realität ist: Es klafft eine riesige
Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft. In zentralen Berufsfeldern ist
die Bezahlung so miserabel, dass man nur mit Mühe davon leben kann.
Auch die Provinz, die Vororte, Kleinstädte und Dörfer, erscheinen nun in
anderem Licht – erheblich krisentauglicher, mit mehr Lebensqualität und
weniger bedrohlicher Enge. Dort muss niemand lange Strecken zurücklegen, um
ohne Sozialkontakte durch die knospende Natur zu radeln. Die Wohnungen sind
größer, weil weniger knapp, und viel mehr Menschen mit durchaus
durchschnittlichen Einkommen haben Balkone und Gärten, wo sich beim
Umgraben des Blumenbeets oder auf der Gartenliege die Pandemie ohne
Nervenzusammenbruch überstehen lässt. Die Supermärkte sind größer und
selten richtig voll.
Die derzeit besonders gestressten Metropolen werden auch nach überstandener
Krise nie wieder so cool sein wie vor dem Coronavirus. Unser Blick auf das,
was wir als wichtig ansehen, hat sich verändert, wahrscheinlich für lange
Zeit. Gerade wer Kinder hat, wird so schnell nicht vergessen, was es
bedeutet, über Wochen gemeinsam in einer Stadtwohnung auszuharren und jeden
Gang nach draußen mit mulmigem Gefühl anzutreten.
Die Umkehrung der Verhältnisse durch die Pandemie korrigiert eine
Fehlentwicklung, die schon seit längerer Zeit besteht. Wir haben alles
stets durch die Augen von Großstadtmenschen betrachtet – von der
Verkehrswende bis zur Wohnungspolitik. Nun wird uns vorgeführt, dass in der
Krise Ernten und Erntehelfer wichtig sind, Platz, Weite und noch viel mehr,
was bisher nicht erwähnenswert schien. Ein Lob auf die Provinz.
15 Apr 2020
## LINKS
[1] /Corona-und-Kontaktregeln-fuer-Kinder/!5677602
[2] /Berliner-Theater-im-Internet/!5677841
[3] /Systemrelevante-Jobs-in-Coronakrise/!5670828
## AUTOREN
Silke Mertins
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Großstadt
Provinz
Schwerpunkt Coronavirus
Der Hausbesuch
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Pflegekräftemangel
Klaus Lederer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Finanzcasino aufgrund von Corona: Wenn Büros leer stehen
Dank Corona kommt das Homeoffice in Mode. Städter können aufs Land ziehen,
Firmen ihre Büros verkleinern. Bei Immobilienfonds ändert sich alles.
Der Hausbesuch: Einer, der an das Leben glaubt
Nicht jeder hat die gleichen Chancen. Heinrich von der Haar wuchs in armen
Verhältnissen auf und musste für seine Bildung kämpfen.
Der Corona-Städtevergleich III: Kleine Schritte Richtung Normalität
Wie sieht der Alltag der europäischen Großstädter in Corona-Zeiten aus? Die
taz wirft erneut einen Blick nach Rom, Paris, Warschau und Berlin.
In Berlin haben auch die Baumärkte auf: Ein Stück Normalität
Viele Berliner scheinen derzeit zu renovieren. Doch im Gegensatz zu den
Supermärkten geht es in den Baumärkten gelassener zu. Eine Momentaufnahme.
Systemrelevante Jobs in Coronakrise: Ihr beklatscht euch selbst
Unser Autor findet das Klatschen für Pflegekräfte verlogen. Er ist selbst
Pfleger und fordert: Kümmert euch lieber um die Alten und Vulnerablen.
Corona und die Kultur in Berlin: Ein Schritt, der schmerzt
Auf Berlins Bühnen passiert nichts mehr: Senat untersagt fast alle
Kulturveranstaltungen, Clubs und Konzertveranstalter fürchten ihr Aus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.