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# taz.de -- Systemrelevante Jobs in Coronakrise: Ihr beklatscht euch selbst
> Unser Autor findet das Klatschen für Pflegekräfte verlogen. Er ist selbst
> Pfleger und fordert: Kümmert euch lieber um die Alten und Vulnerablen.
Bild: Nachts sitzen alle zu Hause, während Pflegekräfte schuften
Punkt 18 Uhr stehen sie auf den Balkonen und klatschen und jubeln und
freuen sich. Zu Ehren aller Systemrelevanten, unter anderem in der Pflege.
[1][Selbst der Bundestag] ist aufgestanden und hat applaudiert. Auch zu
meinen Ehren. Neulich schrieb eine Kollegin auf Twitter, das sei wie jeden
Tag Muttertag, wenn es immerzu Blumen gäbe, aber den Haushalt müsse die
Frau dann trotzdem allein schmeißen. Sie wollen nett sein, die
Klatschenden, aber nett hat eine große Schwester.
Ich arbeite in einer Wohngruppe mit Menschen mit sogenannter geistiger
Behinderung. Mit Glückwünschen und warmen Worten kenne ich mich aus. Ich
weiß auch, was diese Glückwünsche heißen: „Schön, dass du diese Arbeit
machst, ich könnte das nicht. Zum Glück muss ich mich da nicht drum
kümmern.“ In dem Lob versteckt sich immer eine satte Prise Abwehr: Ich
werde gelobt, damit sich niemand mit den Bewohner*innen auseinandersetzen
muss, also jenen Menschen, die [2][im Falle der Triage] dann als Erste dem
Tod überlassen werden, weil die halt keinen jucken.
Den Klatschenden möchte ich drei Dinge sagen, erstens: Hört auf, den
Pflegenden die Wange zu tätscheln, und kümmert euch um die alten, kranken,
vulnerablen Menschen. Ja, auch die, die Europa gerade [3][in Moria
verrecken lässt]; ein besonderer Platz in der Hölle ist für jene
reserviert, die abends angesichts dieser Katastrophe im Ernst die
Europahymne von den Balkonen singen.
Zweitens: Der Applaus schmeckt schal. Seit Jahrzehnten hat man unsere
Forderungen, die der Pflegenden, ignoriert, weggedrückt, abgetan. Dass die
Zustände immer schlechter werden, dass die Arbeitsbedingungen beschissen
sind, ist bekannt – und das schon seit unfassbar langer Zeit. Aber wen
kümmert es?
## Keine Heiligen
Und nein, da geht es (nicht nur) um mein Gehalt, das lässt sich nicht mit
500 netto pro Nase einfach zuschütten. Es geht darum, wie es in den Heimen,
den Krankenhäusern, den Wohngruppen aussieht. Ich kann mich an keine Reform
erinnern, deren Ankündigung ohne den Zusatz „Kostenneutralität“ auskam,
obwohl allen klar ist, dass die Bedarfe steigen. Und kaum eine*n hat es
gejuckt.
Das kann ein bisschen klatsch-klatsch-klatsch nicht kaschieren. Nutzt die
fünf Minuten und denkt an die Zeit nach der Pandemie. Was wir dann brauchen
werden: Verbesserung der Selbstorganisation in den Pflegeberufen inklusive
Ersetzung des sogenannten dritten Wegs, Abschaffung der Fallpauschalen in
den Krankenhäusern, zusätzliches Personal, kein Outsourcing mehr aus
finanziellen Überlegungen. Und kommt mit auf die Straße, wenn wir streiken
(falls wir überhaupt streiken dürfen – ich zum Beispiel darf es nicht,
danke, dritter Weg).
Und drittens: Nein, Pflegende sind keine Heiligen. Ich will auf keinen
Sockel gehoben werden, bloß damit ihr euch besser fühlt. Unter den
Pflegenden sind Arschlöcher, Ignoranten und – ja – auch Rassist*innen. Wer
die Pflege jetzt in den Himmel hebt, verdeckt das. Gerade jetzt hat das die
Journalistin Ferda Ataman spüren müssen, die kürzlich auf Twitter Zweifel
daran geäußert hat, ob Marginalisierte in Krisenzeiten gleich gut behandelt
werden würden wie Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft.
## Fehlende Empathie
Absolut berechtigte Zweifel, trotzdem war der Aufschrei gegen Ataman groß.
Leute, die vor vier Wochen noch lieber tot vom Stuhl gefallen wären, als
das Wort Solidarität in den Mund zu nehmen, griffen sie mit totalem Furor
an. Alles im Namen der heldenhaften Pflege.
Wenn ihr eure sogenannte Solidarität dafür ausnutzt, um People of Color zum
Schweigen zu bringen, um sie daran zu hindern, ihre Erfahrungen zu teilen,
dann will ich eure Solidarität nicht. Die Augen zuzumachen vor dem, was in
der Pflege alles schiefläuft, hilft niemandem.
Klatscht, wenn ihr euch besser fühlt. Es ist aber völlig klar: Ihr
beklatscht euch selbst, und ihr tut das öffentlich, damit jede*r von eurer
Großherzigkeit erfährt. Davon, dass ihr euch besser fühlt, wird nichts gut,
es macht euch nur unempfindlicher gegenüber dem Leid der anderen.
26 Mar 2020
## LINKS
[1] https://twitter.com/Kristina_Hof/status/1242724265243353094?s=20
[2] /Ethikerin-zu-Medizinversorgung-in-Krisen/!5669071
[3] /In-der-Corona-Krise/!5669240
## AUTOREN
Frédéric Valin
## TAGS
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