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# taz.de -- Ethikerin zu Medizinversorgung in Krisen: „Jeder Mensch ist gleic…
> Wer wird bei knappen Ressourcen beatmet und wer nicht? Die klinische
> Situation des Patienten ist entscheidend, sagt Medizinethikerin Alena
> Buyx.
Bild: 13. März 2020, Spedali Civili Krankenhaus in Brescia, Italien
taz: Frau Buyx, das Robert-Koch-Institut warnt vor bis zu zehn Millionen
Coronainfizierten binnen drei Monaten allein in Deutschland. [1][Der
NRW-Ministerpräsident sagt, bei Corona gehe es um Leben und Tod]. Klingt,
als könne möglicherweise demnächst nicht mehr jede Patientin und jeder
Patient versorgt werden. Worauf müssen wir uns einstellen?
Alena Buyx: Niemand kann das sicher voraussagen. Wir wissen, dass die Kurve
bei uns anders verläuft als in Italien. Während in Italien viele ältere
Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen erkrankt sind, sind die
Patienten, die wir bislang in Deutschland sehen, im Schnitt jünger. Jüngere
Menschen haben ein geringeres Risiko, an der Erkrankung zu sterben oder so
schwer behandlungsbedürftig zu werden, dass sie Beatmung benötigen. Unsere
intensivmedizinischen Kapazitäten sind [2][im Vergleich zu Italien] zudem
höher. Und die drastischen Maßnahmen zur sozialen Isolierung, die jetzt
überall im Land durchgesetzt werden, um die Ausbreitung zu verlangsamen,
werden hoffentlich in den nächsten Tagen wirken. Die Hoffnung ist, dass wir
nicht in eine so dramatische Situation geraten wie in Italien.
Die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hat gerade eine
[3][Website zur deutschlandweiten Abfrage freier Beatmungsplätze]
eingerichtet. Eine übertriebene Maßnahme?
Wir machen uns bereit, und das ist richtig. Im Fokus steht die Aufstockung
der Kapazitäten. Wir rekrutieren in Deutschland inzwischen pensionierte
Ärzte, wir bitten Medizinstudenten, mitzuhelfen, wir bauen Stationen zu
Intensivstationen um, wir sagen Wahl-OPs ab und verlegen Patienten
innerhalb von Kliniken, um Platz zu schaffen, wir erhöhen die Zahl der
Beatmungsplätze. Und wir hoffen, dass wir gar nicht in die fürchterlichste
Situation kommen.
Wie sähe diese fürchterlichste Situation aus?
Es fällt sehr schwer, sich dieses Szenario vorzustellen, weil niemand in
unserem Land konkrete Erfahrungen hat mit Zuständen absoluter medizinischer
Knappheit aufgrund einer Pandemie. Sicher, im Alltag von Notfall- oder
Katastrophenmedizinern kommt es vor, etwa bei einer Massenkarambolage, dass
triagiert werden muss. Eine Triage bedeutet, Patienten nach Dringlichkeit
einzuordnen. Auch Intensivstationen sind mitunter überfüllt, und dann muss
man als Ärztin gucken, ob und welche Patienten man im Haus anders
unterbringen kann. Das sind Situationen relativer Knappheit, die jedoch
gemanagt werden können. Ein Szenario aber, in dem wirklich alle Kapazitäten
ausgeschöpft wären – Personal, Beatmungsgeräte, Betten –, darauf sind
Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger in Deutschland nicht
vorbereitet.
Es gibt doch gefühlt ganze Bibliotheken zu Fragen von Priorisierung und
Rationierung im Gesundheitswesen?
Es gibt einiges an wissenschaftlicher Literatur, auch aus meinem Fach, der
Medizinethik. Aber das sind meist Gedankenexperimente, in denen man an
ruhigen Tagen über Gerechtigkeitskriterien nachgedacht hat. In der Praxis
gibt es keinen Plan, den man mal eben aus der Schublade ziehen könnte. Und
ebenso wenig ist die theoretische Aufarbeitung von Problemen eine
psychologische Vorbereitung auf eine dramatische Situation, mit der es
keine praktischen Erfahrungen gibt.
Bei der [4][Zuteilung von Spenderorganen] geht es um genau diese Fragen von
Leben und Tod.
Richtig, da haben wir es auch mit einer furchtbaren absoluten Knappheit zu
tun. Ich sage nicht, dass uns das Phänomen in der Medizin komplett fremd
ist. Aber in dieser dramatischen Ausprägung, in der wir, ich betone es
nochmals, noch nicht sind und in die wir hoffentlich auch nicht kommen
werden, sind wir nicht auf Knappheit vorbereitet.
In Italien müssen Ärztinnen und Ärzte täglich entscheiden, wen sie mit den
viel zu wenigen Maschinen beatmen. Es gibt Bilder, da wird einem
85-Jährigen, der bereits beatmet wurde, die Maske wieder abgenommen –
zugunsten eines jüngeren Patienten. Und der alte Mann stirbt.
Wer aus der Gruppe der unbedingt zu beatmenden Patienten hat die beste
Prognose? Das ist die Frage, die die Kollegen in Italien beurteilt haben
und beurteilen mussten. Sie haben danach entschieden, wer aus der Gruppe
der Schwerkranken dank Beatmung nicht bloß wahrscheinlich gesund, sondern
wahrscheinlich schnell gesund werden konnte. Damit dann der nächste Patient
das Beatmungsgerät kriegen konnte.
Wer die meisten Leben rettet, steht moralisch auf der richtigen Seite?
Es ist absolut grässlich, eine Entscheidung treffen zu müssen in dem
Wissen, dass ich nur den einen Menschen retten kann und dass der andere
deswegen stirbt. Normalerweise behandeln Ärzte ihre Patienten der
Reihenfolge nach, und jeder bekommt, was er braucht. In dieser Krise
funktioniert das nicht. In der Krise müssen wir eine Triagierung
vorschalten. Wir müssen erstens erkennen, wer zwingend intensivmedizinische
Versorgung braucht, und wer notfalls ohne auskommt, obwohl es auch ihm
schlecht geht und obwohl er möglicherweise früher den Weg ins Krankenhaus
gefunden hat. Zweitens müssen wir beurteilen, wer innerhalb der Gruppe
derjenigen, die Beatmung benötigen, die beste Prognose hat, gesund zu
werden.
In Italien wurde mitunter nicht nur nach der Überlebenswahrscheinlichkeit
entschieden, sondern auch nach den durchschnittlich noch zu erwartenden
Lebensjahren eines Patienten im Falle seiner Rettung. Ist das gerecht?
Die Entscheidung ist aus meiner Sicht immer aufgrund der klinischen
Situation des Patienten zu treffen. Abstrakte Altersgrenzen, wie sie in
Italien diskutiert wurden, halte ich für problematisch. Und drittens, das
ist zumindest zu diskutieren, könnte man festlegen, dass systemerhaltendes
Personal im Krankheitsfall zu bevorzugen ist, also Menschen, die wichtig
sind für die Infrastruktur eines Landes, klinische Gesundheitsberufe etwa
oder jene mit zentraler Funktion in der Energieversorgung.
Soll die einzelne Ärztin oder der einzelne Arzt hierüber entscheiden?
Der einzelne Arzt kann und darf das nicht allein mit seinem Gewissen
ausmachen müssen. Das wäre eine Zumutung und eine Überforderung, auch
psychologisch. Was wir jetzt brauchen, ist eine Handreichung für Ärzte mit
den beschriebenen Kriterien zur Triage.
Wer soll leben? Wer soll sterben? Im Rechtsstaat darf nur der Gesetzgeber
diese brutale Entscheidung treffen. Oder?
Es steht außer Frage, dass eine solche Handreichung auch juristisch
legitimiert werden muss. Aber an der Entwicklung solcher Kriterien sollten
idealerweise diejenigen mitwirken, die sich mit ähnlichen Fragen auskennen,
und das sind Notfall-, Katastrophen- und Intensivmediziner,
Pandemieexperten, Ethiker, juristische Experten und solche aus dem
leitenden Krankenhausmanagement. Ich plädiere für eine interdisziplinäre
Ad-hoc-Kommission.
Wer soll die harten Entscheidungen der Bevölkerung kommunizieren?
Wichtig ist, dass die Kriterien transparent kommuniziert werden. Es darf
kein Eindruck entstehen, es würden beispielsweise nur Freunde von Ärzten
beatmet oder reiche Menschen. Denn natürlich dürfen solche Kriterien keine
Rolle spielen. Ebenso wenig wie der soziale Status.
Eine schwerkranke Mutter mit fünf kleinen Kindern ist einer schwerkranken
kinderlosen Frau also nicht vorzuziehen?
Stopp! Wenn Sie diese Diskussion anfangen, wo wollen Sie da enden? Soll die
Zahl der Kinder entscheidend sein? Oder doch lieber die der Angehörigen?
Ist der Chef wichtiger als der Mitarbeiter? Ist jemand im Elektrizitätswerk
wichtiger als jemand im Wasserwerk? Nein. Das Leben jedes Menschen ist
gleich viel wert. Alles andere ist undenkbar.
Alles andere wäre unsolidarisch?
Solidarität bedeutet, dass wir, weil wir im selben Boot sitzen und gewisse
Risiken teilen, füreinander auch bestimmte Kosten in Kauf nehmen. Wir
teilen derzeit Vulnerabilität und das Risiko, an Corona zu erkranken.
Deswegen versorgen Eltern jetzt ihre Kinder zu Hause, verlieren
Freiberufler Aufträge, kommt unser soziales und wirtschaftliches Leben zum
Erliegen. Das sind Handlungen, die uns weh tun. Wir tun sie dennoch, weil
wir letztlich alle in einem Boot sitzen und dieses Boot oben halten wollen.
Wie lange werden tatsächlich alle das Boot gemeinsam oben halten wollen?
Gibt es da nicht eine Grenze?
Solidarische Praktiken beruhen darauf, dass wir sie unterstützen. Im Moment
wird es im Land so gesehen, dass wir diese Solidarität aufbringen wollen,
um diejenigen von uns zu schützen, die besonders anfällig sind, und um
unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Es wird einen Punkt
geben, an dem wir uns fragen werden, wie lange wir diese selbst auferlegten
Maßnahmen, die uns stark einschränken, aufrechterhalten können. Und ob es
eventuell notwendig wird, es umgedreht zu machen und diejenigen, die
gefährdet sind, strikt zu isolieren. Weil wir zu dem Schluss kommen, dass
die wirtschaftliche Katastrophe, die ja parallel verläuft, nichts anderes
mehr zulässt. Aber dieser Punkt ist noch nicht gekommen. Im Moment müssen
wir die Kurve abflachen.
19 Mar 2020
## LINKS
[1] /Einschraenkungen-wegen-Coronavirus/!5668773
[2] /Corona-in-Italien/!5668464
[3] https://www.divi.de/register/intensivregister
[4] /Statistik-zur-Organspende-2019/!5655252
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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