# taz.de -- Corona und das Ende der Solidarität: Leben und sterben lassen | |
> In der Coronakrise bricht sich eine Desolidarisierung Bahn, die schon | |
> lange angelegt war: Inklusion hat sich als Illusion erwiesen. | |
Bild: Die Krise hat den Abgrund gezeigt, der sich zwischen Kranken und Gesunden… | |
Sterben müssen immer nur die anderen, auch in Gedanken. Die meisten | |
Gespräche über Covid-19 verlaufen so, als wären die Sprechenden selbst | |
immun oder nur ganz am Rande betroffen. Man schiebt auf dem Rechenschieber | |
Fallzahlen hin und her, referiert die Reproduktionsziffer, vergleicht die | |
Todesfallraten: alles für ein bisschen Kontrolle. | |
Die vulgärmedizinische Unterscheidung zwischen tot und genesen gibt dann | |
noch zusätzliche Sicherheit; wie es den Menschen mit schweren Verläufen | |
geht, die jetzt mit teils herben Einschränkungen wer weiß wie lange leben | |
werden, darüber liest man wenig. | |
Gipfel der Menschlichkeit ist der Verweis auf die Gefährdeten im eigenen | |
Umfeld. Wer sich selbst für gefährdet hält, im Falle einer Infektion mit | |
dem eigenen Tod rechnet, gilt schnell als unzurechnungsfähig, als | |
hysterisch, neurotisch. Bedenken, klar, die darf man schon haben: aber | |
Angst nicht. Es muss schön abstrakt bleiben und nicht zu persönlich werden. | |
Es scheint, als sei die Selbstlüge, man werde schon nicht schwer getroffen, | |
zentral für die mentale Gesundheit. Aber es ist keine echte Wahl, sich | |
zwischen der Psyche und den Lungen zu entscheiden. Insofern ist der gern | |
verwendete Hinweis auf besonders belastete Mitmenschen, denen der Shutdown | |
nicht zuzumuten sei (Alleinerziehende, Menschen mit Depressionen, etc.) oft | |
genug wohlfeil: Denn er führt nicht zu einer Diskussion darüber, welche | |
Unterstützung sie gerade bräuchten, um sicher durch die Krise zu kommen. | |
## Selbst Schuld? | |
Stattdessen sollen jetzt belastete Alleinerziehende ihre Kinder in die | |
Notbetreuung geben und sich einem erhöhten Ansteckungsrisiko aussetzen. Und | |
wer das nicht annimmt, ist was – selbst Schuld? Es ist eine alte | |
ableistische Strategie, Diskriminierungen gegeneinander auszuspielen. | |
Gesunde haben Schwierigkeiten, sich vorzustellen, sie seien krank; deswegen | |
applaudieren sie auch den Ärzt’innen und Pflegenden von ihren Balkonen, | |
weil die ihnen die Kranken vom Leib halten. Dieser Applaus ist vor allem | |
ein Othering. | |
Und es gibt genug Ärzte, die das von ihrer Seite aus unterstützen. Der | |
Hamburger Pathologe Prof. Dr. Klaus Püschel zum Beispiel, der | |
Covid-19-Opfer obduzierte [1][und dann bei Markus Lanz verkündet]e: „Es | |
sind alte und kranke Menschen, von denen einige sowieso sterben würden.“ | |
Schöner hat bisher keiner gesagt, dass Nichtrisikogruppen unsterblich sind. | |
Wenig hat diese Krise deutlicher gezeigt als den Abgrund, der sich zwischen | |
Kranken und Gesunden auftut: Zahllos sind die Stimmen, die dafür plädieren, | |
„Risikogruppen“ zu isolieren zum Wohl der Gemeinschaft, der Wirtschaft, des | |
öffentlichen Lebens. Die letzten Jahrzehnte Integrations- und | |
Inklusionsmaßnahmen waren Makulatur. Wir sind nicht eine Gesellschaft. Wir | |
debattieren ernsthaft die Verschärfung einer Segregation, die so schon | |
immer existiert; wieder einmal unter Ausschluss derjenigen, die es | |
betreffen wird. | |
## Vulnerable Gruppen | |
Oliver Köhr [2][kritisiert in der „Tagesschau“ lang und breit,] dass Angela | |
Merkel die Öffnungsdiskussionen zu Orgien deklariere; ganz ohne sich die | |
Frage zu stellen, wer eigentlich gehört wird in solchen Diskussionen. | |
Denn natürlich ist es so, dass auch davor schon die vulnerablen Gruppen im | |
Mittel schneller starben, früher und ernsthafter erkrankten und mehr | |
Schwierigkeiten hatten, Hilfe zu bekommen. Die Desolidarisierung, die sich | |
jetzt Bahn bricht, ist schon lange angelegt. Die Gegensätze werden nur | |
sichtbarer in Zeiten der Krise; bis hin zu den Handouts für Triagen, die | |
eine klare Hierarchisierung vornehmen, wer rettenswerter ist als andere. | |
Die Lage wäre sehr viel weniger schlimm, wenn sich jede’r betroffen fühlen | |
würde, statt damit beschäftigt zu sein, sich aus Risikogruppen | |
herauszurechnen. [3][Es wird zu einer stärkeren Spaltung führen,] und sie | |
wird gerade nicht dazu führen, dass eine größere Achtsamkeit entsteht. Die | |
Gewissheit der vielen, dass immer die anderen sterben, ist auch eine | |
selbsterfüllende Prophezeiung. | |
24 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-9-april-2020-10… | |
[2] https://www.tagesschau.de/kommentar/coronavirus-oeffnungsdiskussion-101.html | |
[3] /Corona-Risikogruppe/!5676394/ | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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