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# taz.de -- Pandemiealltag in Metropolen: Den Coronafrust einfach wegfuttern
> In Warschau steigt die Impfskepsis, in Berlin droht die Ausgangssperre,
> Madrid lädt Tourist*innen ein und Rom stellt die Tische auf die
> Straßen.
Bild: Der Caffè aus dem Wegwerfbecher prägt den Pandemie-Alltag in Rom
## Madrid: Die Touris aus Frankreich
„Oui, je parle français“, sagt Aki und lächelt dabei verschmitzt. Wer nic…
in Madrid lebt, wird kaum verstehen, warum der Koch und Chef eines
Sushi-Restaurants in der Altstadt diesen Satz lustig und zugleich traurig
findet. Denn während die Spanier ihre Region seit Monaten nicht verlassen
können, überschwemmen Wochenende für Wochenende junge Menschen aus dem
Nachbarland die Kneipen, Restaurants und Bars der spanischen Hauptstadt.
Und die Deutschen reisen, als gäbe es kein Morgen, nach Malle. Die offenen
Grenzen für europäische Touristen beruhten auf „europäischer
Gegenseitigkeit“, erklärt die spanische Linksregierung, warum Touristen
kommen können, während die Einheimischen seit Monaten unter strengen
Auflagen eingesperrt leben.
Die Region Madrid ist zum Ausgehviertel für ganz Europa geworden. Videos
von riesigen Gruppen ohne Maske, trinkend, grölend, nach Beginn der
Ausgangssperre um 23 Uhr machen in den Netzwerken die Runde. Die Madrider
Stadtverwaltung und Regionalregierung, beide in Händen der Konservativen
mit Unterstützung durch Rechtsliberale und Rechtsextreme, setzten auf
Wirtschaft statt Gesundheitsschutz. Und nicht auf irgendeine Wirtschaft,
sondern auf die Gastronomie in all ihren Formen. Selbst die „puticlubs“,
die Bordelle entlang der Nationalstraßen, sind mitten in der Pandemie
offen.
Die französischen Touristen kämen „in unsere Theater, Kinos, die Oper, um
die Kultur zu genießen – darauf bestehe ich“, leugnet Bürgermeister José
Luis Martínez-Almeida das Offensichtliche, als die Kritik an dieser Politik
an Ostern aufkommt. Gleichzeitig lässt sich die Chefin der
Regionalregierung, Isabel Díaz Ayuso, die sich am 4. Mai den von ihr
vorgezogenen Neuwahlen stellt, von so manchem Restaurant und
Kneipenbesitzer mit Plakaten feiern, die sie als eine Art Jeanne d'Arc der
Gastronomie zeichnen.
## Inzidenz über 190
Die 7-Tage-Inzidenz liegt in Madrid nach dem fröhlichen Ostern erneut bei
über 190. Ayuso überhört geflissentlich die Mahnung des spanischen
Gesundheitsministeriums, endlich etwas zu unternehmen, um einen weiteren
Anstieg der Coronafälle zu vermeiden. Stattdessen öffnet die Konservative,
der nächtliche Verkehrsstaus in der Innenstadt als „besonderes Merkmal
Madrids“ gelten, gar die Region. Theoretisch dürften die Hauptstädter jetzt
fahren, wohin sie wollen, wäre da nicht das Einreiseverbot der
Nachbarregionen.
So steuert die Region Madrid, die so viele Coronfälle und -tote zu
verzeichnen hat wie kaum eine andere Gegend in Europa, auf eine vierte
Welle zu. „Ist euch klar, dass die Gastronomie in Madrid nicht geschlossen
wurde, weil sich die Regionalregierung weigert, Unterstützung zu leisten,
und nicht etwa, weil sie die Geschäfte ‚retten‘ will?“, steht auf einem
Plakat zu lesen, es hängt in der Altstadt an einer Kneipe, die die
Rechts-rechts-rechtsaußen-Regierung ganz offensichtlich nicht unterstützt.
Reiner Wandler, Madrid
## Rom: Spritz im Plastikbecher
ROM taz | Espresso aus dem Papp-, Aperol Spritz aus dem Plastikbecher: Auch
das wird wohl in Zukunft zu den Pandemieerinnerungen in Rom gehören. Schon
seit Wochen sind die Bars, wie auch die Restaurants, wieder einmal
geschlossen, ist ihnen bloß der Abholverkauf gestattet. Doch Tische finden
sich weiterhin draußen vor der Tür, der Genuss im Stehen darf mittlerweile
als fester Bestandteil der Coronaroutine gelten.
Überhaupt die Routinen. Masken sind allgegenwärtig, drinnen wie draußen,
und kaum jemand murrt noch darüber, vielleicht auch, weil sich anscheinend
viele mit süßem Zeug den Coronafrust wegfuttern. Vor den „Pasticcerie“, d…
Konditoreien um die Ecke jedenfalls sind die Schlangen am Samstag oder
Sonntag elend lang.
Wenig Auflauf herrschte dagegen bei den Coronaleugner*innen und
Rechtsradikalen, die gleich zweimal in den letzten zwei Wochen in der Nähe
des Parlaments im Zentrum der Hauptstadt zum Protest gerufen hatten. Obwohl
im ganzen Land für die Demos getrommelt wurde, obwohl 50.000
Teilnehmer*innen angekündigt waren, kamen am Ende bloß 500. Die Faschos
unter ihnen stürmten im Namen ihres einigermaßen erstaunlichen „Kampfs
gegen die Diktatur“ auf die Polizeiketten los, hatten jedoch mangels Masse
das Nachsehen gegen die Wasserwerfer.
## Zufrieden mit der Organisation
Mehr Gedränge gibt es dagegen im großen Impfzentrum vor dem Hauptbahnhof,
der Stazione Termini. Die Laune ist gut. „Bloß zwei Minuten habe ich für
die Reservierung auf der Webseite gebraucht“, erzählt der ältere Herr, „u…
auch hier läuft es wie am Schnürchen“. Um 17 Uhr hat er den Termin, schon
fünf Minuten vorher ist er in dem enormen Zelt, bloße 20 Minuten später
frisch geimpft wieder draußen.
„Unsere Region, das Latium, hat das super organisiert“, ist sein Befund.
Anders als in der angeblich so hocheffizienten, norditalienischen Lombardei
meckert in der Tat in Rom kaum jemand. Jetzt schon können die 60-Jährigen
Termine buchen, nächste Woche sollen dann auch die 58- und 59-Jährigen mit
den Reservierungen drankommen. Michael Braun, Rom
## Warschau: Entsetzen über Polens Bischöfe
In Polen ist das Sich-impfen-Lassen gegen Covid-19 zu einer hochmoralischen
Frage geworden. „Ich habe einen Impftermin mit AstraZeneca“, erzählt eine
Kundin in einem kleinen Lebensmittelladen im Warschauer Stadtteil Mokotow.
„Und? Gehen Sie hin?“, fragt der Besitzer zurück und scannt dabei die
Preise von Käse und Joghurt. „Immerhin kann der Impfstoff Thrombosen im
Hirn auslösen.“ Die Kundin im karierten Regenmantel schüttelt den Kopf:
„Haben Sie nicht gehört, was Bischof Wrobel gesagt hat?“, regt sie sich
auf. „AstraZeneca – das sind Zellen von abgetriebenen Kindern! Nie im Leben
lasse ich mich damit impfen!“
Der Ladenbesitzer im grünen Pullover wird leichenblass: „Stimmt das auch
wirklich? Da muss ich sofort meine Tante anrufen und ihr sagen, dass sie
ihren Termin absagen soll!“ Er greift nach dem Handy, während die Kundin
weiter auf ihn einredet: „Diese Schuld müssten wir bis ans Lebensende
beichten.“ Sie schüttelt sich: „Und dann noch das eklige Gefühl, dass in
meinem Blut Zellen von diesem abgetriebenen Kind kreisen!“ Sie bekreuzigt
sich.
Polens Impfärzte und ausnahmsweise auch Polens nationalpopulistische
Regierung sind entsetzt über das Episkopat der katholische Kirche. Denn
Bischof Jozef Wrobel, der dem Bioethik-Rat des Episkopats vorsteht, warnte
ausgerechnet am Tag, als die tägliche Todeszahl auf über 800 gestiegen war,
vor einer Impfung mit AstraZeneca und Johnson & Johnson. Bei der Produktion
der beiden Impfstoffe „nutzt man die Zelllinien, die aus dem biologischen
Material abgetriebener Föten gewonnen werden“, so der Bischof. Dies wecke
ernsten moralischen Widerspruch.
## Krebskranke in Not
„Katholiken sollten einer Impfung mit diesen Impfstoffen nicht zustimmen!“,
ist auch auf der Website des Episkopats nachzulesen. Ausnahmen seien nur
dann zulässig, wenn es keinen anderen Ausweg gebe. Doch die Bewertung des
Bischofs ist ganz klar: Es handle sich um „unmoralische Impfstoffe“. Mit
keinem Satz ermuntert der bischöfliche Bioethiker dazu, sich überhaupt
gegen das gefährliche Coronavirus impfen zu lassen.
Zwar klärten umgehend Regierung, Ärzte und liberale Medien darüber auf,
dass die Ursprungszellen aus den 70er und 80er Jahren stammten und seitdem
mit Generationen von Nachwuchszellen gearbeitet werde. Niemand lade eine
moralische Schuld auf sich, wenn er oder sie sich mit AstraZeneca oder
Johnson & Johnson impfen lasse. Auch Papst Franziskus sei bereits geimpft.
Mehr und mehr aber wenden sich verzweifelte Krebskranke an die
Öffentlichkeit. Wenn sie nicht in einer speziellen Onkologie-Klinik
behandelt werden, haben sie oft keine Chance mehr auf eine lebensrettende
Operation. Denn die Betten auf den Intensivstationen wurden fast alle zu
Covid-Betten umgewidmet. Aktuell sammeln nun WarschauerInnen Geld für einen
beliebten Stadtführer und Schriftsteller, der an Lungenkrebs erkrankt ist
und eine Klinik im Ausland sucht, die ihn noch behandeln würde. Gabriele
Lesser, Warschau
## Berlin: Kurz vor Ausgangssperre
BERLIN taz | Theoretisch ist es so in Berlin: Ab 21 Uhr und bis 5 Uhr in
der Frühe darf ein jeder nur noch allein oder zu zweit den abendlichen
Spaziergang (oder die sehr frühe morgendliche Joggingrunde) erledigen.
Besuche sind in dieser Zeit verboten, man muss sich mit der eigenen Familie
vergnügen. Tagsüber darf man die berühmten fünf Menschen aus zwei
Haushalten im Schlepptau haben.
Praktisch ist es so in Berlin: Alle wissen, dass irgendwie Lockdown ist,
und wenn zehn Leute auf dem Spielplatz zu dicht zusammenstehen, kommt das
ungefähr der Hälfte bestimmt falsch vor – aber wie genau jetzt die Details
aussehen, da blickt so mancher und so manche nicht mehr durch.
Kann ja auch niemand kontrollieren, schon gar nicht die nächtlichen
Besuchsverbote – was inzwischen sogar die Polizeigewerkschaft müde geworden
ist zu betonen. Kein Wunder also, dass man beim Joggen über die Überreste
von abendlichen Zusammenkünften in Parks stolpert. Und nach der Anzahl der
geleerten Tetrapaks billigen Weins zu urteilen, saßen da nicht nur zwei
Menschen nach 21 Uhr um den Einweggrill.
## Unentschiedene Politik
Das zuletzt entschieden unentschiedene Pandemiemanagement des
rot-rot-grünen Senats hat sicher auch dazu beigetragen, dass man sich nicht
mehr so richtig zurechtfindet zwischen Lockdown und Lockerungsübungen. Denn
mit der letzten Änderung der Infektionsschutzverordnung hatte der Senat
zwar die Kontaktbeschränkungen verschärft, etwa um die nächtlichen
Besuchsverbote. Zugleich nahm man Lockerungen nicht zurück: Shoppen geht
weiterhin, wenn auch nur mit negativem Testergebnis. Und in den Schulen
kehren am Montag die letzten Jahrgänge in den Wechselunterricht zurück.
Zudem hat Berlin bisher nicht die eigentlich im Bund vereinbarte
„Notbremse“ gezogen: Sie sieht unter anderem eine harte nächtliche
Ausgangssperre vor und soll dann greifen, wenn die 7-Tage-Inzidenz über 100
Fälle pro 100.000 EinwohnerInnen steigt. Berlin ist mit einer Inzidenz von
aktuell 152 locker drüber. Doch der Regierende Bürgermeister Michael Müller
(SPD) verwies auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel – und machte deutlich,
dass er wenig hält von einer harten Ausgangssperre.
Die könnte aber tatsächlich noch kommen, wenn der Bund diese Woche die
Notbremse nun doch noch verpflichtend für die Länder beschließt. Ob sich
die Menschen dran halten? Oder ob Privatpartys dann womöglich einfach schon
um 20 Uhr beginnen und sich von draußen erst recht in geschlossene Räume
verlagern, weil da noch schwerer zu kontrollieren ist? Bleibt zu hoffen,
dass der Großteil der BerlinerInnen weiterhin vernünftiger ist als manche
beschlossene Maßnahme. Anna Klöpper, Berlin
19 Apr 2021
## AUTOREN
Reiner Wandler
Anna Klöpper
Gabriele Lesser
Michael Braun
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