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# taz.de -- Coronapandemie in der Provinz: Die Lage auf dem Land
> Der brandenburgische Landkreis Märkisch-Oderland kämpft gegen Corona –
> und bleibt dabei gelassen.
Bild: Corona-Tests in einer Drive-Through-Abstrichstelle der Immanuelklinik in …
Vier Wochen ist es her, dass die globale Seuche auch über Seelow
hereinbrach. Die Kleinstadt liegt im Osten Brandenburgs und gehört zum
Landkreis Märkisch-Oderland (MOL), der sich von Berlin bis nach Polen
zieht. Als hier die ersten 26 Fälle gezählt wurden, schaltete MOL in den
Krisenmodus. Das war am 17. März.
Einer der wichtigsten Menschen im Landkreis ist seitdem Martin Zohles. Der
leitet das Zivil-, Brand- und Katastrophenschutzamt, für das sich in
normalen Zeiten niemand interessiert. Aber die normalen Zeiten sind vorbei.
Zohles ist 33, hochaufgeschossen, trägt Seitenscheitel. Er war lange Jahre
Amtsbrandmeister und auch mal Linken-Fraktionsvorsitzender in der
Nachbargemeinde Neuhardenberg. Jetzt koordiniert den Notfall. Zohles Büro
liegt in einem modernen Mehrzweckgebäude im Gewerbegebiet von Seelow. Die
Freiwillige Feuerwehr ist direkt nebenan. 13 Mitarbeiter*innen arbeiten für
Zohles Katastrophenamt.
„Wir könnten hier übernachten, falls wir in Quarantäne müssen. Ein Bett f…
jeden ist da, Zahnbürsten auch“, sagt er. Aber noch ist das nicht nötig. Im
ersten Stock befindet sich der Lageraum, drei große Leinwände zeigen, was
wichtig für die Lage ist: Rettungsfahrten, Intensivbetten, Quarantänefälle,
Coronakranke. 68 sind es an diesem Tag. „Die Kurve geht nicht mehr hoch“,
sagt Zohles. „Das hat sich halbwegs eingependelt, wir versuchen das so zu
halten.“
Auch sonst ist die Lage eher unkritisch. Rund 5.000 Einwohner*innen leben
in Seelow, in ganz Märkisch-Oderland sind es knapp 200.000. 29
Intensivbetten gibt es im Kreis, 21 sind frei. Zehn
Krankenhausmitarbeiter*innen und zwei Feuerwehrleute haben sich infiziert.
Selbst bei einem Waldbrand wären noch genug übrig, um zu löschen,
versichert Martin Zohles. Auch die Notfallausstattung sei gesichert.
[1][36.000 Schutzmasken] warten im Katastrophenschutzlager des Landkreises
auf ihren Einsatz. „Die meisten haben wir noch von der Geflügelpest und
Sars übrig behalten, und dann immer mal so ein bisschen was dazu gekauft,
wird ja nicht schlecht“, sagt Martin Zohles.
[2][Die Viruskrise] erschüttert Großmächte und Weltkonzerne, die meisten
traf sie unerwartet. [3][Sie hatte Folgen], die noch vor sechs Wochen
völlig unvorstellbar waren. Wie geht ein Landkreis, dessen schlimmste
Katastrophe bislang das Oderhochwasser war, mit einer solch historischen
Herausforderung um? Lässt sich hier im Kleinen beobachten, wie eine Krise
bewältigt werden kann? Und lassen sich daraus Rückschlüsse für andere
Regionen ziehen?
Vier Tage, in der Osterwoche, waren die taz-Reporter*innen, allein oder zu
zweit, in Märkisch-Oderland unterwegs, und blieben dabei auf Abstand.
Fuhren morgens nach MOL und am Abend wieder zurück nach Berlin. Sie
begleiteten einen Landrat und eine Krankenschwester, besuchten Behörden,
saßen in Sitzungen des Krisenstabs und beobachteten im Detail, wie sich ein
Landkreis auf den Ausnahmezustand vorbereitet.
## Der Koordinator
Gelbe Punkte zeigen die Corona-Verdachtsfälle auf einer digitalen Karte.
Grün sind die Genesenen, rot die aktuell Kranken. „Die Leute wollen dauernd
wissen, wo die Kranken wohnen“, sagt er. „Das machen wir nicht.“
Veröffentlicht wird nur eine geclusterte Karte, die zeigt, wo sich Fälle
häufen. Der Westen des Landkreises, der hinter der Stadtgrenze Berlins
beginnt, ist eine einzige gelbe Fläche. Eine Theorie dazu: Angestellte
expandierender Berliner Firmen waren zum Skifahren in Österreich und
Südtirol.
Über die Verwaltung, Behörden, Beamte haben sich vor allem zwei Befunde im
öffentlichen Bewusstsein abgelagert. Der eine: Sie seien behäbig und
ineffizient, wenn nicht gar korrupt, abgewandt vom Bürger und in ihrer
Paragrafenfixiertheit irrational. Der andere: Durch Neoliberalismus und
Schuldenbremse sei der Staat kaputt gespart und nicht mehr leistungsfähig.
Sollte dem so sein, müsste dies in dieser Krise voll durchschlagen. Doch
das Gegenteil ist der Fall.
Um alle Verdachtsfälle ausfindig zu machen, hat der Landkreis das
Gesundheitsamt von 12 auf über 80 Mitarbeiter*innen aufgestockt.
Lebensmittelkontrolleure, die sonst Restaurants überprüfen, telefonieren
jetzt Verdachtsfällen hinterher. Bei 80 Prozent aller Kranken ist es ihnen
gelungen, durch schnelles Eingreifen den Infektionsweg nachzuvollziehen.
Wächst die Verwaltung im Ernstfall über sich hinaus? Wurde nur der
Katastrophenschutz als ein Krieg und Militär verwandter Bereich von
Sparmaßnahmen immer ausgenommen und funktioniert deshalb so gut? Oder zeigt
sich hier, dass der öffentliche Dienst viel besser ist als sein Ruf?
Zahlen, Excel-Tabellen, Karten: Die Seuche, ihre Auswirkungen und
Entwicklung, gerinnen im Lageraum des Katastrophenschutzes zu konkretem
Wissen. Und je mehr es davon gibt, desto eher scheint Aufregung
routiniertem Pragmatismus zu weichen.
Martin Zohles reicht zur Begrüßung die Hand, der Kreis hat nicht den
Katastrophenfall ausgerufen, sondern nur den „Stabsfall“, ein Kaliber
darunter. Zohles hat seinen Leuten auch keine Urlaubssperre verpasst.
Corona werde sie noch eine Weile begleiten, sagt er, „da braucht man auch
mal frei.“ Denn dass die Lage heute entspannt ist, heißt nicht, dass das so
bleibt. „60 Erkrankte sind nicht viel. Aber es darf keinen sprunghaften
Anstieg geben.“
Zohles geht davon aus, dass der Ernstfall noch kommen könnte. Und dann? Der
Kreis hat mit den Krankenhäusern beraten, wie die Bettenzahl erhöht werden
könnten. Zu den „Worst-Case-Szenarien“ gehört auch, ein Flüchtlingsheim
wegen Corona dichtmachen zu müssen. Dann bräuchte es sofort einen neuen
Ort, um die Menschen in Quarantäne unterzubringen. „Zur Not akquirieren wir
Turnhallen“, sagt Zohles.
Reicht das? „Meine Frau fragt jeden Abend, warum es keine komplette
Ausgangssperre gibt“, sagt Martin Zohles. Hat sie recht? „Ich schätze, dass
das, was getan worden ist, schon was gebracht hat.“
## Der Landrat
Gernot Schmidt, 58, gelernter Agrartechniker und SPD-Mitglied, ist seit
2005 Landrat von Märkisch-Oderland. Er ist oberster Dienstherr des
Landkreises MOL und damit auch Kopf von kreiseigenen Einrichtungen wie
Rettungsdiensten und des Katastrophenschutzes. Schmidt ist weisungsbefugt,
„aber auch persönlich haftbar, anders als in Berlin“, wie er betont. Wenn
Gernot Schmidt etwas verbockt, könnten Geschädigte Rechtsansprüche geltend
machen.
Könnten. Schmidt gibt sich hemdsärmelig und selbstbewusst. Ein
Provinzregent, der sich auch schon mal quer zur Landesregierung stellt.
[4][„Der Buschkowsky Brandenburgs“] nannte ihn die Märkische Allgemeine
Zeitung (MAZ), der in der sogenannten Flüchtlingskrise striktere Regelungen
einführte, als die Landesregierung vorschrieb.
„Wir grenzen niemanden aus“, sagt Schmidt und spielt damit auf die
Entscheidung anderer Landkreise an, Berliner*innen den Ausflug ins
Umland zu verbieten. Wies Märkisch-Oderland anfangs die höchste Quote an
Coronakranken in Brandenburg auf, rangiert der Landkreis mittlerweile auf
Platz vier oder fünf.
Wie erklärt sich Schmidt dies? „Weil wir eine eigene kommunale Struktur
haben, können wir anders durchgreifen.“ Der Landkreis hat in den letzten
Jahren in die Daseinsvorsorge investiert. In eigene Krankenhäuser,
Rettungsdienste und medizinische Versorgungszentren. Für den Notfall sei
der Landkreis gut aufgestellt, sagt Schmidt.
Bereits Mitte Februar hat er einen Krisenstab einberufen, jeden Morgen gibt
es eine Telefonkonferenz. Was müsste passieren, damit der Katastrophenfall
ausgerufen wird? „Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, mit den jetzigen
Ressourcen die Lage zu steuern“, sagt Schmidt. Sein Referent präzisiert:
„Unser Bestreben ist es, möglichst vor der Lage zu sein.“
## Der Krisenstab
Mittwochs tagt der Krisenstab in persona. Ein knappes Dutzend Mitarbeiter
des Landkreises, der Polizei und des kreiseigenen Rettungsdienstes warten
im obersten Stockwerk des Landratsamts Seelow. Martin Zohles, der
Katastrophenschützer, sitzt mit Landrat Schmidt am Kopfende. Die Vertreter
der Polizeiinspektion in Strausberg sind noch nicht da. Angela Krug, die
Leiterin der kreiseigenen Krankenhausgesellschaft, kommt herein. „Ihr
tragt ja alle gar keine Masken“, sagt sie. Sie ist die Einzige im Raum mit
Mundschutz vor dem Gesicht.
„Wir haben keine“, sagt Landrat Schmidt.
„Aber ich“, sagt Krug. 55.000 Masken sind am Vortag im Krankenhaus
angekommen.
Auch Friedemann Hanke sitzt mit am Tisch. Er leitet den Fachbereich
Soziales des örtlichen Gesundheitsamt. „117 Fälle gegenüber 86 in der
Vorwoche“, liest er vor. „Stetiger Zuwachs, aber nicht in beunruhigendem
Maße.“ Problematisch ist eher, dass zwei der neuen Fälle in der Fachklinik
und Moorbad Bad Freienwalde aufgetreten sind. Die 150 Patient*innen mussten
nach Hause.
„Das Personal aus Bad Freienwalde werden wir heranziehen“, sagt
Krankenhauschefin Krug. In der Nacht seien drei neue Beatmungspatienten
eingeliefert worden. „Das springt jetzt nach oben.“ In den letzten Tagen
hat Krug Stationen zu reinen Coronastationen umgewidmet. Deshalb fehlen ihr
jetzt Schutzkittel.
„Wie lange reichen die Kittel noch?“, will der Landrat von Angela Krug
wissen. „Bis Ostermontag jedenfalls nicht.“ Die Feuerwehr habe noch Kittel,
wirft jemand aus der Runde ein. „Unpraktikabel, die sind extrem aufwendig
zu desinfizieren“, sagt Krug. „Bevor die Leute da ungeschützt reingehen,
müsstet ihr die im Feuerwehrtechnischen Zentrum desinfizieren“, sagt der
Landrat zu Martin Zohles. Der nickt.
Auch bei den Rettungsdiensten macht Corona sich jetzt bemerkbar. 15
Mitarbeiter*innen sind entweder infiziert oder stehen unter häuslicher
Quarantäne. Eine Urlaubssperre gebe es noch nicht, aber Fortbildungen seien
ausgesetzt und Rettungsassistenten-Azubis im zweiten Lehrjahr für den
regulären Dienst eingeteilt, sagt der Leiter des Rettungsdienstes.
Sorgen macht ihm, dass viele der Corona-Einsätze nicht bezahlt werden. „Die
Krankenkassen bezahlen den Rettungswagen nur, wenn er Kranke
transportiert.“ Die meisten Coronapatienten aber bleiben erst mal in
häuslicher Isolation. „Wenn das so weitergeht, machen wir in diesem Monat
rund 250.000 Euro Verlust.“ Fachbereichsleiter Friedemann Hanke vom
Gesundheitsamt will das Problem bei der Landesregierung ansprechen.
Mittlerweile ist die Polizei da. „Kaum ’ne Lage“ gebe es, sagt der
Inspektionsleiter, kaum jemand verstoße gegen die Vorschriften.
Alle, die in diesem Raum sitzen, haben Macht. Der „Stabsfall“ hat diese
noch erweitert. Um die Seuche zu bekämpfen, kann die Verwaltung Anordnungen
und Verbote erlassen, die erst nachträglich gerichtlich überprüft werden
können. Die Pandemie, der Schutz von Menschenleben, ist dafür eine starke
Legitimation.
Manche im Land fürchten, diese könnte missbraucht werden, um
durchzuregieren. Von „Totalitarismus“ und „Diktatur“ oder deren
Vorbereitung ist in den sozialen Medien die Rede. Die Diskussionen im
Landratsamt von Märkisch-Oderland haben mit diesen Debatten wenig zu tun.
Friedemann Hanke hat einen Bußgeldkatalog vorbereitet. „Aber wir müssen
zusehen, dass wir damit nicht Denunziantentum Vorschub leisten“, sagt er in
Richtung der Polizisten. „Die Ordnungsämter sind angehalten, mit Augenmaß
zu agieren.“ Ob er eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit für angebracht
halte, will jemand wissen. „Wie in Jena?“, fragt Hanke. „Wir können den
Leuten das nicht vorschreiben, wenn wir nicht mal eine rudimentäre
Versorgung mit Material anbieten können.“
Er schlägt dem Krisenstab vor, sich parallel schon mal auf die afrikanische
Schweinepest vorzubereiten. Die stehe bald ins Haus. „Die Welt steht ja
wegen Corona nicht still. Da werden wir Zäune ziehen müssen.“
## Die Oberschwester
Das Abstrichzentrum ist ein Provisorium, untergebracht im Oberstufenzentrum
Strausberg. Von außen ein Backsteinbau, innen hängen noch Winkelmesser und
Zirkel für den Geometrieunterricht an der Wand. Das Abstrichzentrum war die
Idee zweier Ärzt*innen, die lernten, wie aufwendig es ist, potenziell
Infizierte in der eigenen Praxis zu testen.
Das mit der Feuerleiter war die Idee des zuständigen Hausmeisters. Dort
steigt nun eine Frau hinauf, ein paar Stufen sind es, von dort beugt sie
sich über die Fensterbank in das Klassenzimmer hinein, sie atmet schlecht.
Die Ärztin wartet schon. Neben ihr steht Oberschwester Steffi Lindenau. Die
Patientin keucht, als sie vom Asthma erzählt. Vom Sauerstoff, den sie zu
Hause hat und täglich braucht.
Diese unsichtbare Coronagefahr bekommt auf der Feuerleiter von Haus 4 des
Berufsschulzentrums ein Gesicht – ein Gesicht, dem Lindenau und ihre
Kolleg*innen mit Schutzanzug und Gesichtsmaske, mit Handschuhen und viel
Desinfektionsmittel gegenüberstehen.
20 Personen haben sie heute zusammen getestet, ob positiv oder negativ,
dass erfährt Steffi Lindenau nicht. Warum sie das alles macht? „Man muss
doch mit bestem Beispiel vorangehen“, sagt sie, und: „Vielleicht gibt es ja
doch das Bundesverdienstkreuz.“ Darüber lacht sie.
Noch ist Corona nicht überstanden. Was passiert, wenn die Zahlen auch in
Märkisch-Oderland wieder exponentiell steigen, wenn es wirklich eine Lage
gibt?
„Von unserer Seite wird es keine Triage geben“, sagt der Landrat Schmidt.
Für den Fall der Fälle haben sie ein Team rekrutiert, das aus einem
Mediziner, einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer besteht. Und
wie um das mögliche moralische Dilemma angemessen zu beschreiben, fährt
Schmidt mit großer Geste fort: „Wir sind der Meinung, dass man in der
Katastrophe einen philosophischen Leitfaden braucht. Wir werden uns ihren
Weisungen unterwerfen.“
## Der Amtsarzt
Das Gesundheitsamt ist zum wichtigsten Teil der Kreisverwaltung
aufgestiegen. Publikumsverkehr gibt es nicht, trotzdem herrscht auf dem
Gang Betrieb, die Bürotüren sind geöffnet. Zwei Mitarbeiterinnen mit
Laptops geben die Meldungen in eine Maske ein – Verdachts- und
Infektionsfälle, genesene Kranke. Sie werden ans Landesamt für Gesundheit
und von dort ans Robert-Koch-Institut weitergeleitet.
Die beiden arbeiten sonst in anderen Abteilungen der Kreisverwaltung. Ein
Amt, das jetzt im Krisenmodus läuft. Auf einem Tisch an der Wand stehen
Getränke, mitgebrachte Kuchenstücke und Süßigkeiten. Sie sorgen für sich
und für einander.
„Es ist toll, wie sich die Mitarbeiter reinknien“, sagt Amtsarzt Steffen
Hampel. „Klar, ist das ein Stresstest.“ Die Anfänge seien holprig gewesen.
Ständig hätten sich die Vorgaben von Bund und Land geändert, aber
„inzwischen haben sich die Abläufe eingespielt“, sagt Hampel, der lange als
Kinder- und Jugendarzt gearbeitet hat und seit 12 Jahren als Amtsarzt tätig
ist. „Routine im positiven Sinn.“
Jetzt, da die Kurve nur noch linear ansteige, habe er Zeit, sich um „die
besonderen Fälle“ zu kümmern, wie er sagt. „Die ganzen Verästelungen, die
sich in einzelnen Fällen ergeben.“ Im Fall eines erkrankten Arztes waren es
150 Kontaktpersonen, die es aufzuspüren galt.
Die Krankenhäuser der Region, im Besitz des Landkreises oder freier Träger,
arbeiten eigenverantwortlich – der Krisenstab steuert. Gerade wird in
Rüdersdorf das vierte Abstrichzentrum eröffnet: Der Landkreis stellt die
Schutzausrüstungen, das Krankenhaus das Personal. „Das funktioniert nur,
wenn man Kontaktpflege betreibt“, sagt Hampel.
Wie viele Verantwortliche im Landkreis beklagt auch er das Fehlen von
Schutzausrüstung. „An Anfang haben die Krankenschwestern mit Regencapes
gearbeitet“, erzählt er. „Das ist mein größter Kritikpunkt, dass wir es …
Deutschland nicht hingekriegt haben, selber Schutzkleidung zu produzieren.“
Wären zentralistische Strukturen hilfreich? „Per se ist Zentralismus in
solchen Situationen günstiger“, sagt der Amtsarzt, „umso erstaunlicher,
dass trotz föderaler Strukturen rechtzeitig der Schalter umgelegt werden
konnte.“
## Der Polizist
Polizeipräsidium Strausberg. Inspektionsleiter Sven Brandau ist am Vortag
beim der Krisenstab in Seelow dabei gewesen. Wenn auch etwas spät. Auch er
reicht zur Begrüßung die Hand. Kekse liegen auf dem Besprechungstisch.
Seine Polizei arbeitet viel von zu Hause aus – es sei „ja nicht wie
im,Tatort'.“ Es gibt viel Papierarbeit, und das geht auch zu Hause am
Computer. Was wegfällt, sind Sprechstunden. Und Präventionsarbeit:
Fahrradunterricht für Kinder, Besuche in Schulen.
Tatsächlich ändert sich die Polizeiarbeit durchaus. Einerseits durch andere
Anforderungen – die Polizei leistet Amtshilfe für die Ordnungsämter, um die
Coronaverordnung durchzusetzen. Derzeit mühen sich viele Bürger*innen
ab, diese neuen Verordnungen zu verstehen: Was darf man und was nicht? Wie
gehen die Polizisten damit um, mit Menschen, die im Verordnungswirrwarr
nicht durchsehen? „Es geht um eine Umsetzung mit Augenmaß“, antwortet
Brandau.
Und es treten andere Formen der Kriminalität auf: weniger
Wohnungseinbrüche, weniger Verkehrsunfälle, dafür mehr Einbrüche in
Unternehmen, um Werkzeuge zu stehlen beispielsweise.
Besonders ist auch: Die Polizei wird üblicherweise eingesetzt, um offene
Haftbefehle zu vollstrecken. Die sind aber gerade auch ausgesetzt.
Stattdessen kontrollieren die Polizisten nun, ob die Positivfälle ihre
Quarantäne einhalten, wenn auch stichprobenartig – jede*r Betroffene wird
nur einmal besucht.
Die Durchsetzung des Infektionsschutzgesetzes ist Sache des
Gesundheitsamts, das wiederum das Ordnungsamt nutzen darf. Die Polizei
unterstützt nur dabei. „Machen wir uns nicht vor“, sagt Brandau, „wir ha…
keine Lage. Ich wüsste auch nicht, welche Lage auf die Polizei zukommen
sollte.“ Einzig denkbares Szenario wären für ihn Unruhen. „Aber dann ist
nicht nur die Polizei gefragt, sondern in erster Linie die Politik.“
## Die Amtsdirektorin
Roswitha Thiede ist Amtsdirektorin von Seelow-Land, einem
Verwaltungsverbund von fünf kleinen Gemeinden mit insgesamt 4.800
Einwohner*innen. Wenn Gernot Schmidt ein Landrat im Großen ist, ist sie
eine im Kleinen. „Die Zusammenarbeit mit dem Landkreis ist gut“, sagt sie
„wir sind ja die letzten in der Kette.“ Thiede, 60, hat ihr Büro in einem
Neubau gleich neben dem Rathaus von Seelow. „Unsere Bevölkerung ist
gehorsam und sehr diszipliniert“, sagt sie. „Letztes Wochenende mussten wir
keine einzige Verwarnung aussprechen.“
Könnte es daran liegen, dass die soziale Kontrolle auf dem Land größer ist?
Soziale Distanz schließt schließlich soziale Kontrolle nicht aus. „Wir
müssen die gleichen Regeln einhalten wie in den Städten“, sagt Thiede.
„Aber in den Dörfern geht es nicht so anonym zu. Manche sind fast ein
bisschen übereifrig.“
Die These von der Vereinsamung auf dem Land teilt Thiede nicht. Viele alte
Menschen lebten noch zu Hause, und in den letzten zwei, drei Jahren seien
viele junge Familien hergezogen. „Das Ländliche kriegt wieder Aufwind“,
sagt sie. Seelow-Land leistet sich den Luxus von fünf kleinen Kitas – „das
ist finanziell viel aufwendiger als eine große“, sagt Thiede. Jetzt ist sie
froh darüber. „Vielleicht lehrt uns diese Geschichte, umzudenken und nicht
alles zu zentralisieren.“
## Die Kita
Im Sandkasten der Kita „Märchenland“, im Zentrum von Seelow, spielen an
diesem Morgen nur drei Kinder. Cordula Töpfer sitzt etwas abseits und
schaut zu. Töpfer ist Geschäftsführerin des DRK-Kreisverbands
Märkisch-Oderland Ost, dem Träger der Kindertagesstätte. „Uns hat das
ziemlich überrannt“, sagt Töpfer. Für die Notbetreuung versuchen sie, den
Kindern ein „gewohntes Umfeld“ zu bieten.
Masken möchten die Erzieher*innen im Kindergarten aber nicht tragen, sagt
Töpfer. „Da kriegen die Kinder doch Angst!“ 4,5 Prozent der Kitakinder
beanspruchen die Notbetreuung. Eltern, die nicht in systemrelevanten
Berufen arbeiten, können sich für eine Einzelfallentscheidung an den
Landkreis wenden. „Der entscheidet das dann“, sagt Töpfer.
Familien, die keinen Anspruch auf eine Notbetreuung haben, müssen ab April
vorerst keine Kitabeiträge zahlen, bestimmte die Landesregierung. „Uns
standen wirklich Schweißperlen auf der Stirn“, sagt Töpfer. Zum Glück wolle
das Land nun für die Beiträge aufkommen. Voraussichtlich 14 Millionen Euro
pro Monat werden das es landesweit sein.
Ansonsten hätten die Erzieher*innen in Kurzarbeit gehen müssen. Jetzt
können sie stattdessen Sachen anpacken, die normalerweise auf der Strecke
bleiben – an der Homepage der Kita arbeiten zum Beispiel. Den daheim
gebliebenen Kindern haben sie Osterüberraschungsbriefe geschickt. Und
Osterüberraschungen für Senior*innen im Pflegeheim gebastelt.
## Die Hotelwirtin
Das Waldhotel in Vierlinden außerhalb von Seelow hat immer noch geöffnet –
auch wenn touristische Übernachtungen verboten sind. Seit 1992 ist das
Hotel in Familienbesitz, 38 Zimmer, ein flaches langgestrecktes Gebäude,
das auf einem ehemaligen NVA-Gelände liegt. Es seien einige wenige deutsche
Monteure da, sagt Geschäftsführerin Antje Beer. „Viele kommen seit Jahren
schon.“
Im Foyer sind die Barhocker zur Seite geräumt, am Tresen können sich die
Übernachtungsgäste Frühstück und Essen abholen und mit aufs Zimmer nehmen.
Amt und Polizei seien kontrollieren gekommen, sagt Beer. Jeder
Neuankömmling müsse sich mit einem Schreiben seiner Firma ausweisen, oft
für Erneuerbare Energien oder Breitbandinternet, die in der Region stark
ausgebaut werden.
Beer bangt um die Zukunft ihre Betriebs. Ihre neun Mitarbeiter*innen hat
sie in Kurzarbeit geschickt, die Zusage für staatliche Beihilfen eben heute
erhalten. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Für das Wochenende und die
Woche nach Ostern liegt keine Reservierung mehr vor, „wir haben
Stornierungen bis in den September hinein“, sagt Beer. Was kommt nach der
akuten Pandemiephase? „Das Danach fängt man nicht mehr auf“, sagt sie. „…
Hilfen müsste es auch später noch geben.“
## Die Gelassenheit
Landrat Schmidt sagt: „Wir haben schon einiges durchlebt.“
Märkisch-Oderland hat Erfahrung mit kleineren und größeren Katastrophen.
Schmidt zählt auf: Eishochwasser, dreimal die Vogelgrippe, das legendäre
Oderhochwasser.
Die nächste Katastrophe ist rein geografisch nicht fern: die afrikanische
Schweinepest, die nur 80 Kilometer östlich, in Polen, bereits angekommen
ist. „Unsere Leute sind erfahren“, sagt Schmidt. Vielleicht rührt daher die
Gelassenheit, der pragmatische Umgang mit einem Virus, das keine Grenzen
und keine Autoritäten akzeptiert, dem man aber mit Engagement und
Vorausschau begegnen kann.
18 Apr 2020
## LINKS
[1] /Masken-gegen-Corona/!5679173/
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746/
[3] /Weltweite-Folgen-der-Corona-Krise/!5670630/
[4] https://www.maz-online.de/Brandenburg/Ein-Landrat-hat-gerecht-zu-sein-nicht…
## AUTOREN
Sabine Seifert
Christian Jakob
Christina Schmidt
Natalie Meinert
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