# taz.de -- Coronapandemie in der Provinz: Die Lage auf dem Land | |
> Der brandenburgische Landkreis Märkisch-Oderland kämpft gegen Corona – | |
> und bleibt dabei gelassen. | |
Bild: Corona-Tests in einer Drive-Through-Abstrichstelle der Immanuelklinik in … | |
Vier Wochen ist es her, dass die globale Seuche auch über Seelow | |
hereinbrach. Die Kleinstadt liegt im Osten Brandenburgs und gehört zum | |
Landkreis Märkisch-Oderland (MOL), der sich von Berlin bis nach Polen | |
zieht. Als hier die ersten 26 Fälle gezählt wurden, schaltete MOL in den | |
Krisenmodus. Das war am 17. März. | |
Einer der wichtigsten Menschen im Landkreis ist seitdem Martin Zohles. Der | |
leitet das Zivil-, Brand- und Katastrophenschutzamt, für das sich in | |
normalen Zeiten niemand interessiert. Aber die normalen Zeiten sind vorbei. | |
Zohles ist 33, hochaufgeschossen, trägt Seitenscheitel. Er war lange Jahre | |
Amtsbrandmeister und auch mal Linken-Fraktionsvorsitzender in der | |
Nachbargemeinde Neuhardenberg. Jetzt koordiniert den Notfall. Zohles Büro | |
liegt in einem modernen Mehrzweckgebäude im Gewerbegebiet von Seelow. Die | |
Freiwillige Feuerwehr ist direkt nebenan. 13 Mitarbeiter*innen arbeiten für | |
Zohles Katastrophenamt. | |
„Wir könnten hier übernachten, falls wir in Quarantäne müssen. Ein Bett f… | |
jeden ist da, Zahnbürsten auch“, sagt er. Aber noch ist das nicht nötig. Im | |
ersten Stock befindet sich der Lageraum, drei große Leinwände zeigen, was | |
wichtig für die Lage ist: Rettungsfahrten, Intensivbetten, Quarantänefälle, | |
Coronakranke. 68 sind es an diesem Tag. „Die Kurve geht nicht mehr hoch“, | |
sagt Zohles. „Das hat sich halbwegs eingependelt, wir versuchen das so zu | |
halten.“ | |
Auch sonst ist die Lage eher unkritisch. Rund 5.000 Einwohner*innen leben | |
in Seelow, in ganz Märkisch-Oderland sind es knapp 200.000. 29 | |
Intensivbetten gibt es im Kreis, 21 sind frei. Zehn | |
Krankenhausmitarbeiter*innen und zwei Feuerwehrleute haben sich infiziert. | |
Selbst bei einem Waldbrand wären noch genug übrig, um zu löschen, | |
versichert Martin Zohles. Auch die Notfallausstattung sei gesichert. | |
[1][36.000 Schutzmasken] warten im Katastrophenschutzlager des Landkreises | |
auf ihren Einsatz. „Die meisten haben wir noch von der Geflügelpest und | |
Sars übrig behalten, und dann immer mal so ein bisschen was dazu gekauft, | |
wird ja nicht schlecht“, sagt Martin Zohles. | |
[2][Die Viruskrise] erschüttert Großmächte und Weltkonzerne, die meisten | |
traf sie unerwartet. [3][Sie hatte Folgen], die noch vor sechs Wochen | |
völlig unvorstellbar waren. Wie geht ein Landkreis, dessen schlimmste | |
Katastrophe bislang das Oderhochwasser war, mit einer solch historischen | |
Herausforderung um? Lässt sich hier im Kleinen beobachten, wie eine Krise | |
bewältigt werden kann? Und lassen sich daraus Rückschlüsse für andere | |
Regionen ziehen? | |
Vier Tage, in der Osterwoche, waren die taz-Reporter*innen, allein oder zu | |
zweit, in Märkisch-Oderland unterwegs, und blieben dabei auf Abstand. | |
Fuhren morgens nach MOL und am Abend wieder zurück nach Berlin. Sie | |
begleiteten einen Landrat und eine Krankenschwester, besuchten Behörden, | |
saßen in Sitzungen des Krisenstabs und beobachteten im Detail, wie sich ein | |
Landkreis auf den Ausnahmezustand vorbereitet. | |
## Der Koordinator | |
Gelbe Punkte zeigen die Corona-Verdachtsfälle auf einer digitalen Karte. | |
Grün sind die Genesenen, rot die aktuell Kranken. „Die Leute wollen dauernd | |
wissen, wo die Kranken wohnen“, sagt er. „Das machen wir nicht.“ | |
Veröffentlicht wird nur eine geclusterte Karte, die zeigt, wo sich Fälle | |
häufen. Der Westen des Landkreises, der hinter der Stadtgrenze Berlins | |
beginnt, ist eine einzige gelbe Fläche. Eine Theorie dazu: Angestellte | |
expandierender Berliner Firmen waren zum Skifahren in Österreich und | |
Südtirol. | |
Über die Verwaltung, Behörden, Beamte haben sich vor allem zwei Befunde im | |
öffentlichen Bewusstsein abgelagert. Der eine: Sie seien behäbig und | |
ineffizient, wenn nicht gar korrupt, abgewandt vom Bürger und in ihrer | |
Paragrafenfixiertheit irrational. Der andere: Durch Neoliberalismus und | |
Schuldenbremse sei der Staat kaputt gespart und nicht mehr leistungsfähig. | |
Sollte dem so sein, müsste dies in dieser Krise voll durchschlagen. Doch | |
das Gegenteil ist der Fall. | |
Um alle Verdachtsfälle ausfindig zu machen, hat der Landkreis das | |
Gesundheitsamt von 12 auf über 80 Mitarbeiter*innen aufgestockt. | |
Lebensmittelkontrolleure, die sonst Restaurants überprüfen, telefonieren | |
jetzt Verdachtsfällen hinterher. Bei 80 Prozent aller Kranken ist es ihnen | |
gelungen, durch schnelles Eingreifen den Infektionsweg nachzuvollziehen. | |
Wächst die Verwaltung im Ernstfall über sich hinaus? Wurde nur der | |
Katastrophenschutz als ein Krieg und Militär verwandter Bereich von | |
Sparmaßnahmen immer ausgenommen und funktioniert deshalb so gut? Oder zeigt | |
sich hier, dass der öffentliche Dienst viel besser ist als sein Ruf? | |
Zahlen, Excel-Tabellen, Karten: Die Seuche, ihre Auswirkungen und | |
Entwicklung, gerinnen im Lageraum des Katastrophenschutzes zu konkretem | |
Wissen. Und je mehr es davon gibt, desto eher scheint Aufregung | |
routiniertem Pragmatismus zu weichen. | |
Martin Zohles reicht zur Begrüßung die Hand, der Kreis hat nicht den | |
Katastrophenfall ausgerufen, sondern nur den „Stabsfall“, ein Kaliber | |
darunter. Zohles hat seinen Leuten auch keine Urlaubssperre verpasst. | |
Corona werde sie noch eine Weile begleiten, sagt er, „da braucht man auch | |
mal frei.“ Denn dass die Lage heute entspannt ist, heißt nicht, dass das so | |
bleibt. „60 Erkrankte sind nicht viel. Aber es darf keinen sprunghaften | |
Anstieg geben.“ | |
Zohles geht davon aus, dass der Ernstfall noch kommen könnte. Und dann? Der | |
Kreis hat mit den Krankenhäusern beraten, wie die Bettenzahl erhöht werden | |
könnten. Zu den „Worst-Case-Szenarien“ gehört auch, ein Flüchtlingsheim | |
wegen Corona dichtmachen zu müssen. Dann bräuchte es sofort einen neuen | |
Ort, um die Menschen in Quarantäne unterzubringen. „Zur Not akquirieren wir | |
Turnhallen“, sagt Zohles. | |
Reicht das? „Meine Frau fragt jeden Abend, warum es keine komplette | |
Ausgangssperre gibt“, sagt Martin Zohles. Hat sie recht? „Ich schätze, dass | |
das, was getan worden ist, schon was gebracht hat.“ | |
## Der Landrat | |
Gernot Schmidt, 58, gelernter Agrartechniker und SPD-Mitglied, ist seit | |
2005 Landrat von Märkisch-Oderland. Er ist oberster Dienstherr des | |
Landkreises MOL und damit auch Kopf von kreiseigenen Einrichtungen wie | |
Rettungsdiensten und des Katastrophenschutzes. Schmidt ist weisungsbefugt, | |
„aber auch persönlich haftbar, anders als in Berlin“, wie er betont. Wenn | |
Gernot Schmidt etwas verbockt, könnten Geschädigte Rechtsansprüche geltend | |
machen. | |
Könnten. Schmidt gibt sich hemdsärmelig und selbstbewusst. Ein | |
Provinzregent, der sich auch schon mal quer zur Landesregierung stellt. | |
[4][„Der Buschkowsky Brandenburgs“] nannte ihn die Märkische Allgemeine | |
Zeitung (MAZ), der in der sogenannten Flüchtlingskrise striktere Regelungen | |
einführte, als die Landesregierung vorschrieb. | |
„Wir grenzen niemanden aus“, sagt Schmidt und spielt damit auf die | |
Entscheidung anderer Landkreise an, Berliner*innen den Ausflug ins | |
Umland zu verbieten. Wies Märkisch-Oderland anfangs die höchste Quote an | |
Coronakranken in Brandenburg auf, rangiert der Landkreis mittlerweile auf | |
Platz vier oder fünf. | |
Wie erklärt sich Schmidt dies? „Weil wir eine eigene kommunale Struktur | |
haben, können wir anders durchgreifen.“ Der Landkreis hat in den letzten | |
Jahren in die Daseinsvorsorge investiert. In eigene Krankenhäuser, | |
Rettungsdienste und medizinische Versorgungszentren. Für den Notfall sei | |
der Landkreis gut aufgestellt, sagt Schmidt. | |
Bereits Mitte Februar hat er einen Krisenstab einberufen, jeden Morgen gibt | |
es eine Telefonkonferenz. Was müsste passieren, damit der Katastrophenfall | |
ausgerufen wird? „Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, mit den jetzigen | |
Ressourcen die Lage zu steuern“, sagt Schmidt. Sein Referent präzisiert: | |
„Unser Bestreben ist es, möglichst vor der Lage zu sein.“ | |
## Der Krisenstab | |
Mittwochs tagt der Krisenstab in persona. Ein knappes Dutzend Mitarbeiter | |
des Landkreises, der Polizei und des kreiseigenen Rettungsdienstes warten | |
im obersten Stockwerk des Landratsamts Seelow. Martin Zohles, der | |
Katastrophenschützer, sitzt mit Landrat Schmidt am Kopfende. Die Vertreter | |
der Polizeiinspektion in Strausberg sind noch nicht da. Angela Krug, die | |
Leiterin der kreiseigenen Krankenhausgesellschaft, kommt herein. „Ihr | |
tragt ja alle gar keine Masken“, sagt sie. Sie ist die Einzige im Raum mit | |
Mundschutz vor dem Gesicht. | |
„Wir haben keine“, sagt Landrat Schmidt. | |
„Aber ich“, sagt Krug. 55.000 Masken sind am Vortag im Krankenhaus | |
angekommen. | |
Auch Friedemann Hanke sitzt mit am Tisch. Er leitet den Fachbereich | |
Soziales des örtlichen Gesundheitsamt. „117 Fälle gegenüber 86 in der | |
Vorwoche“, liest er vor. „Stetiger Zuwachs, aber nicht in beunruhigendem | |
Maße.“ Problematisch ist eher, dass zwei der neuen Fälle in der Fachklinik | |
und Moorbad Bad Freienwalde aufgetreten sind. Die 150 Patient*innen mussten | |
nach Hause. | |
„Das Personal aus Bad Freienwalde werden wir heranziehen“, sagt | |
Krankenhauschefin Krug. In der Nacht seien drei neue Beatmungspatienten | |
eingeliefert worden. „Das springt jetzt nach oben.“ In den letzten Tagen | |
hat Krug Stationen zu reinen Coronastationen umgewidmet. Deshalb fehlen ihr | |
jetzt Schutzkittel. | |
„Wie lange reichen die Kittel noch?“, will der Landrat von Angela Krug | |
wissen. „Bis Ostermontag jedenfalls nicht.“ Die Feuerwehr habe noch Kittel, | |
wirft jemand aus der Runde ein. „Unpraktikabel, die sind extrem aufwendig | |
zu desinfizieren“, sagt Krug. „Bevor die Leute da ungeschützt reingehen, | |
müsstet ihr die im Feuerwehrtechnischen Zentrum desinfizieren“, sagt der | |
Landrat zu Martin Zohles. Der nickt. | |
Auch bei den Rettungsdiensten macht Corona sich jetzt bemerkbar. 15 | |
Mitarbeiter*innen sind entweder infiziert oder stehen unter häuslicher | |
Quarantäne. Eine Urlaubssperre gebe es noch nicht, aber Fortbildungen seien | |
ausgesetzt und Rettungsassistenten-Azubis im zweiten Lehrjahr für den | |
regulären Dienst eingeteilt, sagt der Leiter des Rettungsdienstes. | |
Sorgen macht ihm, dass viele der Corona-Einsätze nicht bezahlt werden. „Die | |
Krankenkassen bezahlen den Rettungswagen nur, wenn er Kranke | |
transportiert.“ Die meisten Coronapatienten aber bleiben erst mal in | |
häuslicher Isolation. „Wenn das so weitergeht, machen wir in diesem Monat | |
rund 250.000 Euro Verlust.“ Fachbereichsleiter Friedemann Hanke vom | |
Gesundheitsamt will das Problem bei der Landesregierung ansprechen. | |
Mittlerweile ist die Polizei da. „Kaum ’ne Lage“ gebe es, sagt der | |
Inspektionsleiter, kaum jemand verstoße gegen die Vorschriften. | |
Alle, die in diesem Raum sitzen, haben Macht. Der „Stabsfall“ hat diese | |
noch erweitert. Um die Seuche zu bekämpfen, kann die Verwaltung Anordnungen | |
und Verbote erlassen, die erst nachträglich gerichtlich überprüft werden | |
können. Die Pandemie, der Schutz von Menschenleben, ist dafür eine starke | |
Legitimation. | |
Manche im Land fürchten, diese könnte missbraucht werden, um | |
durchzuregieren. Von „Totalitarismus“ und „Diktatur“ oder deren | |
Vorbereitung ist in den sozialen Medien die Rede. Die Diskussionen im | |
Landratsamt von Märkisch-Oderland haben mit diesen Debatten wenig zu tun. | |
Friedemann Hanke hat einen Bußgeldkatalog vorbereitet. „Aber wir müssen | |
zusehen, dass wir damit nicht Denunziantentum Vorschub leisten“, sagt er in | |
Richtung der Polizisten. „Die Ordnungsämter sind angehalten, mit Augenmaß | |
zu agieren.“ Ob er eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit für angebracht | |
halte, will jemand wissen. „Wie in Jena?“, fragt Hanke. „Wir können den | |
Leuten das nicht vorschreiben, wenn wir nicht mal eine rudimentäre | |
Versorgung mit Material anbieten können.“ | |
Er schlägt dem Krisenstab vor, sich parallel schon mal auf die afrikanische | |
Schweinepest vorzubereiten. Die stehe bald ins Haus. „Die Welt steht ja | |
wegen Corona nicht still. Da werden wir Zäune ziehen müssen.“ | |
## Die Oberschwester | |
Das Abstrichzentrum ist ein Provisorium, untergebracht im Oberstufenzentrum | |
Strausberg. Von außen ein Backsteinbau, innen hängen noch Winkelmesser und | |
Zirkel für den Geometrieunterricht an der Wand. Das Abstrichzentrum war die | |
Idee zweier Ärzt*innen, die lernten, wie aufwendig es ist, potenziell | |
Infizierte in der eigenen Praxis zu testen. | |
Das mit der Feuerleiter war die Idee des zuständigen Hausmeisters. Dort | |
steigt nun eine Frau hinauf, ein paar Stufen sind es, von dort beugt sie | |
sich über die Fensterbank in das Klassenzimmer hinein, sie atmet schlecht. | |
Die Ärztin wartet schon. Neben ihr steht Oberschwester Steffi Lindenau. Die | |
Patientin keucht, als sie vom Asthma erzählt. Vom Sauerstoff, den sie zu | |
Hause hat und täglich braucht. | |
Diese unsichtbare Coronagefahr bekommt auf der Feuerleiter von Haus 4 des | |
Berufsschulzentrums ein Gesicht – ein Gesicht, dem Lindenau und ihre | |
Kolleg*innen mit Schutzanzug und Gesichtsmaske, mit Handschuhen und viel | |
Desinfektionsmittel gegenüberstehen. | |
20 Personen haben sie heute zusammen getestet, ob positiv oder negativ, | |
dass erfährt Steffi Lindenau nicht. Warum sie das alles macht? „Man muss | |
doch mit bestem Beispiel vorangehen“, sagt sie, und: „Vielleicht gibt es ja | |
doch das Bundesverdienstkreuz.“ Darüber lacht sie. | |
Noch ist Corona nicht überstanden. Was passiert, wenn die Zahlen auch in | |
Märkisch-Oderland wieder exponentiell steigen, wenn es wirklich eine Lage | |
gibt? | |
„Von unserer Seite wird es keine Triage geben“, sagt der Landrat Schmidt. | |
Für den Fall der Fälle haben sie ein Team rekrutiert, das aus einem | |
Mediziner, einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer besteht. Und | |
wie um das mögliche moralische Dilemma angemessen zu beschreiben, fährt | |
Schmidt mit großer Geste fort: „Wir sind der Meinung, dass man in der | |
Katastrophe einen philosophischen Leitfaden braucht. Wir werden uns ihren | |
Weisungen unterwerfen.“ | |
## Der Amtsarzt | |
Das Gesundheitsamt ist zum wichtigsten Teil der Kreisverwaltung | |
aufgestiegen. Publikumsverkehr gibt es nicht, trotzdem herrscht auf dem | |
Gang Betrieb, die Bürotüren sind geöffnet. Zwei Mitarbeiterinnen mit | |
Laptops geben die Meldungen in eine Maske ein – Verdachts- und | |
Infektionsfälle, genesene Kranke. Sie werden ans Landesamt für Gesundheit | |
und von dort ans Robert-Koch-Institut weitergeleitet. | |
Die beiden arbeiten sonst in anderen Abteilungen der Kreisverwaltung. Ein | |
Amt, das jetzt im Krisenmodus läuft. Auf einem Tisch an der Wand stehen | |
Getränke, mitgebrachte Kuchenstücke und Süßigkeiten. Sie sorgen für sich | |
und für einander. | |
„Es ist toll, wie sich die Mitarbeiter reinknien“, sagt Amtsarzt Steffen | |
Hampel. „Klar, ist das ein Stresstest.“ Die Anfänge seien holprig gewesen. | |
Ständig hätten sich die Vorgaben von Bund und Land geändert, aber | |
„inzwischen haben sich die Abläufe eingespielt“, sagt Hampel, der lange als | |
Kinder- und Jugendarzt gearbeitet hat und seit 12 Jahren als Amtsarzt tätig | |
ist. „Routine im positiven Sinn.“ | |
Jetzt, da die Kurve nur noch linear ansteige, habe er Zeit, sich um „die | |
besonderen Fälle“ zu kümmern, wie er sagt. „Die ganzen Verästelungen, die | |
sich in einzelnen Fällen ergeben.“ Im Fall eines erkrankten Arztes waren es | |
150 Kontaktpersonen, die es aufzuspüren galt. | |
Die Krankenhäuser der Region, im Besitz des Landkreises oder freier Träger, | |
arbeiten eigenverantwortlich – der Krisenstab steuert. Gerade wird in | |
Rüdersdorf das vierte Abstrichzentrum eröffnet: Der Landkreis stellt die | |
Schutzausrüstungen, das Krankenhaus das Personal. „Das funktioniert nur, | |
wenn man Kontaktpflege betreibt“, sagt Hampel. | |
Wie viele Verantwortliche im Landkreis beklagt auch er das Fehlen von | |
Schutzausrüstung. „An Anfang haben die Krankenschwestern mit Regencapes | |
gearbeitet“, erzählt er. „Das ist mein größter Kritikpunkt, dass wir es … | |
Deutschland nicht hingekriegt haben, selber Schutzkleidung zu produzieren.“ | |
Wären zentralistische Strukturen hilfreich? „Per se ist Zentralismus in | |
solchen Situationen günstiger“, sagt der Amtsarzt, „umso erstaunlicher, | |
dass trotz föderaler Strukturen rechtzeitig der Schalter umgelegt werden | |
konnte.“ | |
## Der Polizist | |
Polizeipräsidium Strausberg. Inspektionsleiter Sven Brandau ist am Vortag | |
beim der Krisenstab in Seelow dabei gewesen. Wenn auch etwas spät. Auch er | |
reicht zur Begrüßung die Hand. Kekse liegen auf dem Besprechungstisch. | |
Seine Polizei arbeitet viel von zu Hause aus – es sei „ja nicht wie | |
im,Tatort'.“ Es gibt viel Papierarbeit, und das geht auch zu Hause am | |
Computer. Was wegfällt, sind Sprechstunden. Und Präventionsarbeit: | |
Fahrradunterricht für Kinder, Besuche in Schulen. | |
Tatsächlich ändert sich die Polizeiarbeit durchaus. Einerseits durch andere | |
Anforderungen – die Polizei leistet Amtshilfe für die Ordnungsämter, um die | |
Coronaverordnung durchzusetzen. Derzeit mühen sich viele Bürger*innen | |
ab, diese neuen Verordnungen zu verstehen: Was darf man und was nicht? Wie | |
gehen die Polizisten damit um, mit Menschen, die im Verordnungswirrwarr | |
nicht durchsehen? „Es geht um eine Umsetzung mit Augenmaß“, antwortet | |
Brandau. | |
Und es treten andere Formen der Kriminalität auf: weniger | |
Wohnungseinbrüche, weniger Verkehrsunfälle, dafür mehr Einbrüche in | |
Unternehmen, um Werkzeuge zu stehlen beispielsweise. | |
Besonders ist auch: Die Polizei wird üblicherweise eingesetzt, um offene | |
Haftbefehle zu vollstrecken. Die sind aber gerade auch ausgesetzt. | |
Stattdessen kontrollieren die Polizisten nun, ob die Positivfälle ihre | |
Quarantäne einhalten, wenn auch stichprobenartig – jede*r Betroffene wird | |
nur einmal besucht. | |
Die Durchsetzung des Infektionsschutzgesetzes ist Sache des | |
Gesundheitsamts, das wiederum das Ordnungsamt nutzen darf. Die Polizei | |
unterstützt nur dabei. „Machen wir uns nicht vor“, sagt Brandau, „wir ha… | |
keine Lage. Ich wüsste auch nicht, welche Lage auf die Polizei zukommen | |
sollte.“ Einzig denkbares Szenario wären für ihn Unruhen. „Aber dann ist | |
nicht nur die Polizei gefragt, sondern in erster Linie die Politik.“ | |
## Die Amtsdirektorin | |
Roswitha Thiede ist Amtsdirektorin von Seelow-Land, einem | |
Verwaltungsverbund von fünf kleinen Gemeinden mit insgesamt 4.800 | |
Einwohner*innen. Wenn Gernot Schmidt ein Landrat im Großen ist, ist sie | |
eine im Kleinen. „Die Zusammenarbeit mit dem Landkreis ist gut“, sagt sie | |
„wir sind ja die letzten in der Kette.“ Thiede, 60, hat ihr Büro in einem | |
Neubau gleich neben dem Rathaus von Seelow. „Unsere Bevölkerung ist | |
gehorsam und sehr diszipliniert“, sagt sie. „Letztes Wochenende mussten wir | |
keine einzige Verwarnung aussprechen.“ | |
Könnte es daran liegen, dass die soziale Kontrolle auf dem Land größer ist? | |
Soziale Distanz schließt schließlich soziale Kontrolle nicht aus. „Wir | |
müssen die gleichen Regeln einhalten wie in den Städten“, sagt Thiede. | |
„Aber in den Dörfern geht es nicht so anonym zu. Manche sind fast ein | |
bisschen übereifrig.“ | |
Die These von der Vereinsamung auf dem Land teilt Thiede nicht. Viele alte | |
Menschen lebten noch zu Hause, und in den letzten zwei, drei Jahren seien | |
viele junge Familien hergezogen. „Das Ländliche kriegt wieder Aufwind“, | |
sagt sie. Seelow-Land leistet sich den Luxus von fünf kleinen Kitas – „das | |
ist finanziell viel aufwendiger als eine große“, sagt Thiede. Jetzt ist sie | |
froh darüber. „Vielleicht lehrt uns diese Geschichte, umzudenken und nicht | |
alles zu zentralisieren.“ | |
## Die Kita | |
Im Sandkasten der Kita „Märchenland“, im Zentrum von Seelow, spielen an | |
diesem Morgen nur drei Kinder. Cordula Töpfer sitzt etwas abseits und | |
schaut zu. Töpfer ist Geschäftsführerin des DRK-Kreisverbands | |
Märkisch-Oderland Ost, dem Träger der Kindertagesstätte. „Uns hat das | |
ziemlich überrannt“, sagt Töpfer. Für die Notbetreuung versuchen sie, den | |
Kindern ein „gewohntes Umfeld“ zu bieten. | |
Masken möchten die Erzieher*innen im Kindergarten aber nicht tragen, sagt | |
Töpfer. „Da kriegen die Kinder doch Angst!“ 4,5 Prozent der Kitakinder | |
beanspruchen die Notbetreuung. Eltern, die nicht in systemrelevanten | |
Berufen arbeiten, können sich für eine Einzelfallentscheidung an den | |
Landkreis wenden. „Der entscheidet das dann“, sagt Töpfer. | |
Familien, die keinen Anspruch auf eine Notbetreuung haben, müssen ab April | |
vorerst keine Kitabeiträge zahlen, bestimmte die Landesregierung. „Uns | |
standen wirklich Schweißperlen auf der Stirn“, sagt Töpfer. Zum Glück wolle | |
das Land nun für die Beiträge aufkommen. Voraussichtlich 14 Millionen Euro | |
pro Monat werden das es landesweit sein. | |
Ansonsten hätten die Erzieher*innen in Kurzarbeit gehen müssen. Jetzt | |
können sie stattdessen Sachen anpacken, die normalerweise auf der Strecke | |
bleiben – an der Homepage der Kita arbeiten zum Beispiel. Den daheim | |
gebliebenen Kindern haben sie Osterüberraschungsbriefe geschickt. Und | |
Osterüberraschungen für Senior*innen im Pflegeheim gebastelt. | |
## Die Hotelwirtin | |
Das Waldhotel in Vierlinden außerhalb von Seelow hat immer noch geöffnet – | |
auch wenn touristische Übernachtungen verboten sind. Seit 1992 ist das | |
Hotel in Familienbesitz, 38 Zimmer, ein flaches langgestrecktes Gebäude, | |
das auf einem ehemaligen NVA-Gelände liegt. Es seien einige wenige deutsche | |
Monteure da, sagt Geschäftsführerin Antje Beer. „Viele kommen seit Jahren | |
schon.“ | |
Im Foyer sind die Barhocker zur Seite geräumt, am Tresen können sich die | |
Übernachtungsgäste Frühstück und Essen abholen und mit aufs Zimmer nehmen. | |
Amt und Polizei seien kontrollieren gekommen, sagt Beer. Jeder | |
Neuankömmling müsse sich mit einem Schreiben seiner Firma ausweisen, oft | |
für Erneuerbare Energien oder Breitbandinternet, die in der Region stark | |
ausgebaut werden. | |
Beer bangt um die Zukunft ihre Betriebs. Ihre neun Mitarbeiter*innen hat | |
sie in Kurzarbeit geschickt, die Zusage für staatliche Beihilfen eben heute | |
erhalten. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Für das Wochenende und die | |
Woche nach Ostern liegt keine Reservierung mehr vor, „wir haben | |
Stornierungen bis in den September hinein“, sagt Beer. Was kommt nach der | |
akuten Pandemiephase? „Das Danach fängt man nicht mehr auf“, sagt sie. „… | |
Hilfen müsste es auch später noch geben.“ | |
## Die Gelassenheit | |
Landrat Schmidt sagt: „Wir haben schon einiges durchlebt.“ | |
Märkisch-Oderland hat Erfahrung mit kleineren und größeren Katastrophen. | |
Schmidt zählt auf: Eishochwasser, dreimal die Vogelgrippe, das legendäre | |
Oderhochwasser. | |
Die nächste Katastrophe ist rein geografisch nicht fern: die afrikanische | |
Schweinepest, die nur 80 Kilometer östlich, in Polen, bereits angekommen | |
ist. „Unsere Leute sind erfahren“, sagt Schmidt. Vielleicht rührt daher die | |
Gelassenheit, der pragmatische Umgang mit einem Virus, das keine Grenzen | |
und keine Autoritäten akzeptiert, dem man aber mit Engagement und | |
Vorausschau begegnen kann. | |
18 Apr 2020 | |
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