| # taz.de -- Grippewelle vor 100 Jahren: Die Mutter aller Pandemien | |
| > Die Spanische Grippe raffte 20 bis 50 Millionen Menschen dahin. Obwohl | |
| > ihr Erreger mittlerweile bekannt ist, bleibt vieles an ihr rätselhaft. | |
| Bild: Vertrautes Bild: Frauen versuchen, sich mit Mundschutz vor der Spanischen… | |
| Hamburg taz | Die Drastik, mit der die Regierungen und Wissenschaftler auf | |
| die Ausbreitung des Coronavirus reagieren, wird nachvollziehbar, wenn man | |
| einen Blick auf die Jahre 1918/1919 wirft. Vor 100 Jahren raffte die | |
| „Spanische Grippe“ zwischen 20 und 50 Millionen Menschen weltweit dahin. | |
| Vieles an der damaligen Pandemie entzieht sich bis heute der Erklärung. | |
| Die Spanische Grippe forderte wahrscheinlich mehr Tote als der Erste | |
| Weltkrieg, der 17 Millionen Menschen – Soldaten wie Zivilisten – das Leben | |
| kostete. Im kollektiven Gedächtnis spielt sie dennoch eine Nebenrolle: | |
| „Trotz ihrer globalen Dimension hat die Spanische Grippe erstaunlich wenig | |
| Quellen hinterlassen“, wundert sich etwa der Oldenburger [1][Historiker | |
| Malte Thiessen]. In den Zeitungen der damaligen Provinz Oldenburg fand er | |
| in der Regel nur kurze Artikel über die Seuche, Hintergründe wurden keine | |
| geschildert. | |
| Dabei war das Phänomen durchaus dramatisch. „Die Erkrankung trat dorfweise | |
| auf, schonte kein Haus. Ich sah in einzelnen Haushaltungen die ganze | |
| Familie erkrankt und in einigen Häusern drei bis vier Todesfälle“, zitiert | |
| Thiessen einen Bericht des Cloppenburger Amtsarztes. Und der Wildeshausener | |
| Amtsarzt meldete nach Oldenburg: „Die Krankheit zeigt gefährlichen | |
| Charakter. In aller Eile.“ | |
| Wie Thiessen erforscht hat, war allerdings die Wahrnehmung der Grippe in | |
| der Großstadt Hamburg eine durchaus andere als in der ländlichen Provinz | |
| Oldenburg. Der dichte städtische Raum mit seinen Menschenmassen, die gute | |
| medizinische Infrastruktur, eine vielfältige Zeitungslandschaft und | |
| schließlich die Politisierung habe dafür gesorgt, dass die Grippe zum Thema | |
| wurde. „Für politische Akteure wie die Sozialdemokraten bot die Grippe eine | |
| willkommene Gelegenheit, sozialpolitische Debatten anzufachen“, schreibt | |
| Thiessen. | |
| ## Keineswegs spanisch | |
| Dass die Spanische Grippe den meisten Historikern heute kein eigenes | |
| Kapitel wert ist, dürfte auch daran liegen, dass sie Teil des gewaltigen | |
| Dramas von Krieg und Nachkriegszeit war. Dabei hat ihr Name wohl nichts mit | |
| ihrem Ursprung zu tun. Die Pandemie wurde mit Spanien assoziiert, weil | |
| Spanien nicht am Krieg teilnahm. Dort wurde die Presse nicht zensiert, | |
| sodass sich die Nachricht von der Krankheit verbreiten konnte. Die Krieg | |
| führenden Nationen hüteten sich, dem Feind zu stecken, dass ihre Truppen | |
| geschwächt waren. | |
| Die Seuche brach nach einer amerikanischen Darstellung „mehr oder weniger | |
| gleichzeitig“ in Nordamerika, Europa und Asien aus. Dokumentiert wurde | |
| diese besonders ansteckende und tödliche Form der Grippe jedoch erstmals im | |
| März 1918 in einem Ausbildungslager der US-Armee. | |
| Die Rekruten dort wurden für den Einsatz auf dem europäischen | |
| Kriegsschauplatz trainiert – am 6. April 1917 hatten die USA dem Deutschen | |
| Reich den Krieg erklärt. In den dicht gepackten Kasernen fand das Virus | |
| beste Bedingungen, um sich verbreiten zu können. Mit dem amerikanischen | |
| Expeditionskorps konnte es dieser These nach seinen Zug nach Europa und | |
| rund um die Welt antreten. | |
| Grippepandemien, also Ausbrüche, die mehrere Kontinente umfassten, hat es | |
| seither immer wieder gegeben – die jüngste war die „Schweinegrippe“ im J… | |
| 2009. Doch die Spanische Grippe stelle „vermutlich die Seuche in der | |
| Geschichte dar, welche innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums tatsächlich | |
| alle Kontinente erfasste und in absoluten Zahlen mehr Opfer als alle | |
| anderen Epidemien forderte“, [2][schreibt der Historiker Eckard Michels]. | |
| Schätzungsweise ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung von damals 1,5 | |
| Milliarden Menschen hatte sich infiziert. Die Schätzungen der Todesopfer | |
| liegen weit auseinander, weil es aus weiten Teilen der Welt keine | |
| zuverlässigen Statistiken gibt: Sie reichen von 17 bis 50 Millionen, | |
| teilweise bis 100 Millionen Toten. | |
| US-amerikanische Quellen gehen davon aus, dass mehr als 2,5 Prozent der | |
| Infizierten starben – gegenüber 0,1 Prozent bei den üblichen Grippewellen. | |
| [3][1918 starben in der Schweiz] 0,7 Prozent aller Männer und 0,4 Prozent | |
| aller Frauen an dem Virus – zusammengenommen mehr als einer von 200 | |
| Einwohnern. | |
| ## Sterblichkeit in der mittleren Altersgruppe besonders hoch | |
| Dabei trat die Pandemie in drei Wellen auf: eine erste kleine im Frühsommer | |
| 1918, eine große im Herbst 1918 und eine etwas kleinere im Frühjahr 1919. | |
| Ungewöhnlich dabei sei die Aufeinanderfolge von drei Wellen innerhalb | |
| dieses kurzen Zeitraums, [4][schreiben die US-Forscher Jeffery K. | |
| Taubenberger and David M. Morens]. | |
| Weil die Bevölkerung sich immunisiere, lägen Grippeausbrüche normalerweise | |
| zwei bis drei Jahre auseinander. So lange brauche das Virus, um durch | |
| Mutation der menschlichen Immunabwehr wieder eins auswischen zu können. | |
| Eine weitere Besonderheit der Pandemie war, das sie nicht nur ganz Junge | |
| und ganz Alte besonders betraf, wie das bei Grippewellen in der Regel der | |
| Fall ist, sondern auch bei der mittleren Altersgruppe um die 30 Jahre die | |
| Sterblichkeit besonders hoch war. Als mögliche Erklärung hierfür wird | |
| angeführt, dass das Immunsystem dieser Altersgruppe überreagiert haben | |
| könnte. | |
| Entgegen landläufiger Thesen scheint die damalige Ernährungslage keine | |
| Rolle für die Sterblichkeit gespielt zu haben. Wie Michels schreibt, | |
| unterschieden sich die Sterberaten der besser versorgten ländlichen | |
| Bevölkerung nicht von derjenigen der schlechter versorgten Städter. „Der | |
| Ernährungszustand der von mir sezierten Soldaten war durchschnittlich nicht | |
| schlecht, in einem Viertel der Fälle vorzüglich“, erinnerte sich der | |
| Pathologe Carl Fahrig nach dem Krieg. | |
| ## Virus rekonstruiert | |
| Womit sich die Menschheit da überhaupt konfrontiert sah, wurde erst Anfang | |
| der 1930er-Jahre klar, als das Influenzavirus entdeckt wurde. Wie das Virus | |
| der Spanischen Grippe genau beschaffen war, blieb allerdings unklar, bis | |
| Forscher es Mitte der 1990er-Jahre in Teilen aus erhaltenen Gewebeproben | |
| von Opfern der Herbstwelle isolieren konnten. | |
| Nach Vorarbeiten einer Reihe weiterer Wissenschaftler gelang es schließlich | |
| Terrence Tumpey, das Virus in einem Hochsicherheitslabor des Centers for | |
| Desease Control and Protection des US-Gesundheitsministeriums [5][vollends | |
| zu rekonstruieren]. 2005 publizierte er den Aufsatz dazu. Was er und seine | |
| Kollegen fanden, war ein Virus des Typs H1N1, den er als „Mutter aller | |
| Pandemien“ bezeichnete, denn die Erreger vieler späterer Grippewellen | |
| stammen von diesem ab, waren aber weit weniger gefährlich. | |
| 19 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Historiker-Malte-Thiessen/!5676907 | |
| [2] https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2010_1.pdf | |
| [3] https://www.bfs.admin.ch/bfsstatic/dam/assets/6467464/master | |
| [4] https://wwwnc.cdc.gov/eid/article/12/1/05-0979_article | |
| [5] https://www.cdc.gov/flu/pandemic-resources/reconstruction-1918-virus.html#b… | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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