# taz.de -- Spanische Grippe und Covid-19: Wurzeln gegen die Angst | |
> Vor 100 Jahren fielen der Spanischen Grippe Millionen Menschen zum Opfer. | |
> Was können wir von ihr lernen? | |
Bild: Frauen in Vorbereitung auf die Spanische Grippe 1919 in Australien | |
Als ich Anfang März von einer zweiwöchigen Reise aus Südamerika | |
zurückkehrte, war die Welt verändert und die Ereignisse überschlugen sich. | |
Auch das Coronavirus war im Flugzeug unterwegs gewesen und hatte sich | |
innerhalb weniger Wochen in nahezu allen Ländern verbreitet. Die WHO rief | |
eine Pandemie aus. Angst und Sorge verspürte ich nicht. Die folgenden | |
Diskussionen waren mir merkwürdig vertraut. Häufig ahnte ich bereits, | |
welches Thema als nächstes die öffentliche Debatte bestimmen würde und | |
woran sich die Gemüter erhitzten. Das lag nicht etwa an prophetischen | |
Fähigkeiten, sondern an meiner Forschung zu einer lange zurückliegenden | |
Seuche. | |
Im Zusammenhang mit der Coronapandemie gerät ein Ereignis in den Fokus, dem | |
vor rund 100 Jahren bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen: die | |
[1][Spanische Grippe]. Von der „Mutter aller Pandemien“, wie sie nun | |
genannt wird, soll in Bezug auf Corona gelernt werden; insbesondere über | |
Ausbreitung, Wellen, Immunität, Schutzmaßnahmen. Andere Aspekte finden | |
bislang kaum Beachtung: die sozialen, zwischenmenschlichen, psychologischen | |
und seelischen. | |
Obwohl jede Pandemie ein spezifisches Einzelereignis ist, finden sich | |
[2][wiederkehrende Muster]. Diese Kenntnis kann helfen, sich einer Zäsur | |
weniger angstbesetzt zu nähern. Vor allem zu Beginn der Spanischen Grippe | |
im Jahr 1918 herrschte Unsicherheit, um was für eine Erkrankung es sich | |
handelte. Experten stritten über Diagnose, Todesursache und Immunität. Man | |
suchte verzweifelt nach Impfstoffen und Behandlungsmöglichkeiten. | |
Kriegsführende Staaten verleugneten die Seuche zunächst; Kirchenvertreter | |
sahen sie als Zorn Gottes. Verschwörungstheorien hatten Konjunktur und | |
windige Geschäftsleute priesen vermeintliche Heilmittel an: Dr. Kilmers | |
Sumpfwurzel sollte grippegeschädigte Nieren heilen. Formamint-Tabletten, | |
eine Mischung aus Formaldehyd und Milchzucker, waren begehrt und zeitweilig | |
ausverkauft. Die AEG bewarb ihre elektrischen Geräte als hilfreich gegen | |
Grippe. In New Orleans fanden Amulette, Federn weißer Hühner und Karo-Asse | |
für den linken Schuh großen Absatz. | |
Angst war ein dominantes Thema, Ärzte besprachen es in Fachzeitschriften. | |
Durch den Krieg herrschte Ärztemangel, Freiwillige, Ärzte im Ruhestand, | |
Medizinstudenten und Schwesternschülerinnen halfen aus. Es gab | |
Krisengewinnler auf der einen, viele Arbeitslose und soziale Ungleichheit | |
auf der anderen Seite. Es starben deutlich mehr Arme, aber auch einige | |
Prominente. | |
Anders als vor 100 Jahren sind uns Viren heute bekannt. Trotzdem wissen wir | |
noch nicht genau, wie das neuartige Coronavirus auf den Körper einwirkt und | |
was es anrichtet. Wie früher widersprechen sich Erkenntnisse oder gelten | |
alsbald als überholt. Zügige Studienergebnisse werden versprochen, | |
Hoffnungen geweckt und wieder einkassiert; Präparate als Heilmittel in | |
Erwägung gezogen und fallen gelassen. Das war damals nicht anders, | |
Fachzeitschriften waren voll von „vorläufigen Mitteilungen“. | |
Während der Spanischen Grippe versuchte man, die Ausbreitung der Krankheit | |
über Hygiene- und Quarantänemaßnahmen einzudämmen, ein klarer Fortschritt | |
gegenüber vorherigen Seuchen. Es stellte sich heraus, dass eine Infektion | |
während der ersten Welle nicht zwangsläufig vor Erkrankung während der | |
zweiten schützte. Diese zweite Welle folgte, als man das Schlimmste | |
überstanden glaubte und verlief ungleich schwerer und tödlicher. Heute ist | |
bekannt, dass Viren mutieren und dadurch neue Virustypen entstehen. | |
Neu ist die aktuelle Strategie, die Ausbreitung der Pandemie in die Länge | |
zu ziehen und das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Die | |
zeitliche Verzögerung soll der Entwicklung eines Impfstoffes dienen. Wie | |
sicher ist, dass er wirkt – und wenn ja, wogegen? Besteht die Gefahr, dass | |
längst Sars-CoV-3 grassiert, wenn endlich ein Impfstoff für Sars-CoV-2 | |
verfügbar ist? Kommt die Zwangsimpfung? Über medizinische Tabus wird | |
aktuell berichtet und über absichtliche Ansteckung diskutiert. Doch schon | |
damals experimentierte man mit „Schutzstoffen“ aus dem Blut Überlebender. | |
Gefängnisinsassen ließen sich zur Erforschung von Medikamenten mit | |
mutmaßlichen Grippeerregern infizieren – mehr oder weniger freiwillig. In | |
einer existenziellen Notlage sind Entscheidungen nicht frei. Auch das | |
Benutzen einer Corona-App wird begleitet werden von moralischem Druck. | |
## Virologen im Gladiatorenkampf | |
Mit der Digitalisierung wächst die Gefahr von Überwachung und | |
Beeinflussung. Damals existierten nur Printmedien. Heute ermöglichen | |
soziale Medien ein Wirrwarr aus Informationen und Meinungen. Man fühlt sich | |
gut informiert und als Experte. Hybris oder Unwissenheit können schon mal | |
in lebensgefährlichen Vorschlägen gipfeln, wenn etwa zur [3][Einnahme von | |
Desinfektionsmittel] geraten wird. | |
Aufklärung und Transparenz sind in diesen Zeiten wichtiger denn je. Die | |
unmittelbare mediale Zurschaustellung erinnert allerdings zunehmend an | |
Gladiatorenkämpfe: Meinungsverschiedenheiten zwischen Virologen und | |
Politikern werden als Duelle inszeniert. Selbst Virologen-Fanartikel gibt | |
es. Unterhaltungswert und Adrenalinausstoß sind garantiert – ein Ersatz für | |
die ausfallenden Fußballspiele. | |
Jede Zeit hat ihre Themen. Die Grundprobleme, mit der Gesellschaften und | |
Individuen konfrontiert werden, bleiben – im jeweiligen Kontext – ähnlich. | |
Für uns alle lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Er gestattet es, | |
Vertrautes und Vergleichbares zu erkennen und dadurch eine erschütternde | |
Erfahrung im Heute zu relativieren, ihr die Vehemenz zu nehmen. Aber es | |
geht nicht nur um die eigene Angst. Aus der Geschichte lernen heißt auch, | |
dass wir nicht jedes Drama selbst erlebt haben müssen, um Antrieb und Kraft | |
zu finden, zukünftige Katastrophen zu vermeiden. Was systemrelevant ist, | |
liegt in unser aller Hand. | |
30 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefanie Jahn | |
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