# taz.de -- Schweinegrippe-Berichterstatter: "Hätten Warnung herabstufen solle… | |
> Der britische Berichterstatter des Europarats, Paul Flynn, beklagt | |
> Intransparenz bei der WHO im Umgang mit dem H1N1-Virus. Das Ausrufen der | |
> Pandemie war "grobe Übertreibung". | |
Bild: Bundesgesundheitsminister Rösler ließ sich demonstrativ impfen. | |
taz: Mr Flynn, Sie haben für den Europarat den Umgang mit der | |
Schweinegrippe untersucht. Was sind Ihre wichtigsten Ergebnisse? | |
Paul Flynn: Dass das Ausrufen einer Pandemie Stufe 6 eine grobe | |
Übertreibung war. Es war nur nach einer Definitionsänderung möglich und | |
löste Hysterie aus. Millionen von Familien wurden weltweit in Angst und | |
Schrecken versetzt. Für riesige Summen wurden Medikamente gekauft und nicht | |
benutzt. Millionen von Menschen waren einem Impfstoff von zweifelhafter | |
Qualität und Sicherheit ausgesetzt. | |
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bislang nicht zugegeben, dass die | |
Hürden für Stufe 6 gesenkt wurden. Etliche renommierte Wissenschaftler sind | |
überzeugt, dass genau das passiert ist. Wer hat recht? | |
Erst war für Stufe 6 von einer enormen Zahl von Toten und Krankheitsfällen | |
die Rede. Das wurde durch den Kommentar ersetzt, eine Grippe-Pandemie könne | |
leicht oder schwer verlaufen. Ich habe die WHO wiederholt danach gefragt, | |
aber keine plausible Erklärung erhalten. Ich setze große Hoffnungen in die | |
Untersuchung, die Harvey Fineberg leitet. Er hat einen Ruf als wirklich | |
unabhängige Autorität. | |
Die polnische Gesundheitsministerin hat sich geweigert, große Mengen | |
Schweinegrippe-Impfstoff zu bestellen. Ein gutes Beispiel? | |
In meinen Augen hat sie eine sehr mutige Entscheidung getroffen. Sie hatte | |
Zweifel an der Gefährlichkeit der Grippe und hielt es für einen Skandal, | |
dass GlaxoSmithKline forderte, die polnische Regierung solle - genau wie | |
die deutsche - für die Entschädigung möglicher Impfopfer aufkommen. Sie war | |
der Meinung, dass ein Impfstoff, dem GSK nicht traut, auch nicht das | |
Vertrauen der polnischen Regierung verdient. Die Ereignisse haben ihr mit | |
Blick auf die Grippe recht gegeben. | |
Bestand eine reelle Möglichkeit, dass das Virus mutieren und sehr | |
gefährlich werden würde? | |
Die gibt es immer. Was wir fordern, ist, dass künftig mit mehr gesundem | |
Menschenverstand geurteilt wird. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass | |
die Schweinegrippe wie normale Grippeepidemien in 1957, 1968 oder 1977 | |
verlaufen würde. Die Spanische Grippe mit Millionen von Toten war der | |
außergewöhnlichere Fall. Sie fand unter Kriegsumständen statt. | |
Möglicherweise handelte es sich auch gar nicht um Grippe. Als die Stufe 6 | |
ausgerufen wurde, dachten die Medien, dass das Schlimmste passieren wird - | |
wie 1918. | |
An welchem Punkt hätten Regierungen wissen müssen: Das hier ist keine große | |
Gefahr? | |
Die ersten Berichte aus Mexiko waren wirklich beängstigend, aber erwiesen | |
sich als ziemlich ungenau. Die Pandemie wurde im Juni ausgerufen. Im | |
September, nachdem man den Verlauf auf der Südhalbkugel erlebt hatte, war | |
klar, dass es sich nicht um eine große Killerkrankheit handelt. Damals | |
hätten sie die Warnung herabstufen sollen. Aber das haben sie bis heute | |
nicht. | |
Sie beklagen, dass sich die WHO weigert, die Mitglieder ihres | |
Notfallkomitees beim Namen zu nennen. Warum? | |
Das waren die Leute, die die entscheidenden Beschlüsse gefasst haben - | |
direkt bevor die Pandemie ausgerufen wurde. Und wir wissen nicht, wer sie | |
sind und welche Interessen sie vertreten. | |
Hat die WHO etwas zu verbergen? | |
Darüber möchte ich kein Urteil fällen. Ich denke aber, dass sie ihrem Ruf | |
schadet. Wir brauchen eine WHO, der die Menschen weltweit vertrauen. | |
9 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Katja Schmidt | |
## TAGS | |
Pandemie | |
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