# taz.de -- Aufarbeitung Schweinegrippe: Mühsame Influenza-Archäologie | |
> Eine politische Aufarbeitung der Schweinegrippe findet kaum statt. Bund | |
> und Länder streiten über Geld. Und es erheben sich Vorwürfe, die | |
> Pharma-Industrie hätte die Panik geschürt. | |
Bild: Schweinegrippen-Impfstoff. | |
Irgendwo in Deutschland lagern rund 16 Millionen Dosen | |
Schweinegrippe-Impfstoff. Wo, bleibt geheim - schließlich geht es um | |
Millionenwerte. Allein diese zentral verwahrte Menge hat rund 133 Millionen | |
Euro gekostet. Neue Ankäufer finden sich nicht. Insgesamt könnten über 230 | |
Millionen Euro für unverbrauchten Impfstoff an den Bundesländern hängen | |
bleiben, schätzt man in Niedersachsen, das der Gesundheitsministerkonferenz | |
vorsitzt. | |
Vor wenigen Tagen haben die Länder noch einmal Hilfe verlangt. Die | |
Bundesregierung habe auf große Impfstoffbestellungen gedrängt, nun soll der | |
Bund auch zahlen. Fette Schlagzeilen bekommt das nicht mehr. Eine große | |
politische Aufarbeitung des H1N1-Hypes ist nicht in Sicht. | |
International passiert mehr. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf | |
sieht sich harschen Vorwürfen ausgesetzt, sie habe die Gefahr des Virus | |
übertrieben und Pharma-Interessen in die Hände gespielt. Generalsekretärin | |
Margaret Chan betont: "Zu keiner Zeit, nicht für eine Sekunde, sind | |
kommerzielle Interessen in meine Entscheidungen eingeflossen." Trotzdem hat | |
sie schon vor Monaten ein Komitee eingesetzt, das das Vorgehen der WHO | |
evaluiert. | |
Kräftig aufgerührt hatte die Debatte der Europarat mitsamt einer Resolution | |
für mehr Transparenz und einem Report des britischen Abgeordneten Paul | |
Flynn. Der zeigt sich im Gespräch mit der taz überzeugt, dass dem | |
Schweinegrippen-Hype von langer Hand der Boden bereitet wurde. "Am Ende | |
wurde eine Pandemie ausgerufen, weil man erwartete, dass eine anstand." Die | |
Hysterie geschürt hat seines Erachtens die European Scientific Working | |
group on Influenza (ESWI). "Die sind komplett von der Pharmaindustrie | |
finanziert." Auch das British Medical Journal berichtet, die ESWI habe | |
schon 1999 an einem WHO-Plan mitgearbeitet, der vor dem Risiko einer | |
Grippe-Pandemie mit riesigen Opferzahlen warnt. Die ESWI macht auf ihren | |
Internetseiten kein Geheimnis daraus, Geld von zehn großen Pharmafirmen zu | |
erhalten. Ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit sei aber "absolut und | |
unbestreitbar", heißt es dort - und gleich auf der Startseite: | |
"Schweinegrippe-Experten und Big Pharma: Keine Verschwörung". | |
Im Bundesgesundheitsministerium (BMG) kam Flynns Bericht offenbar schlecht | |
an: Als im Europarat die Resolution zur Abstimmung anstand, erreichte die | |
deutsche Delegation eine Ablehnungsempfehlung. Verschickt wurde sie von der | |
Bundestagsverwaltung. Dass es eigentlich das BMG war, das rügte, Flynn | |
stütze sich auf selektive Angaben und erhebe Vorwürfe, die längst geklärt | |
seien, mussten die Delegierten erst recherchieren: Das Schreiben hatte | |
keinen Briefkopf. Skandalös? Der frühere SPD-Bundestagsabgeordneten | |
Wolfgang Wodarg spricht von einem Vertuschungsversuch, der zeige, dass auch | |
beim BMG mehr Transparenz geschaffen werden müsse. | |
Beharrlich betreiben Mitglieder der grünen Bundestagsfraktion | |
Pandemie-Archäologie mit parlamentarischen Anfragen. Ein Beispiel: | |
Inwieweit ist die unabhängige Arbeit der Bundesregierung beeinträchtigt, | |
weil sie vereinbart hat, Pressemitteilungen über die | |
Impfstoff-Vertragsverhandlungen mit GlaxoSmithKline abzustimmen? "Nicht | |
beeinträchtigt", heißt es in der Antwort des BMG. | |
Auch ein Fachgespräch mit Titel "Pandemien als Geschäftsmodell? - Lehren | |
aus der Schweinegrippe" haben die Grünen angestrengt. Als erster Redner | |
überraschte am Montag der Virologe Alexander Kekulé, der schon im April | |
2009 gewusst haben will, dass die Schweinegrippe "harmlos" war. Kekulé | |
nennt die Verträge für die Impfstoffbeschaffung "beschissen". Dass ein | |
Impfstoff gegen Schweinegrippe gekauft werden sollte, habe aber auch die | |
Schutzkommission beim Innenministerium geraten - mit Blick auf das höhere | |
Sterblichkeitsrisiko für Kinder. Kekulé gehört der Kommission an und gibt | |
die Einschätzung so wieder: "Aus psychologischen Gründen können wir der | |
deutschen Bevölkerung nicht zumuten, dass hier einfach gestorben wird und | |
es keinen Impfstoff gibt." | |
9 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Katja Schmidt | |
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