# taz.de -- Medizinhistoriker über Schweinegrippe: "Seuchenzeiten fördern Mis… | |
> Schon eine bislang harmlose Grippeepidemie versetzt viele Bürger in | |
> Angst. Wie groß wäre da die Panik bei einer echten Seuche? Der | |
> Medizinhistoriker Klaus Bergdolt über zutiefst menschliches Verhalten. | |
Bild: "Es gibt ein uraltes Misstrauen gegenüber staatlichen Maßnahmen." | |
taz: Herr Bergdolt, niemand scheint zu wissen, wie schlimm H1N1 wirklich | |
ist. Die Öffentlichkeit ist verwirrt. Wären wir im Ernstfall genauso | |
panisch wie die Menschen zu Zeiten der Pest vor 660 Jahren? | |
Klaus Bergdolt: Würde sich die Schweinegrippe zu einer für viele Menschen | |
tödlichen Epidemie entwickeln, dürfte sich, das steht leider zu befürchten, | |
die Bevölkerung kaum anders verhalten als im 14. oder 15. Jahrhundert. | |
Ungeachtet aller zivilisatorischen Brüche, die von Historikern immer wieder | |
reklamiert werden, bleibt die bittere Erkenntnis: Seuchenzeiten sind Zeiten | |
des Misstrauens, der Verdächtigung, der Vorurteile. Auch durch die | |
Aufklärung hat sich hier wenig verändert. Im Gegenteil: Die Ausgrenzung | |
wurde nur wissenschaftlich untermauert. | |
Warum? | |
Schon im 14. Jahrhundert versetzte das bloße Gerücht, in einer Nachbarstadt | |
oder einem nah gelegenen Land grassiere die Pest, die Menschen in helle | |
Aufregung. Wenn ich die öffentliche Thematisierung der Schweinegrippe in | |
den vergangenen Wochen Revue passieren lasse, habe ich den Eindruck, dass | |
ein Teil der Presseberichte ganz ähnliche Ängste weckt. Hier geht etwas | |
nicht auf: Jedes Jahr sterben tausende Menschen hierzulande an normalen | |
Grippeinfektionen, ohne dass groß darüber berichtet wird. Aber jeder | |
einzelne Todesfall, der der Schweinegrippe zugerechnet wird, wird in | |
Schlagzeilen herausgestellt. | |
Liegt das nicht auch an der Sorge, der Erreger der Schweinegrippe könne zu | |
einer weitaus gefährlicheren Variante mutieren? | |
Natürlich. Es ist tatsächlich beunruhigend, dass zum Beispiel die Spanische | |
Grippe nach dem Ersten Weltkrieg, an der mehr Menschen starben, als | |
Soldaten im gesamten Krieg gefallen waren, erst durch eine solche Mutierung | |
gefährlich wurde. Im Moment gibt es für so etwas aber keine Anzeichen. Fast | |
alle Fälle verlaufen harmlos. Die wenigen Todesfälle beschränken sich auf | |
Risikogruppen. | |
Trennt uns also heute von einer Weltuntergangsstimmung wie zur Zeit des | |
"Schwarzen Todes" nur ein dünner Firnis aus Hygienebestimmungen? | |
Uns trennt vieles von den Menschen des Spätmittelalters, die fast | |
ausnahmslos sehr religiös waren. Der Tod bedeutete etwas anderes als in der | |
säkularen Gesellschaft. Viel interessanter ist aber, was uns mit dieser | |
Zeit verbindet. Das 14. Jahrhundert war eine Zeit mentaler Veränderungen. | |
Die Sicherheit der Weltordnung wurde brüchig, Zweifel kamen auf. Der | |
Schwarze Tod wurde, denken wir nur an Petrarca, auch eine Art Metapher des | |
Umbruchs. | |
Gerade in Deutschland zeichnen sich ja auch heute radikale mentale | |
Veränderungen ab. Wir sind auf dem Weg zu einer säkularen Gesellschaft, die | |
eigene kulturelle Traditionen stark relativiert. Viele Menschen leiden an | |
einer Identitätskrise. Wie man, nach fast einem Jahrhundert | |
seuchenpolitischer Stabilität, einer kollektiven Seuchengefahr begegnet, | |
darüber haben wir keine Erfahrungen. Ich fürchte, die Menschen würden sich | |
im Fall einer Katastrophe nicht weniger hilflos fühlen als 1348. | |
Sind wir heute einem Inferno wie der Pest besonders nahe, weil ein Virus | |
binnen weniger Tage um die Welt reisen kann? Oder sind wir dank Impfungen, | |
Erfahrung und Hygiene besonders geschützt? | |
Niemand kann diese Fragen sicher beantworten. Wenn wir Glück haben, bleibt | |
die Schweinegrippe eine harmlose Epidemie mit wenigen Opfern. Falls der | |
Erreger jedoch mutiert, könnte eine ähnlich gefährliche Seuche wie nach dem | |
Ersten Weltkrieg drohen. Absoluten Schutz bietet dann nur, wie 1348, die | |
absolute Isolation. Das wird nur wenigen möglich sein. | |
Erklärt das auch die missverständlichen Signale der Gesundheitsbehörden? | |
Mal wird beschwichtigt, mal gewarnt. | |
Die Regierung ist natürlich in einer schwierigen Situation. Die | |
Gesundheitsbehörden müssen einerseits auf den Ernstfall gut vorbereitet | |
sein, andererseits alles vermeiden, was Unruhe erzeugen könnte. Zu | |
Pestzeiten war das nicht anders. In einer ersten Phase wiegeln Behörden - | |
das ist ein Gesetz der Seuchengeschichte - eher ab. | |
Noch einmal: Kann eine Panik in der heutigen säkularen Gesellschaft | |
leichter entstehen als in der festgefügten Welt des Mittelalters? | |
Religiöse Menschen sahen in Seuchen eine Prüfung oder Strafe Gottes. Viele | |
kümmerten sich aus christlicher Barmherzigkeit um Erkrankte und Sterbende, | |
wobei man sogar das eigene Leben aufs Spiel setzte. Andere wurden bereits | |
1348 zu puren Egoisten. Schon damals reagierte man also höchst | |
unterschiedlich. | |
Ich bezweifle, dass es heute eine nennenswerte Bereitschaft gibt, das Leben | |
für Schwerkranke und Sterbende einzusetzen. Entgegen allen politisch | |
korrekten Beteuerungen würde unsere Gesellschaft im Ernstfall vermutlich | |
eine utilitaristische Abwägung treffen. Das Ergebnis wäre: Wer zu einer | |
Minderheit gehört, welche die Mehrheit tödlich bedroht, muss isoliert | |
werden. | |
Die Isolierung von Kranken gab es doch schon vor Jahrhunderten: in | |
Lazaretten, Wohnhäusern oder durch Mauern. Das Habsburgerreich baute im 17. | |
Jahrhundert sogar einen 1.900 Kilometer langen Gürtel von Wachen auf, um | |
das Eindringen der Pest aus dem Osmanischen Reich abzuwehren. | |
Vor allem in großen Kommunen waren Pestlazarette alltägliche Einrichtungen. | |
Dort wurden die Kranken vor allem von Pflegeorden betreut. Wer wollte diese | |
Aufgabe heute übernehmen, falls - um den Worst Case herauszustellen - eine | |
pestartige tödliche Seuche wie Schnupfen durch Tröpfcheninfektion | |
übertragen würde? Aber noch einmal: Im Moment kann von einer solchen Seuche | |
keine Rede sein. | |
Auch jüngere Seuchen brachte "Helden" hervor: Alexander Fleming entwickelte | |
das Antibiotikum Penicillin, Robert Koch entdeckte das Cholera-Bakterium, | |
und der Immunologe Paul Ehrlich fand ein Mittel gegen die Syphilis. Fehlt | |
heute, da anonyme Konzerne Wirkstoffe entwickeln, vielen Menschen ein | |
benennbarer Held? | |
Bei der Schweinegrippe fällt der wissenschaftliche Held offensichtlich aus. | |
Ein perfektes Mittel gegen diese Erkrankung wird es vermutlich erst geben, | |
wenn die Gesellschaft sich schon mit der nächsten Seuche befasst. | |
Auch ein benennbares Böses, das schuld ist an der Seuche, gibt es heute | |
nicht mehr. | |
Genau das macht die Sache vielen Menschen unheimlich. Die bildhafte | |
Vorstellung des Bösen ist auf der Strecke geblieben. | |
Früher galten Seuchen als Strafe Gottes. Und heute? | |
Religiöse Erklärungen spielen, wie gesagt, kaum noch eine Rolle, | |
moralisierende dagegen sehr. Die Verbreitung der Seuchen wird dann als | |
Folge der neuen Mobilität, des Tourismus, des westlichen Luxus allgemein | |
erklärt. Da kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Natur nun etwas | |
"korrigieren" müsse. Solche Vorstellungen gab es schon im 19. Jahrhundert. | |
Wächst wieder die Lust an der Endzeitstimmung, ähnlich dem Schauder vorm | |
Atomkrieg? | |
Von der Angst während der sogenannten Nachrüstungsdebatte - man denke an | |
die Proteste gegen die Aufstellung von Atomraketen - sind wir noch ein | |
ganzes Stück entfernt. Die Menschen erscheinen mir weitaus gelassener, und | |
das ist gut so. Im Vergleich zur Zeit der Pest haben wir - statistisch | |
gesehen - ja auch einen Vorteil, nämlich die Möglichkeit zur Impfung. | |
Ausgerechnet dort gibt es heftigen Streit zwischen Impfbefürwortern und | |
Impfgegnern. | |
Das Problem ist, dass einerseits die Behörden zur Impfung aufrufen, die | |
Experten aber unterschiedliche Meinungen über deren Sinn und Nutzen äußern. | |
Auch dass zwei verschiedene Impfstoffe bestellt worden sind - der eine für | |
Mitarbeiter von Regierungen und Behörden, der andere für Normalbürger -, | |
war zwar eine rein praktische Maßnahme ohne Hintergedanken, psychologisch | |
aber eine unglaubliche Ungeschicklichkeit. | |
Impfgegner gibt es, seit es Impfungen gibt. Haben sich deren Argumente | |
grundsätzlich gewandelt? | |
Im Kern nicht. Impfgegner berufen sich auf bestimmte Statistiken und | |
verweigern andere Statistiken, die sie widerlegen würden. Es gibt ein | |
uraltes Misstrauen gegenüber staatlichen Maßnahmen und | |
naturwissenschaftlicher Medizin. Das war bereits im 18. Jahrhundert so. | |
Aber man darf auch nicht vergessen: Es gibt immer wieder Menschen, die | |
aufgrund einer Impfung schwer erkranken oder sogar sterben. | |
Lassen Sie sich gegen die Schweinegrippe impfen? | |
Es mag merkwürdig klingen: Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich warte | |
ab. | |
17 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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Pandemie | |
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