# taz.de -- Utopien und Dystopien in der Quarantäne: Bananenbrot und Geduld | |
> Die Geschäftigkeit im Homeoffice ist einer großen Langeweile gewichen. | |
> Zeit, sich ausgiebig den eigenen Unzulänglichkeiten zu widmen. | |
Bild: Ob Videokonferenz oder Lärmschutz: Der Kopfhörer ist das Accessoire der… | |
So, so – langsam muss jetzt aber Schluss sein mit dem Shutdown. Alle haben | |
brav ihren Camus ausgelesen, ihre gehamsterten Vorräte weggesnackt und | |
erschöpfend ihre Ideen zur Krise und dem, was falsch läuft und was | |
richtigerweise bald kommen müsste, in die Welt gezoomt. Jetzt gibt’s | |
langsam nichts mehr zu meinen, und deshalb muss das jetzt ein Ende haben. | |
Zumindest so war der Sound der letzten Tage. | |
Dabei wird es doch jetzt erst richtig interessant. Jetzt wird ’s nämlich | |
denen, die die Krise superbequem auf dem Sofa erleben (unter anderem ich), | |
so richtig fad. Bislang hat sich keiner wirklich gelangweilt, es gab genug | |
zu tun, genug Zeit zu nutzen. Zum Ausmisten, Umräumen, mal den Rücken zu | |
dehnen. Mal spazieren gehen, mal was Ordentliches Kochen. Kurz: das Leben | |
zu leben, für das man sonst zu busy ist. | |
Tatsächlich, scheint mir, haben viele, die nichts Richtiges zu tun haben | |
(also nicht Pfleger, Ärztin, Verkäuferin oder Postbote sind), die übliche | |
Geschäftigkeit aber erst mal nur ins eigene Wohnzimmer verlagert. Bloß | |
nicht stillstehen, bloß was abarbeiten, endlich schafft man mal was! Geil. | |
Direkt proportional dazu wurden die Essays, die geschrieben und publiziert | |
wurden, immer länger. Soll ja keiner denken, man wäre faul im Homeoffice. | |
Viel Text hilft viel. | |
Langsam aber schmeckt das selbst gebackene Bananenbrot nicht mehr, also, | |
Mutti, wann sind wir endlich da-haaa? Ich will nicht gemein sein, für viele | |
Menschen ist das Alleinsein grausam, vor allem in ihrem Sinne hoffe ich, | |
dass wir wirklich bald da sind: in der Wiedereröffnung des Lebens, wie wir | |
es kannten. | |
## Utopien und Dystopien gedeihen in der Quarantäne | |
Aber wird es je wieder, wie es war? Oder wird alles anders? Die Utopien und | |
Dystopien gedeihen bestens in der Quarantäne: Wir werden solidarischer | |
(Hallo, [1][Menschen aus Moria]!), genügsamer (Ade, Kapitalismus!), | |
überwachbarer (Was gibt's, Zoom?). Wir werden nicht mehr in den Urlaub | |
fliegen (Ging ja gut, ohne, in den Osterferien, oder?) und endlich die | |
niederen Kasten besser bezahlen (und zwar nicht nur mit Applaus). Echt | |
jetzt? | |
Ich glaube eher: Ja, der Mensch ist in heiklen Situationen zu sehr viel | |
fähig. Genauso, wie man den Grusel vor Körperflüssigkeiten sehr schnell | |
vergisst, wenn jemand Erste Hilfe braucht, schaltet man auch leicht in | |
jeden anderen Krisenmodus um. Wächst mal kurz über sich hinaus. Von Dauer | |
ist es meistens nicht: Die derzeit viel gefeierte [2][Solidarität], die | |
gab’s angeblich auch in der DDR und die wird’s wohl auch geben, wenn der | |
Klimawandel uns verbrennt. In den bequemen Zeiten dazwischen aber, werden | |
wir, schätze ich, genauso schnell wieder uns selbst die Nächsten sein, wie | |
wir’s brauchen, um den ersten Post-Corona-Flug zu buchen. Davon abgesehen: | |
So wahnsinnig weit her ist es mit dem Mitgefühl auch jetzt nicht. | |
Kurzum: An eine andere Gesellschaft nach Corona glaube ich nicht. Nein, | |
sorry, liebe linke Leser, auch der Kapitalismus wird nicht gezähmt werden. | |
Zur Erinnerung: Ein Teil Deutschlands hat 40 Jahre lang ohne ihn gelebt – | |
und ihn dann ruckzuck und selbstvergessen lieben gelernt. Warum also sollte | |
er nach ein paar [3][Wochen erzwungenen Konsumverzichts] verschwinden? | |
Genauso wenig werden wir dauerhaft besser aufeinander achtgeben – wo wir | |
uns doch schon jetzt dauernd gegenseitig Vorwürfe machen. | |
## Geduld als Konzept | |
Menschen haben Mühe, sich in jahrelangen Therapien zu ändern, und diese | |
fordern harte Auseinandersetzung mit sich selbst. Und das ist mehr als ein | |
paar längere Telefonate mit Freunden oder ein paar echte Gespräche statt | |
Netflix mit dem Partner. | |
Was wir wirklich rüber retten könnten in die Zeit danach, ist, Geduld zu | |
haben. Mit dem Partner, der ja echt so ’nen ganz anderen Tagesrhythmus hat. | |
Mit den Kollegen, die echt immer anderer Meinung sind, mit den Kindern, die | |
echt immer wieder dieselbe Geschichte vorgelesen haben wollen. Mit den | |
Risikogruppen, die echt trotz ihrer Schwäche leben wollen. Geduld, kurz zur | |
Erinnerung, meint das Konzept, anzuerkennen, dass es für ein Problem nicht | |
nur keine schnelle, sondern gar keine Lösung gibt. Und dass das okay ist. | |
Jetzt also, wo die ganzen Tricks zur Selbstablenkung durchgeturnt sind, | |
gibt es die Chance, sich so langsam einmal mit sich selbst zu beschäftigen. | |
Und was da durch die Langeweile ans Licht drängt, ist unangenehm – sonst | |
würde man ja nicht so viel Kraft drauf verwenden, es mit Tun zu übertönen: | |
Mit Jobs, die man so wichtig nimmt, dass man freiwillig unbezahlte | |
Überstunden macht, mit Podcasts, die man nach der Arbeit noch zur | |
Weiterbildung hört, mit Brunch und Basteln am Wochenende, you name it. | |
Jetzt, wo es bald nichts mehr zu tun und schon gar nichts mehr zu planen | |
gibt, braucht es weniger große Ideen. Besser wäre, sich geduldig den | |
eigenen Unzulänglichkeiten zu stellen. | |
Etwa der, dass man den Camus, wie ich, noch nicht mal angefasst hat. | |
18 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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