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# taz.de -- Überfall auf die Sowjetunion 1941: Unfassbare Wirklichkeiten
> Unser Autor lebte Anfang der 90er in St. Petersburg – der Stadt, die
> durch die Blockade der deutschen Wehrmacht besonders litt.
Bild: Winter 1941/42: Leningrader*innen flüchten nach einem Bombenangriff
1992 kam ich als Ostler in der Rolle eines westlichen Geschäftsmannes nach
St. Petersburg, um das erste kostenlose Anzeigenblatt der Stadt zu gründen.
Ich kannte Leningrad, das ich zuletzt im Sommer 1989 als einen Ort des
Aufbruchs erlebt hatte. Jetzt geriet ich in eine Gesellschaft, die förmlich
explodierte, wobei der allergrößte Teil der Bevölkerung mit einer
ungekannten Armut konfrontiert wurde, die insbesondere für die ältere
Generation lebensbedrohliche Ausmaße annahm. Die Inflation schuf Tag für
Tag immer absurdere Wirklichkeiten. Ich verdiente mehr als das Hundertfache
dessen, was die Redakteure bekamen – und das Zweihundertfache von dem, was
Milizionäre erhielten.
Die über 70-jährige Pförtnerin im Tass-Gebäude, in dem sich auch unsere
Redaktion befand, konnte ein paar Brocken Deutsch. Als ich fragte, woher
sie ihr Deutsch habe, stellte sich heraus, dass sie es als Zwangsarbeiterin
in Deutschland gelernt hatte. Mein Redaktionschef war Leningrader, er
nannte sich einen „Blokadnik“, einen Überlebenden der Blockade, da war er
ein Kind gewesen. Er habe nur wenige Erinnerungen, es lohne nicht, darüber
zu sprechen.
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, die Bedeutung des Wortes
„Vernichtungskrieg“ wirklich zu ermessen. [1][Mit dem Überfall auf die
Sowjetunion am 22. Juni 1941] begannen in den besetzten Gebieten die
Massenmorde an den Juden, zugleich auch Massenmorde an der Bevölkerung. Ein
erklärter Zweck des Krieges war die „Dezimierung der slawischen Bevölkerung
um 30 Millionen“ und wurde, so muss man sagen, nahezu „erreicht“. „Der
Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu
tilgen“, heißt es in einer geheimen Direktive des Stabes der deutschen
Kriegsmarine vom 22. September 1941.
„Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an
dem Fortbestand dieser Großsiedlung. (…) Es ist beabsichtigt, die Stadt eng
einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und
laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleichzumachen. Sich aus der Lage der
Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. (…) Ein
Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen
Bevölkerung besteht (…) unsererseits nicht.“
Kein Interesse am Fortbestand der „Großsiedlung“, kein Interesse an der
Erhaltung „dieser großstädtischen Bevölkerung“.
## Zeugnisse wie diese sind eine Zumutung
Der Schriftsteller Daniil Granin, der zu den Verteidigern Leningrads gehört
hatte, sprach am 27. Januar 2014 vor dem deutschen Bundestag über die
Belagerung. „Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad
gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie
900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und
unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit
der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt
Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte.“ Der
95-Jährige resümierte: „Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur
noch Erinnerung.“
In dem von Daniil Granin und Ales Adamowitsch herausgegebenen
„Blockadebuch“ lässt sich nachlesen, was die Blockade Leningrads
tatsächlich bedeutet hat, was sich hinter der Zahl von achthunderttausend,
wahrscheinlich aber von über einer Million Opfern verbirgt. Zeugnisse wie
diese zur Kenntnis zu nehmen ist auch eine Zumutung. Aber wie anders sollen
wir Nachgeborene verstehen können, was ein Vernichtungskrieg bedeutet.
Von den 24 Millionen Opfern auf sowjetischer Seite (andere Schätzungen
sprechen von 27 Millionen) waren zehn Millionen Soldaten (von denen drei
Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft umgebracht wurden; auch das
Giftgas Zyklon B war zuerst an ihnen „getestet“ worden, bevor es in
Auschwitz zum Einsatz kam), 14 Millionen waren Zivilisten, das heißt,
hauptsächlich Frauen, ältere Männer und Kinder.
Während der Zeit in St. Petersburg hat mich niemals jemand daran erinnert,
dass ich, der ich mehr als nur privilegiert lebte, aus jenem Land kam, das
den Krieg verloren hat und verantwortlich ist für das, was den Bewohnern
dieser Stadt (und nicht nur dieser) angetan wurde. Und niemand hat mich
dort darauf hingewiesen, dass mein Leben, ja unser aller Leben in
Deutschland, letztlich überhaupt nur möglich ist, weil jene, die das
nationalsozialistische Deutschland besiegten, uns das Schicksal ersparten,
das ihnen selbst im deutschen Namen zugedacht gewesen war.
22 Jun 2021
## LINKS
[1] /Deutscher-Ueberfall-auf-die-Sowjetunion/!5777262
## AUTOREN
Ingo Schulze
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Russland
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