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# taz.de -- Kulturelle Identität: Die Sache mit dem Haken
> Das kroatische Häkchen, das zum Namen Matuško gehört, hatte der Vater
> unseres Autors abgestreift. Nun fragt sich unser Autor: Gehört der Haken
> zu mir?
Bild: Klare Identität? Die Sache hat einen Haken
Am 15. Juni dieses Jahres schrieb ich der kroatischen Botschaft in Berlin
eine Mail und bekam nur einen Tag später eine Antwort, auf eine Frage, die
ich gar nicht gestellt hatte: Woher komme ich eigentlich?
Was ich gefragt hatte, war: Ob ich meinen kroatischen Vater während Corona
und trotz Einreisebeschränkung für Ausländer besuchen dürfte. Am Ende
meiner Mail stand: „Mit freundlichen Grüßen, Ilija Matusko“. Die Antwort
der Botschaft: „Sehr geehrter Herr Matuško, Sie dürfen!“
Der spitze Pfeil über dem s sprang mir direkt ins Gesicht. Das Häkchen, das
im Kroatischen zu meinem Namen gehört, das mein Vater auf seinem Weg nach
Deutschland abgestreift hatte und für das man im Deutschen in die
Sonderzeichen wechseln muss, es war wieder da. Wie eine Kette, die ich
verloren hatte und jetzt wieder um den Hals gebunden bekam, ob ich wollte
oder nicht: [1][Woher du kommst?] Na, von hier! Von uns!
Ein Sonderzeichen bezeichnet etwas, das im eigenen Schreiben und Sprechen
nicht vorkommt. Es nötigt dazu, das eigene Zeichensystem zu verlassen.
Solche an Buchstaben angebrachten Striche und Häkchen nennt man
diakritische Zeichen, sie erweitern den Zeichenraum, sind aber auch
Stolperfallen. Kaum jemand kann den Namen des Buchpreisträgers Saša
Stanišić korrekt aussprechen. Oft werden die Sonderzeichen vergessen oder –
schlimmer noch – bewusst weggelassen.
## Der Haken fühlt sich fremd an
Der Haken über dem s heißt Háček (Deutsch: Hatschek). Ein Name mit Hatschek
ist für viele immer noch wie ein Fremder, wie ein Slawe mit Bart, der nach
Šljivovic riecht (Schliwowitz). Auch für mich. Der Haken im Namen fühlt
sich fremd an, daher meine Abwehr. „Gehört der Haken Ihnen?“, „Nein, nie
gesehen!“
Ich bin in Deutschland geboren, habe eine deutsche Mutter, einen deutschen
Pass, einen deutschen Abschluss. Ich schreibe vielleicht deswegen so oft
Deutsch, weil es Zweifel daran gibt. Die Frage kommt immer noch dann und
wann: „Woher kommt dein Name?“ (also „Woher kommst du?“), erst kürzlich
schrieb mir jemand: „Sie können aber gut Deutsch!“
## Als wäre Identität ein Apfel
Lange dachte ich, ich wäre halb-halb. Halb deutsch, halb kroatisch. Als
wäre Identität ein Apfel, den man in zwei Hälften schneiden kann. Dabei
kriege ich auf Kroatisch gerade so ein „Guten Tag“ hin. Ich trinke auch
keinen Šljivovic, in der Regel. Vom Kroatischsein habe ich so gut wie
nichts mit auf den Weg bekommen, bis auf den Namen. Die eingedeutschte Form
habe ich nie hinterfragt, das Häkchen meines Vaters nie wirklich vermisst.
Kurz überlegte ich, die Botschaft einfach offen zu fragen, wer ich bin.
Wieder in einer „Sehr geehrte Damen und Herren“-Mail, mit drei Leerzeilen
dazwischen, als würde ein wenig Platz dabei helfen, sich über all die
Unsicherheiten zu Herkunft und Zugehörigkeit Gedanken zu machen. Vermutlich
hätten sie dann keine Antwort. Manche Fragen werden klarer beantwortet,
wenn sie gar nicht gestellt werden. Es ist nur ein kleines Häkchen, ein
paar Millimeter, mehr nicht. Trotzdem hat es sich in mir verhakt.
## Mein Vater gab das Häkchen am Einlass ab
Nicht ich habe den Haken verloren, sondern mein Vater. Wobei – eher am
Einlass abgegeben. Als er 1974 von Jugoslawien nach Deutschland kam. Ohne
Häkchen im Namen gab es weniger Probleme in deutschen Behörden, mit
Formularen, bei Genehmigungen. Ohne Häkchen war sein Name leichter
verständlich, einfacher zu buchstabieren. „Name?“ „Matuschko“. „Also…
c, h,?“, „Nein, mit š.“
Ich sehe den Beamten vor mir, der wie ein Storch auf der Schreibmaschine
herumtappt, umgeben von Holzvertäfelung, und dann am Ende ein sauberes s
ins Papier drückt. Ein slawischer Zischlaut hatte auf der Olympia nichts
verloren. Mein Vater hatte nichts dagegen, er wollte sich benehmen,
Anpassungswillen zeigen. Wenn schon ein Name nicht in die deutsche Ordnung
passte, dann vielleicht auch nicht der ganze Mensch. Vielleicht hoffte er,
seine Herkunft ein wenig verwischen zu können.
## Mehr 4711 statt Jugo
Oder er dachte, das wäre nur fair: Er ließ beim Sprechen die deutschen
Umlaut-Pünktchen weg – und sie sein Háček. So saß mein Vater in der
„Auslenderbehorde“, im Land der großen Chancen, mit neuer Jeans,
mittelteuren Schuhen und frisch abrasiertem Namen, Petar Matusko, das roch,
auch dank des Vornamens, ein bisschen mehr nach 4711 als nach Jugo.
Die Angleichung von Fremdwörtern nennt sich Eindeutschung. Keks für Cakes,
Fete für Fête, Hatschek für Háček. Aber dann hätte ich Matuschko heißen
müssen, denke ich. Das hätte so gewirkt, als wären wir schon ewig hier.
„Matuschko? Das wäre ja noch falscher gewesen“, sagt mein Vater, als ich
ihn anrufe, weil ich mehr über den verlorenen Haken wissen will. „Ohne
Haken war vieles leichter“, sagt er. Noch leichter wäre der Name meiner
Mutter gewesen. Eva Müller. Ich hätte also auch Ilija Müller heißen können.
So viel Eindeutschung war meinem Vater dann doch zu viel.
## Kroatische Gerichte von der Karte getilgt
Nach der Heirat eröffneten meine Mutter und mein Vater eine Wirtschaft,
viele Jahre lief das Geschäft gut, und das Geld floss in ein Haus an der
Adria. Mein Vater lernte zwei Sprachen auf einmal, Deutsch und Bayerisch.
Er parkte ordentlich, füllte jedes Formular korrekt aus, kannte jeden
deutschen Minister, knauserte nicht mit Freibier und machte Witze über
Österreicher. Er lächelte, wenn die Gäste Späße über seine Landsleute
machten, ihn für seine Sauberkeit lobten, er ließ sich duzen, auf die
Schultern klopfen.
Irgendwann wurden die kroatischen Gerichte von der Speisekarte getilgt, aus
Pljeskavica wurde Hacksteak, aus Ražnjići wurden Fleischspieße. Eine seiner
Lieblingsanekdoten, über die wir häufig lachten: Als er meinem Lehrer in
der Schule die Hand geben wollte, am Kuchenbuffet, und der Lehrer
zurückzuckend dachte, mein Vater wolle ihm den Kuchen vom Teller klauen.
## Nicht auffallen hieß „gut integriert“
Fleißig, korrekt und ordentlich sein, [2][nicht auffallen, die Klappe
halten, das hieß damals „gut integriert“]. Die meisten wollten ja auch
selbst wieder zurück. Und mir stellt sich die Frage, ob ich meine Bindung
zu Kroatien auch deswegen verloren habe, weil mein Vater seine kulturelle
Identität in Deutschland nicht offener ausleben konnte. Ich spreche nicht
einmal die Häkchen-Sprache. Mein Vater meinte damals, ich würde sie hier
nicht brauchen. Die eigene Identität als unnötiger Ballast, den man
abwirft.
„Wolltest du das Ausländische verstecken?“, frage ich meinen Vater. „Nei…
ich habe den Haken einfach weggelassen“, antwortet er. „Hat dich das nicht
gestört?“, „Es ist ja nur ein Buchstabe“, antwortet er, in seiner
pragmatischen, deutschen Art.
## Meine Gefühle sind meinem Vater fremd
Es hat sich etwas verschoben, meine Befindlichkeiten sind meinem Vater
fremd. Nicht er hat ein Problem mit dem Haken, sondern ich. Gut, er hat
seinen ja auch wieder, seitdem er zurück in seiner Heimat ist. Heute sitzt
er in einem mühsam aufgebauten Haus, in einem kaputten, korrupten Land und
schwärmt von Deutschland, wo alles funktioniert.
Meine Schwester ist fünf Jahre älter als ich und wohnt in Bayern. Sie hat
sich den Haken irgendwann zurückgeholt und in ihren Pass eintragen lassen.
„Der Name g’hört so“, sagt sie, als ich sie nach dem Warum frage. Jedes
Jahr fährt sie für mehrere Wochen „runter“, hat ein rot-weiß kariertes
Fähnchen am Rückspiegel und hält im Fußball zu Kroatien. Ich beneide sie
darum, so ungezwungen mit den Herkünften zu jonglieren. Der Nachtrag sei
nur möglich gewesen, weil es so in ihrer Geburtsurkunde stand, erzählt sie.
## Der Haken war von Anfang an da
Ilija Matuško, der Name meines Großvaters. Er hat sein ganzes Leben in
einem Steinhaus in einem kleinen Dorf verbracht. Er hatte nichts und er
hatte alles: Schafe, Käse, Brot, Wein, Berge, Meer und Sonne. Und im
weggeschnittenen Haken verdichtet sich alles, was mir seither abhanden
gekommen ist, was sich nicht mehr einsammeln lässt – selbst, wenn ich in
alle Ausweise nachträglich ein š reinkritzeln würde.
Im Keller stöbere ich nach meiner Geburtsurkunde, sie ist mit einer
Schreibmaschine ausgefüllt, da steht tatsächlich: Ilija Matuško. Ein
kleines v fliegt etwas zu weit über dem s. Zwei Zeichen ergeben das
Sonderzeichen. Der Haken war von Anfang an da. Ob er zu mir gehört, zu
meinem Namen, weiß ich immer noch nicht. Vielleicht braucht es dafür noch
ein Sonderzeichen: ein Häkchen in Klammern.
1 Dec 2020
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## AUTOREN
Ilija Matusko
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