# taz.de -- Berlins Integrationsbeauftragte: „Wir wollen eine verbindliche Qu… | |
> Die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial will die Zahl | |
> von „Menschen mit Migrationsgeschichte“ in staatlichen Institutionen | |
> erhöhen. | |
Bild: Katarina Niewiedzial, Beauftragte des Berliner Senats für Integration un… | |
taz: Frau Niewiedzial, sagen Sie doch bitte als Integrationsbeauftragte des | |
Senats: Was ist Integration? | |
Katarina Niewiedzial: Das ist ein Begriff, der in letzter Zeit sehr | |
hinterfragt wird – vor allem von jenen, die sie leisten sollen. Sie | |
kritisieren zu Recht, dass Integration als Fremdzuschreibung von der | |
Mehrheitsgesellschaft definiert wird. Das macht die Leute so ohnmächtig, | |
viele haben das Gefühl, sie können alles tun, was von ihnen verlangt wird, | |
und immer noch wird ihnen abgesprochen, „wirklich“ integriert zu sein. | |
Darum bin auch ich kein Fan von dem Begriff, auch wenn er im Alltag ganz | |
praktikabel ist. Wir sollten die Begrifflichkeiten weiterentwickeln. | |
Wie? | |
Ich spreche gern von der Migrationsgesellschaft und von | |
Ankommensstrukturen. Migration ist zum hervorstechendsten Merkmal moderner | |
Gesellschaften geworden. Es geht um eine Vielfalt der Sprachen, Bezüge und | |
Lebensweisen, die unsere Stadt prägen. Darum wollen wir den Begriff | |
Migrationsgesellschaft im Rahmen der Novelle des Partizipations- und | |
Integrationsgesetzes gesetzlich verankern. Im angelsächsischen Raum kennt | |
man den Begriff Integration übrigens nicht. Da spricht man von | |
Diskriminierung auf der einen Seite und von Diversity auf der anderen. | |
Was tut das neue Partizipations- und Integrationsgesetz konkret in diesen | |
beiden Hinsichten: Diskriminierung beziehungsweise Diversität? | |
Zwei Dinge. Einmal geht es tatsächlich darum, die Begriffe auf den | |
Prüfstand zu stellen und Alternativen anzubieten. Das Wort Integration | |
taucht in dem neuen Gesetzesentwurf nicht auf. Zum anderen geht es darum, | |
die Zielgruppe des Gesetzes aktiv zu fördern – und das möglichst | |
verbindlich. Das Gesetz gibt es schon seit zehn Jahren, die übergreifenden | |
Ziele gelten nach wie vor. | |
Und was hat das Gesetz bislang gebracht? | |
In der Tat sind wir von der gleichberechtigten Teilhabe noch weit entfernt. | |
Noch immer gibt es viele Hürden und Barrieren für Menschen mit | |
Migrationsgeschichte. Die Ziele wurden damals nicht konkret genug | |
formuliert. Das wollen wir nun besser machen. | |
Wir reden jetzt vor allem von der Anstellung von Menschen im öffentlichen | |
Dienst, oder? | |
Genau, damit fängt es an: Repräsentation und Sichtbarkeit von Menschen mit | |
Migrationsgeschichte in staatlichen Institutionen sind etwas grundlegend | |
Demokratisches. Nur wenn sich alle gesellschaftlichen Gruppen dort | |
widerspiegeln, fühlen sie sich zugehörig und vertreten. Aber Fakt ist: | |
Unsere Institutionen haben ein Repräsentationsproblem – und das merken sie | |
inzwischen. Es fehlt ihnen dadurch eine bestimmte Perspektive – und sie | |
haben bei ihrer Arbeit, der Umsetzung von Politik in Verwaltungshandeln, | |
blinde Flecken. | |
Aber man liest immer, dass der Anteil von Menschen mit | |
Migrationshintergrund in der Verwaltung heute viel höher sei als früher. | |
Eigentlich wissen wir das gar nicht, weil wir die Zahlen nicht haben. Wir | |
erheben den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in den Behörden | |
gar nicht. In der Bevölkerungsstatistik dagegen schon, da liegt er bei rund | |
35 Prozent. In manchen Verwaltungen erheben wir den Anteil lediglich bei | |
den Auszubildenden. Bis zu 50 Prozent der Berliner Jugendlichen haben | |
inzwischen eine eigene Migrationsgeschichte, das spiegelt sich nicht in den | |
Ausbildungszahlen des öffentlichen Dienstes wider. Also der erste Punkt im | |
neuen Gesetz ist: eine Erhebung der Zahlen im öffentlichen Dienst. Ohne | |
konkrete Zahlen keine Politik. | |
Was heißt das? | |
Wir brauchen eine statistische Grundlage für eine gezielte Personalpolitik. | |
Dabei gibt es Kritik aus der Zivilgesellschaft an dem Begriff | |
„Migrationshintergrund“. Denn was ist mit Schwarzen Deutschen, die haben ja | |
keinen Migrationshintergrund? Oder mit Menschen der dritten | |
Einwanderergeneration, die haben laut Definition auch keinen. Also müssen | |
wir den Begriff derer, die wir in den Blick nehmen wollen, erweitern. | |
Und wie heißt die neue Zielgruppe: „Menschen mit Rassismuserfahrungen“? | |
Nein. Darüber haben wir uns lange Gedanken gemacht. Wir wollen nicht | |
ethnisieren, wir wollen viele erreichen, und wir wollen eine positive | |
Konnotation von der eigenen oder familiären Migrationsgeschichte. Darum | |
haben wir als Oberbegriff „Menschen mit Migrationsgeschichte“ gewählt. Die | |
Kritik am „Migrationshintergrund“ war ja auch immer, dass er stigmatisiert. | |
Ich will, dass Migration als etwas Positives gesehen wird. | |
Aber wie passt da der Schwarze Deutsche rein? | |
Nicht so schnell! Unter dem Oberbegriff fassen wir Menschen mit einer | |
eigenen oder einer zugeschriebenen Migrationsgeschichte, aber auch | |
Menschen, die aufgrund bestimmter Merkmale von Rassismus betroffen sind. Da | |
es um konkrete Ziele und Maßnahmen geht, konnten wir den Begriff | |
Migrationshintergrund auch nicht ganz weglassen, denn er ist als einziger | |
statistisch erfasst – wie gesagt, rund 35 Prozent der Berliner Bevölkerung | |
haben einen. Ausgehend von diesen Zahlen brauchen wir eine gezielte | |
Strategie in den Personalabteilungen. | |
Und das Ziel ist, diesen Anteil auch in den Institutionen zu erreichen? | |
Ja. Das stand auch – etwas weicher formuliert – im alten Gesetz. Diesmal | |
wollen wir eine verbindliche Quotierung. Wir sagen den Behörden und | |
Institutionen: Das Ziel ist, die Zahl der Beschäftigten mit | |
Migrationsgeschichte gemäß ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung zu | |
erhöhen. Die Verwaltung muss glaubwürdig darlegen, welche Strategien sie | |
wählt, um das zu erreichen. Sie muss nachweisen, dass sie genug Menschen | |
mit Migrationsgeschichte anspricht, einlädt und – bei entsprechender | |
Qualifikation – auch einstellt. Der Moment der Einstellung ist | |
entscheidend. Die Repräsentanz muss auch auf allen Führungsebenen erhöht | |
werden. | |
Es gab in diesem Jahr einige Debatten, etwa zu Racial Profiling, zum | |
Kopftuch bei Lehrerinnen, zum neuen Antidiskriminierungsgesetz (LADG) – da | |
hätte man erwartet, dass auch Sie sich äußern. Aber der öffentliche | |
Auftritt liegt Ihnen wohl nicht so sehr? | |
Das ist tatsächlich eine Lehre der ersten eineinhalb Jahre meiner Arbeit: | |
dass ich nicht so sehr nach der Zuständigkeit gehen sollte. Formal ist ja | |
für das LADG die Senatsverwaltung für Justiz und Antidiskriminierung | |
zuständig. Aber natürlich erwarten viele, dass die Integrationsbeauftragte | |
sich zu dem Gesetz äußert. Das habe ich über soziale Medien auch getan. | |
Andererseits möchte ich nicht einfach nur appellativ wirken. Ich bin keine | |
Parteipolitikerin, sondern Teil der Verwaltung und will immer schauen, was | |
ich konkret machen kann. Zum Thema Rassismus habe ich inzwischen viele | |
Gespräche geführt und jetzt auch ein paar Ideen, was ich dazu beitragen | |
kann. | |
Unterscheidet Sie das von Ihrem Vorgänger Andreas Germershausen? Der hat | |
sich, wenn ihm ein Thema wichtig schien, auch mal gegen den Senat gestellt, | |
etwa bei der Kopftuchfrage. | |
Dazu habe ich auch eine klare Position. Als ich ganz am Anfang meines Jobs | |
danach gefragt wurde, wie ich zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen stehe, | |
habe ich gesagt: Ich weiß es nicht, aber ich will mich vor allem mit jenen | |
unterhalten, die vom Neutralitätsgesetz betroffen sind. Inzwischen habe ich | |
das gemacht und war sehr beeindruckt von den Schilderungen der Frauen, sie | |
haben meine absolute Unterstützung. Gerade unter dem Aspekt „Berufsverbot“ | |
finde ich das Neutralitätsgesetz eine echte Ungerechtigkeit. Das sind | |
Berlinerinnen, Frauen, die sich hoch qualifiziert haben – und jetzt sollen | |
sie nicht arbeiten dürfen? Warum? Muslimische Männer haben ja an dieser | |
Stelle nicht das Problem. | |
Heißt das, Sie haben erst durch diese Gespräche Ihre Position in der Frage | |
gefunden? | |
Nein, aber es geht ja nicht um meine Meinung. Sondern ich sehe meine | |
Aufgabe darin, Fürsprecherin zu sein. Darum gehe ich direkt auf die Leute | |
zu, frage sie, gucke mir ihre Lage an. Dann kann ich gestärkt in die | |
Öffentlichkeit gehen und weiß, wovon ich rede. | |
Was können Sie tun in Bezug auf das Problem des zunehmenden | |
antimuslimischen Rassismus? | |
Für mich fällt das unter den Oberbegriff Rassismus. Dazu haben sich in | |
diesem Jahr wirklich viele Gruppen und Initiativen zu Wort gemeldet, haben | |
Allianzen gebildet, die sich im Kampf für Anerkennung und gegen Ausgrenzung | |
positionieren und gemeinsam auf die Straße gehen. Wenn Corona nicht wäre, | |
wäre 2020 vermutlich das Jahr des Antirassismus geworden. Und natürlich | |
haben diese Gruppen meinen Support. Vor allem aber fühle ich mich | |
angesprochen bei der Kritik an strukturellem Rassismus, strukturellen | |
Barrieren und Hürden – hier sehe ich meine Aufgabe. Und da sind wir wieder | |
beim neuen Partizipationsgesetz. | |
Was kann das gegen strukturellen Rassismus ausrichten? | |
Man muss das zusammen sehen mit dem LADG, das sind zwei Seiten derselben | |
Medaille. Das LADG bietet Schutz und eine Möglichkeit, sich individuell zu | |
wehren, wenn Diskriminierung passiert ist. Und unser PartMigG, also das | |
„Gesetz zur Partizipation in der Migrationsgesellschaft“, so nennen wir | |
unseren Vorschlag, der gerade in der Senatsabstimmung ist, ist ein | |
Fördergesetz. Wir wollen damit proaktiv auf eine – ziemlich große – Gruppe | |
aufmerksam machen, die einen Nachteilsausgleich braucht. Weil diese | |
Menschen eben nicht die gleichen Startbedingungen haben – durch Rassismus | |
bedingt, aber auch durch Migration. Auch eine weiße eingewanderte Person, | |
die sich in den Strukturen hier nicht auskennt, nicht Muttersprachler ist, | |
kein Netzwerk aus Schul- und Studienzeiten hat, hat es schwer beim „Marsch | |
durch die Institutionen“. Wir müssen also analysieren, wo unsere | |
Institutionen Teilhabe verhindern, damit die Leute eine Chance bekommen – | |
und wir als Institutionen die Chance, uns zu diversifizieren. | |
Apropos Corona: Auch die Pandemie hat ja einen Diskriminierungseffekt. Es | |
gibt Beschwerden über Racial Profiling bei der Durchsetzung des | |
eingeschränkten Versammlungsrechts durch die Polizei. Es gibt immer wieder | |
Medienberichte über migrantische Gruppen als angebliche „Superspreader“, | |
etwa bei Hochzeiten. Wäre das nicht auch ein Feld, wo Sie offensiv als | |
Fürsprecherin auftreten könnten? | |
Das mache ich seit März sehr aktiv. Ich setze mich dafür ein, dass die | |
Krisenkommunikation des Senats mehrsprachig ist, damit sie alle Menschen in | |
dieser Stadt erreicht. Zudem halte ich engen Draht zu den migrantischen | |
Communitys. Es ist schlicht falsch, dass das erhöhte Infektionsgeschehen | |
auf migrantische Gruppen zurückzuführen ist. Dafür gibt es zu viele | |
Infektionsherde unterschiedlichen Ursprungs. Ich wehre mich entschieden | |
gegen eine Ethnisierung der Pandemie. | |
6 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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Katarina Niewiedzial | |
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