| # taz.de -- Interview mit Andrea Petković: „Dein eigener größter Feind“ | |
| > Als Tennisspielerin feierte sie bereits weltweit Erfolge. Nun ist ihr | |
| > erster Roman erschienen. Ein Gespräch über Erwartungen, Ehrgeiz und Wut. | |
| Bild: Andrea Petković hat ihre Wut auch auf dem Tennisplatz rausgelassen | |
| Das Crown Plaza Hotel im Berliner Westen. Andrea Petković hat am Vortag | |
| noch beim Turnier bett1Aces in Berlin gespielt. Sie hat das letzte Match | |
| gewonnen, den dritten Platz belegt. Am Morgen danach kommt sie in die | |
| Hotellounge, nimmt zum Interview in einem Sessel am Fenster Platz. | |
| taz am wochenende: Frau Petković, ich hätte die Themen Tennis und | |
| Psychologie, Literatur, Feminismus, Migration und Popkultur zur Auswahl. | |
| Womit wollen Sie beginnen? | |
| Andrea Petković: Am besten von oben nach unten. Also Tennis und | |
| Psychologie. | |
| Zu Beginn Ihres Buchs „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“ schreiben | |
| Sie über Ihre Wutausbrüche als junges Mädchen auf dem Tennisplatz. Sie | |
| erwähnen Ihre Klassenlehrerin, die Sie gefragt habe, „woher diese Wut | |
| komme, (…) ob sie einen tieferen Grund habe?“. Wissen Sie es inzwischen? | |
| Um das herauszubekommen, habe ich sehr viele Sessions mit meinem | |
| Therapeuten gebraucht! Das war aber auch erst, nachdem ich 30 geworden bin. | |
| Es ist wohl so: Alle Konflikte, die ich mit mir selbst habe und mit mir | |
| herumtrage, manifestieren sich auf dem Tennisplatz. Das sagt er zumindest | |
| (lacht). Ich bin mal gespannt, wie mein Leben nach der Tenniskarriere wird. | |
| Denn auf dem Platz kann ich diese inneren Konflikte in einer gesunden Art | |
| und Weise in einen anderen Bereich verlagern. Wenn ich aufhöre, muss mein | |
| Therapeut noch mal ran. | |
| Hat der Ehrgeiz auch etwas mit dem hohen Niveau zu tun, auf dem Sie von | |
| klein auf gespielt haben? | |
| Nein. Dieses Gefühl, ein Match zu spielen, bei dem es um etwas geht, kann | |
| in der Kreisliga ähnlich sein. Sobald du den Platz betrittst, legt sich ein | |
| Schalter um. Deswegen nervt es mich, wenn Leute sagen: Es ist doch nur ein | |
| Spiel, entspann dich. Wenn ich den Platz betrete, kommt es mir vom ersten | |
| Ballwechsel an so vor, als gehe es um Leben und Tod. Der rationale Teil von | |
| mir weiß, dass das Quatsch ist. Für den irrationalen Teil fühlt es sich an | |
| wie in der Steinzeit bei einem Fluchtmoment. | |
| An einer Stelle schreiben Sie sinngemäß, auf dem Tennisplatz sei man immer | |
| mit Urängsten konfrontiert. | |
| Ja, und es bleibt so, egal, wie erfolgreich du bist. Ich erinnere mich an | |
| eine Situation in meiner Karriere, nachdem ich schon in den Top Ten der | |
| Welt gewesen war, genug Geld verdient hatte und längst mit meinem eigenen | |
| Trainer und eigenem Physiotherapeuten zu Turnieren reiste. Damals wäre ich | |
| wahrscheinlich aus den Top 100 gefallen, wenn ich die nächsten zwei Matches | |
| verloren hätte. Das war für mich, als wenn ich wieder 18 wäre, in | |
| irgendwelchen abgelegenen Regionen kleine Turniere spielen müsste, für die | |
| sich kein Mensch interessiert, und mit anderen Spielerinnen zusammen in | |
| dreckigen Hotels schlafen müsste. Ich bin durchgedreht auf dem Platz. Ich | |
| war so in diesem Momentum drin. | |
| Dabei hatten Sie schon mehrere Millionen Euro verdient, waren völlig | |
| abgesichert. | |
| Ja. Aber das ist so sehr im Unterbewusstsein, dass dein System einfach auf | |
| diese Dinge reagiert, auch wenn sie nicht der Realität entsprechen. Bei mir | |
| war es immer Angst davor, dass einem alles genommen wird. Wenn man aus | |
| Migrantenfamilien stammt, kommt das, glaube ich, häufig vor. Da gibt | |
| es diese Denke: Wir mussten schon mal alles verlassen, es kann immer wieder | |
| passieren. Man fragt sich: Was ist, wenn irgendetwas passiert? Was, wenn | |
| wir des Landes verwiesen werden? Das wird natürlich nicht passieren! Ich | |
| habe einen deutschen Pass, ich habe in der deutschen Nationalmannschaft | |
| gespielt. Aber die Angst ist echt. | |
| Sie haben eine bosnische Mutter, einen serbischen Vater, und Sie sind in | |
| Darmstadt aufgewachsen. „Ich stand zwischen zwei Welten“, schreiben Sie, | |
| richtig zugehörig haben Sie sich in Deutschland nicht gefühlt. Warum nicht? | |
| Viele Einwandererfamilien haben einen gewissen Minderwertigkeitskomplex, | |
| zumindest wenn sie aus einem vielleicht weniger entwickelten Land in ein so | |
| entwickeltes Land wie Deutschland kommen. Man denkt automatisch: Das Land | |
| ist schon viel weiter, die wissen viel mehr. Obwohl ich sehr gut in der | |
| Schule war, hatte ich immer das Gefühl: Die wissen mehr als ich. Auch die | |
| Erziehung hat mich von meinen deutschen Freundinnen und Freunden getrennt. | |
| Ein Beispiel: Wenn während meiner Grundschulzeit ein Kind Geburtstag hatte, | |
| wurden alle anderen Kinder zu ihm eingeladen. Dort haben dann alle | |
| übernachtet. Das durfte ich nie. Dass Mädchen bei Jungs übernachteten, | |
| wollten meine Eltern nicht. Ich habe mir immer Ausreden ausgedacht. | |
| Auch kulturell stehen Sie ja zwischen zwei Welten. Mit Ihrer Familie haben | |
| Sie Lieder von Goran Bregović gesungen. | |
| Ja, die serbische Kultur meiner Familie spielt in dem Buch auch eine große | |
| Rolle. Der Zusammenhalt der Familie ist in Balkanfamilien oft stärker als | |
| in deutschen Familien. Du kannst dich nie von deiner Familie lösen, im | |
| positiven wie im negativen Sinne. In westlichen Ländern herrscht ein viel | |
| freiheitlicheres Verhältnis zur Familie. Das kann auch gut sein, denn du | |
| kannst dir deine Familie ja nicht aussuchen. Wenn deine Familie scheiße | |
| ist, ist es doch okay, wenn du dich von ihr lossagst. Bei „uns“ gibt es das | |
| nicht. Jeden Sonntag trifft man sich in der Regel mit der Familie. Wenn ich | |
| mich zu Teenagerzeiten mit meinen Freunden treffen wollte, ging das | |
| sonntags nicht, denn wir trafen uns mit den vielen Cousins und Cousinen, | |
| den vielen Onkeln und Tanten. Alle haben gesungen und Schnaps getrunken, es | |
| gab Massen an Fleisch. So war das. | |
| Sie schildern Ihre Anfangsjahre im Profitennis. Wann haben Sie begonnen | |
| Profiturniere zu spielen? | |
| Als ich 16, 17 war, habe ich angefangen Turniere in den Ferien zu spielen. | |
| Nachdem ich mein Abi hatte, habe ich dann wirklich fast jede Woche irgendwo | |
| gespielt. Bei den Challenger-Turnieren (unterklassige Frauentennisturniere; | |
| d. Red.) war es damals so: Du musstest die Anreise, das Hotel und das | |
| Startgeld selbst zahlen, das Preisgeld war gering. Wenn du das Turnier | |
| gewonnen hast, bekamst du vielleicht 1.000 Euro. Die Turniere fanden | |
| bevorzugt irgendwo in der Pampa statt, ich erinnere mich an Turniere in der | |
| bulgarischen Provinz, wo ich bei 45 Grad auf dem Platz stand. Aber ich habe | |
| mich zum Glück relativ schnell da rausgespielt. | |
| Ist das ein geflügeltes Wort unter Spielerinnen und Spielern, „sich | |
| rausspielen“? | |
| Ja, auf jeden Fall. Auf Englisch gibt es noch die Bezeichnung „Journey | |
| Man“. Damit sind die Spieler gemeint, die zu gut für die Challenger-Tour | |
| sind und nicht gut genug für die ATP- und WTA-Turniere. | |
| Eine mit Ihnen befreundete Spielerin aus Montenegro ist damals per Anhalter | |
| zu den unterklassigen Turnieren gereist. Wollen Sie damit auch das Klischee | |
| vom versnobten Tennissport konterkarieren? | |
| Die Danica, wie ich sie im Buch nenne, war krass! Sie stammte aus einer | |
| armen Familie. Sie hat alles streng durchgeplant: Wenn wir uns ein | |
| Hotelzimmer teilen, sparen wir soundsoviel Geld, wenn wir nicht mit dem Bus | |
| fahren, sondern zu Fuß gehen, sparen wir jeden Tag soundsoviel. Sie hatte | |
| etwas dermaßen Abgeklärtes, das sich mit etwas ganz Kindlichem mischte. | |
| Faszinierend. Sie hat später nur noch auf Freizeitniveau Tennis gespielt, | |
| war zweifache Mutter, das konnte ich auf ihrem Facebook-Profil sehen. In | |
| ihr habe ich das gesehen, was aus mir hätte werden können, wenn wir im | |
| damaligen Jugoslawien geblieben wären und ich nicht in Deutschland | |
| aufgewachsen wäre. Umstände sind eben doch manchmal wichtig. | |
| Tennis gilt ja noch immer als elitär. Werden solche Facetten des Sports da | |
| manchmal verdeckt? | |
| Die Tradition des Tennis ist eine elitäre. Im US-amerikanischen Racquet | |
| Magazine habe ich einen interessanten Bericht gelesen, in dem jemand die | |
| Tennisszene an der West- und Ostküste in den USA miteinander verglichen | |
| hat. An der Ostküste musstest du Teil eines Klubs sein, um spielen zu | |
| können, an der Westküste gibt es viel mehr Public Courts, öffentlich | |
| zugängliche Plätze für alle. Die Spieler im Osten kamen fast nie aus | |
| einfachen Verhältnissen, außer John McEnroe, der in Queens aufwuchs, | |
| interessanterweise in Wiesbaden geboren. An der Westküste haben sich all | |
| die Working-Class-Kinder nach oben gespielt: Jimmy Connors, Tracy Austin, | |
| die Williams-Schwestern, es waren auch eindeutig mehr. Interessant ist | |
| auch: Sobald jemand erfolgreich spielt und das Klischee erfüllt – wie Roger | |
| Federer –, wird er von dieser Elite eingenommen. Auch, wenn er gar keinen | |
| privilegierten Hintergrund hat. | |
| Rafael Nadal wäre wohl nicht Werbeträger von Moët & Chandon oder Rolex | |
| geworden. | |
| Das finde ich so geil bei Rafa (Rafael Nadal; d. Red.), der geht dahin und | |
| stellt dieses ganze System mit martialischem Sandplatztennis auf den Kopf. | |
| ... also mit seiner sehr kraftbetonten Art und Weise zu spielen … | |
| ... genau. Es gibt eben auch viele Menschen aus kleinen Verhältnissen, die | |
| nach oben drängen. Es gab ja vor einiger Zeit diese Welle an russischen | |
| Spielerinnen, die sich nach oben gekämpft haben. Die haben alle Anna | |
| Kournikova nachgeeifert und alles für den Erfolg gegeben. Wenn du gegen | |
| eine Russin gespielt hast, wusstest du: Die wird sterben auf dem Platz, es | |
| war immer doppelt anstrengend. Die haben Tennis als Türöffner gesehen, um | |
| zu Geld und Erfolg zu kommen. | |
| Wenn man es im Tennis unbedingt nach ganz oben schaffen will – wie sehr ist | |
| das auch eine Charakterfrage? | |
| Man braucht natürlich diesen Wettkampfcharakter. Entweder hat man das, oder | |
| man hat es nicht. Ich merke es auch jetzt noch: An diesem Wochenende habe | |
| ich in Berlin zum ersten Mal wieder ein Turnier gespielt, davor habe ich 10 | |
| Monate pausiert. Ich habe mich gefragt: Ist das Feuer noch da? Ich war | |
| wenige Sekunden auf dem Platz, da wusste ich die Antwort. Es wird | |
| wahrscheinlich nie weggehen. Selbst wenn ich mit 45 Jahren den Platz | |
| betreten werde, werde ich wohl sofort in den Angriffsmodus schalten. Dazu | |
| muss man geboren sein. | |
| Manche dachten, Sie würden Ihre Karriere nun langsam ausklingen lassen. | |
| Mal sehen, was mein Körper sagt. Meine Knie machen seit einer Weile nicht | |
| mehr so mit, wie ich es will. Ich hatte einen Knorpelschaden und mehrere | |
| OPs. Da muss ich abwarten, wie sich das entwickelt. Aber ich will noch. | |
| Während der Coronazeit haben Sie den Online-Buchklub Racquet Book Club | |
| gegründet. Darin haben Sie mit Ihren Followern über David Foster Wallace’ | |
| Tennisessays „String Theory“ gesprochen. | |
| „String Theory“ habe ich 2012 zum ersten Mal gelesen. 2011 hatte ich mein | |
| bestes Jahr, stand in den Top Ten. 2012 hatte ich viele Verletzungen | |
| hintereinander und war in der Krise. Da habe ich das Buch entdeckt. Das | |
| Faszinierendste ist für mich der erste Essay, in dem er über seine Anfänge | |
| im Tennis schreibt. Er erzählt, wie er im Alter von 14 Jahren begriffen | |
| hat, dass er für die Weltspitze nie gut genug sein wird. Das sei das erste | |
| Mal gewesen, dass er mit einer Erwachsenentraurigkeit in Berührung gekommen | |
| sei, schreibt er. Das hat mich total getroffen. Denn im Tennis kommt man | |
| immer an irgendwelche Grenzen. Ich habe zum Beispiel nie ein | |
| Grand-Slam-Turnier gewonnen, das war für mich eine Grenze – bis jetzt | |
| (lacht). Das ist zwar eine höhere Grenze, trotzdem ist es die gleiche | |
| Traurigkeit, die über dich kommt. Danach habe ich das Buch jedes Jahr | |
| einmal gelesen. Als wir es im Buchklub gelesen haben, konnte ich dem Buch | |
| aber noch mal ganz andere Facetten abgewinnen. | |
| Wie lief diese Diskussion im Buchklub? Wer hat sich da beteiligt? | |
| Ich habe ein sogenanntes [1][Instagram-Live] gemacht, zu dem ich | |
| verschiedene Personen einladen konnte. Mit denen habe ich etwa 10 Minuten | |
| gesprochen und dann die nächsten Teilnehmer dazugenommen. Ich war total | |
| überrascht, wie gut das geklappt hat. | |
| Boxen war immer in der Literatur präsent, Tennis aber auch: Neben Foster | |
| Wallace haben Schriftsteller wie Tim Adams („Being John McEnroe“) und | |
| Lionel Shriver („Double Fault“) sich mit Tennis beschäftigt. Warum eignet | |
| sich Tennis so gut, um darüber zu schreiben? | |
| Ich glaube, dass man – wie beim Boxen auch – viele Analogien zum Leben | |
| herstellen kann. Und man muss auch nicht Tennis gespielt haben, um die | |
| Parallelen zu kapieren. Im Tennis hast du diese Eins-gegen-eins-Situation, | |
| aber eigentlich kämpfst du mit dir selbst und gegen dich selbst. Dein | |
| Gegner ist die Repräsentation deiner eigenen Dämonen. Und auch im Job gibt | |
| es vielleicht den einen Rivalen, der dir im Weg steht – aber eigentlich | |
| stehst du dir nur selbst im Weg. Diese Dinge lassen sich in | |
| Eins-gegen-eins-Sportarten einfacher abbilden als in Mannschaftssportarten | |
| wie Fußball oder American Football. Diese Sportarten sind auf andere Weise | |
| interessant, weil sie sehr strategisch sind. Dann ist der Trainer das | |
| Mastermind, der seine Spieler wie Schachfiguren aufstellt. Aber der Spieler | |
| selbst ist nur die Exekutive, der das ausführen muss, was der Trainer im | |
| Kopf hat. Im Tennis bist du alles gleichzeitig: Mastermind, Exekutive und | |
| dein eigener größter Feind. | |
| Beim Boxen steht das Archaische im Vordergrund, beim Tennis mehr das | |
| Psychologische. | |
| Ja. In jedem Match gibt es den einen Moment, wo es sich hätte drehen | |
| können. Nur ein einziges Mal in 15 Jahren Profitennis habe ich gedacht: | |
| Egal, was ich heute gemacht hätte, ich hätte nicht gewonnen. Das war, als | |
| Serena Williams mich 2014 mit 6:2, 6:2 abgefertigt hat. In jedem anderen | |
| Match gab es diesen Moment. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, trägst du | |
| fast immer selbst Schuld an der Niederlage. Natürlich kannst du den | |
| Schiedsrichter, den Wind oder einen glücklichen Netzroller der Gegnerin | |
| dafür verantwortlich machen, dass du verloren hast. Du kannst auch sagen: | |
| Heute hab ich mich nicht gespürt. Der Presse kannst du das nach dem Spiel | |
| erzählen. Aber wenn du nach dem Spiel in deinem Zimmer sitzt, weißt du, | |
| dass das nicht stimmt. | |
| Sie beschreiben, dass Sie Rudyard Kiplings Gedicht „[2][If]“ als | |
| Glücksbringer immer in der Schlägertasche mit sich tragen, „If you can make | |
| a heap of all your winnings...“. Was bedeutet es Ihnen? | |
| Alles und nichts. Alles, weil diese Zeilen oftmals nach harten Niederlagen | |
| das Einzige waren, das mich über Wasser hielt. Es bedeutete, sich an seinen | |
| eigenen Werten und Maßstäben entlangzuhangeln, egal, was andere sagen. Und | |
| wieder nichts, weil das Gefühl trotzdem dasselbe bleibt. Es hilft dir nur | |
| durchzuhalten und am nächsten Tag wieder zum nächsten Turnier zu fahren. | |
| Inzwischen habe ich aber was anderes. | |
| Was denn? | |
| Etwas, das ich selbst aufgeschrieben habe. Nicht direkt ein Gedicht, eher | |
| eine Art Mantra, das ich mir aufsagen kann, wenn ich während des Matches in | |
| einem Tief bin: Weiter, Andrea, weiter, es kommt schon wieder. Manchmal | |
| bekommt man so einen Hirnfurz im Match – auf einmal hat man das Gefühl, | |
| nicht mehr zu wissen, wie man eine Vor- und wie man eine Rückhand spielt. | |
| Die Belgierin Justine Henin hatte angeblich immer sechs verschiedene Zettel | |
| in ihrer Schlägertasche. Ihr Trainer hatte ihr für alle denkbaren | |
| Spielsituationen etwas aufgeschrieben: Wenn du den ersten Satz verlierst, | |
| kannst du dies machen. Wenn es in den dritten Satz geht, kannst du das | |
| probieren. | |
| ... auf meinem Zettel habe ich noch einen Punkt: Feminismus. | |
| Was wollen Sie wissen? | |
| In Ihrem Buch zitieren sie Kommentare von Internettrollen: „Immer gewinnen | |
| die Hässlichen“ und „Seit wann lassen die Männer in der Damenkonkurrenz | |
| zu?“ | |
| Heute könnte ich das vielleicht eher zur Seite wischen. Damals – das war | |
| 2011 oder 2012 – nicht. Bei fünf Kommentaren hast du dir vielleicht gesagt: | |
| Ach komm, egal. Und der Sechste schreibt irgendetwas, wo du denkst: | |
| Vielleicht hat er ja recht, vielleicht bin ich zu muskulös oder nicht | |
| weiblich genug. Jeder hat seine Schwächen. Und irgendeiner von diesen | |
| Trollen trifft immer irgendeinen wunden Punkt. | |
| Zeigt das nicht auch, wie sehr wir immer noch mit männlichen und weiblichen | |
| Schönheitsidealen verhaftet sind? | |
| Was mich verstört: Selbst Leute, die gebildet sind, reden manchmal so. Die | |
| sagen: Serena Williams nimmt doch bestimmt was, oder? So wie die aussieht! | |
| Sie ist die beste Tennisspielerin, die wir je hatten – lass sie doch | |
| athletisch sein. Beim Tennis erwarten die Leute, dass wir elegant auf dem | |
| Platz aussehen. Bei einer Leichtathletin, die den 100-Meter-Rekord bricht, | |
| käme keiner auf die Idee zu sagen: Die ist zu muskulös. Beim Tennis wollen | |
| die Leute, dass man total athletisch ist, gewinnt, dabei nie eine Miene | |
| verzieht und am besten nicht schwitzt. Das ist nicht die Realität des | |
| Sports. | |
| Wie kommen wir von diesen Idealen weg? | |
| Ich glaube, dank Spielerinnen wie Naomi Osaka ändert sich da etwas. Die | |
| kommt aus einer neuen Generation, sie ist mixed race – ihr Vater ist | |
| schwarz, ihre Mutter Japanerin – und sie spielt ein bisschen mit | |
| Gender-Fluidity. Das gefällt mir. Das finden wir ja gerade auch in der | |
| Popkultur. Und es kann ja auch eigentlich nicht sein, dass wir nicht einen | |
| einzigen offenen Schwulen in der Tennisszene haben. Offen lesbische | |
| Spielerinnen ganz viele, aber bei den Männern gibt es keinen. Und es ist | |
| nicht so, dass ich jemanden schütze und davon wüsste – es gibt anscheinend | |
| einfach keinen. Da herrscht noch eine Diskrepanz zur modernen Gesellschaft. | |
| Zur Emanzipation der Frauen aber hat der Tennissport viel beigetragen. | |
| Martina Navratilova kämpft bis heute für die Rechte von Homosexuellen. | |
| Billie Jean King hat den „Battle Of the Sexes“ initiiert, den | |
| Frauen-Weltverband WTA gegründet. | |
| Suzanne Lenglen nicht zu vergessen! Das war ja ein Skandal, als sie damals | |
| ohne Strümpfe mit nackten Beinen gespielt hat. Billie Jean King würde heute | |
| wahrscheinlich total in der Kritik stehen. Sie hat uns Mädels ja eigentlich | |
| sexistisch verkauft. Sie wusste, das Frauentennis wird nicht bestehen, wenn | |
| es nicht vermarktet wird. Also hat sie Modedesigner ins Boot geholt, die | |
| den Mädels Kleider auf den Körper geschnitten haben. Das war pragmatischer | |
| Feminismus, wenn man so will. Sie wusste: Diesen Preis müssen wir zahlen, | |
| und sie war bereit, ihn zu zahlen. Heute kann jede so spielen, wie sie | |
| will. Aber es hat gedauert. | |
| 10 Oct 2020 | |
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| Jens Uthoff | |
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