# taz.de -- Jüdisches Leben nach Anschlag von Halle: Zerstörtes Vertrauen | |
> Ihre Warnungen vor Antisemitismus verhallten ungehört. Zu Besuch in | |
> jüdischen Gemeinden in Leipzig, Berlin und München. | |
Bild: Synagoge in Leipzig: jetzt mit Polizeischutz | |
LEIPZIG/ BERLIN/ MÜNCHEN taz | Vor dem schwarzen Metalltor, das die mit | |
Glasornamenten durchsetzte Eingangstür der Leipziger Synagoge schützt, | |
haben Menschen Blumen niedergelegt. Eine junge Polizistin sitzt nur wenige | |
Meter entfernt in ihrem Fahrzeug, ihr Kollege sortiert den Inhalt des | |
Kofferraums. | |
Exakt 42 Kilometer trennen die Synagoge in Halle vom Gotteshaus der | |
Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig – ziemlich genau die Strecke | |
eines Marathons, Laufdistanz gewissermaßen. Als [1][Stephan B.] am 9. | |
Oktober versuchte die Synagoge in Halle zu stürmen und anschließend zwei | |
Menschen tötete, hieß es in sozialen Medien, er sei auf dem Weg nach | |
Leipzig. Eine Falschmeldung. Der Attentäter von Halle sitzt in | |
Untersuchungshaft, die Leipziger Synagoge wird, wie zahlreiche jüdische | |
Einrichtungen in ganz Deutschland, seit knapp zwei Wochen rund um die Uhr | |
von der Polizei bewacht. | |
Am Sicherheitsgefühl der Gemeindemitglieder hat das augenscheinlich wenig | |
geändert. „Fragen sie doch die nichtjüdischen Deutschen, was sie über Juden | |
denken, wenn Sie etwas über unsere Situation wissen wollen. Das sollten Sie | |
schreiben“, sagt Küf Kaufmann am Telefon. Der Vorsitzende der Leipziger | |
Gemeinde klingt nach einer Mischung aus Wut, Trotz und Resignation. „Was | |
soll das bringen? Immer nur reden“, sagt er. Letzten Endes würde man nur | |
das wiederholen, wovon die jüdischen Gemeinden in Deutschland seit Jahren | |
berichten. Warnungen, die augenscheinlich nicht ernst genommen würden. | |
Die Synagoge am nördlichen Rand der Leipziger Innenstadt versteckt sich | |
hinter einer unscheinbaren Backsteinfassade zwischen einem Friseursalon und | |
dem Firmensitz einer Versicherungsgesellschaft. Passanten ziehen vereinzelt | |
durch die kleine Seitenstraße, nur wenige bemerken die Blumen auf der Stufe | |
des Eingangs. | |
## Jan Monosov in Leipzig: doppelt diskriminiert | |
Der 30-jährige Jan Monosov kam einst mit seiner Familie als jüdischer | |
Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Seine | |
Verortung im Judentum nennt er „liberal“, sein Profilfoto auf Facebook | |
zeigt ihn mit Kippa, im Alltag spiele die Religion für ihn keine prägende | |
Rolle. In Deutschland sehe er sich trotzdem doppelt bedroht: als Ausländer | |
und als Jude, Rassismus und Antisemitismus gingen hier Hand in Hand. Der | |
Anschlag von Halle überrasche ihn nicht, wenn man sehe, wie oft in den | |
letzten Jahren Flüchtlingsunterkünfte zur Zielscheibe wurden. Seine ersten | |
Wochen in Deutschland verbrachte er damals in einem Flüchtlingsheim in | |
Brandenburg, das von Neonazis attackiert wurde. Für Mitschüler sei er | |
damals wahlweise „der Russe“ oder „der Jude“ gewesen. Daran habe sich b… | |
heute nichts geändert. Deutschland sei für Juden nach wie vor „Täterland�… | |
sagt der Leipziger ohne Wut. Es mutet nicht an wie ein Vorwurf, sondern | |
mehr als nüchterne Bestandsaufnahme. „Daran wird sich auch nichts ändern“, | |
schließt er. | |
Kurz vor 14 Uhr ist Schichtwechsel vor der Synagoge. Die beiden Polizisten | |
verstauen ihre schusssicheren Westen im Kofferraum. Feierabend. Die nächste | |
Streifenwagenbesatzung bezieht Position vor dem Gotteshaus. Minuten später | |
verlässt der Rabbiner mit zwei Kindern an den Händen das Gebäude. Fröhlich | |
winken die Mädchen den Polizisten. Die Beamten winken zurück. | |
## Berlin: „Gelernt und vergessen“ | |
Levi Salomons Telefon klingelt ununterbrochen. Zwischen Interviews und | |
Fototerminen raucht er eine Zigarette vor dem Büro des Jüdischen Forums für | |
Demokratie und gegen Antisemitismus in Berlin. Salomon gründete das Forum | |
vor elf Jahren, um einen Raum zu schaffen für die jüdischen Perspektive auf | |
Antisemitismus in Deutschland. Salomon sieht müde aus. | |
Die öffentliche Überraschung über antisemitische Gewalt ist den Mitgliedern | |
der jüdischen Gemeinschaft in Berlin nur zu bekannt. Genauso wie die | |
Kurzlebigkeit von Versprechen der Politik, man werde jetzt etwas | |
unternehmen. Viele sind der Presseanfragen überdrüssig, die sich immer nur | |
dann häufen, wenn etwas Schlimmes passiert ist. | |
Von dem Anschlag überrascht kann nur sein, wer nicht selbst von | |
Antisemitismus betroffen ist und wer die [2][Zahlen] nicht kennt: Im | |
Schnitt erreichen die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in | |
Berlin mehr als zwei Meldungen pro Tag. Jüdische Einrichtungen beklagen die | |
Sicherheitssituation seit Jahren. Ändert der Anschlag für Berliner Jüdinnen | |
und Juden überhaupt etwas? | |
„Gelernt und vergessen“, sagt Salomon in seinem Büro. Die Politik habe aus | |
vergangenen Angriffen gelernt und sie wieder vergessen. „Ich glaube den | |
Politikern, wenn sie sagen: ‚Nie wieder‘. Ich glaube ihnen, dass sie das | |
nicht wollen. Aber ich möchte ihre Worte an Taten messen.“ Er fordert einen | |
besseren Schutz von jüdischen Einrichtungen, eine Bildungsoffensive, | |
Aufklärung über Antisemitismus in Schulen. | |
Als Salomon am Tag des Anschlags auf sein Handy schaute, las er: „Schüsse | |
in der Nähe einer Synagoge“. Salomon war sofort klar, dass es sich um einen | |
antisemitischen Terroranschlag handelte, noch bevor das der Polizei bewusst | |
war. Er setzte sich ins Auto und fuhr nach Halle. Er twitterte wie wild, | |
gab Informationen weiter, sprach mit dem Gemeindevorsitzenden Max | |
Privorozki. „Ich schaute mir auch das ganze Tätervideo an. Ich habe mich | |
dabei schlecht gefühlt. Aber ich muss verstehen, was im Kopf dieser | |
Menschen vorgeht.“ | |
Salomon beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem, was in diesen Köpfen | |
vorgeht. Damit, warum Antisemitismus ein so allgegenwärtiges und doch oft | |
übersehenes Phänomen ist. Er war der erste Antisemitismusbeauftragte der | |
Jüdischen Gemeinde in Berlin – und wahrscheinlich der erste in der | |
Bundesrepublik überhaupt. Für das Jüdische Forum für Demokratie und gegen | |
Antisemitismus fährt er regelmäßig auf rechtsextreme Demos, nach Chemnitz, | |
nach Budapest, nach Ostritz, um zu dokumentieren, was dort passiert. „Die | |
Strukturen der Neonazis sind intakt. Dass jemand aus diesem Milieu einen | |
Terroranschlag verübt, überrascht mich überhaupt nicht.“ | |
Auf einer Demonstration während des Gazakriegs vor zehn Jahren hat Salomon | |
einmal ein kleines Mädchen beobachtet. Es malte, erzählt Salomon, mit | |
Kreide einen Teufel auf den Asphalt. Der Teufel trug einen Davidstern. | |
„Anhand dieses Bildes kann ich die gesamte Geschichte des Antisemitismus | |
nacherzählen“, sagt er. „Es sind dieselben Stereotype aus dem Mittelalter, | |
mit denen wir es auch heute noch zu tun haben: Juden seien Gottesmörder, | |
des Teufels, Kindermörder, Wucherer.“ Der Antisemitismus sei immer da | |
gewesen, er änderte nur sein Gewand. Heute würden deutsche Jüdinnen und | |
Juden oft für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich | |
gemacht. | |
Wie weit verbreitet antisemitische Stereotype in allen Teilen der | |
Gesellschaft sind, sei den meisten nicht bewusst, sagt Salomon. Der | |
Antisemitismus unterscheide sich aber grundlegend von anderen Phänomenen, | |
wie dem Rassismus: „Der Rassismus wertet Menschen ab, entmenschlicht sie. | |
Der Antisemitismus wertet sie auch ab, aber gleichzeitig auf: Juden | |
regieren angeblich die ganze Welt.“ | |
## Berlin: „Wir gehören dazu“ | |
Beim ersten Mal, als Ruben Gerczikow antisemitisch beleidigt wurde, war er | |
fünf. Er spielte damals für den Fußballverein Makkabi, als einer der | |
Gegenspieler ihm zurief: „Magst du Hitler?“ Seither gehören Kommentare wie | |
diese zu seinem Alltag. Gerczikow sitzt in einem Berliner Imbiss. Zwischen | |
Job und Podiumsdiskussion beantwortet er während des Mittagessens Fragen. | |
Gerczikow ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Studierendenunion Deutschland | |
(JSUD) in Berlin. Diese vertritt Juden und Jüdinnen zwischen 18 und 35 | |
Jahren. „Ältere Menschen in der jüdischen Gemeinde haben oft noch dieses | |
Gefühl, auf ‚gepackten Koffern‘ zu sitzen, jederzeit fluchtbereit zu sein. | |
Das ist bei meiner Generation weniger der Fall“, sagt er. „Wir sind hier | |
geboren und aufgewachsen, Deutschland ist unsere Heimat. Wir sind hier, wir | |
werden bleiben und wir gehören dazu.“ | |
„Der Anschlag war für mich ein Schock, aber keine Überraschung“, sagt auch | |
Gerczikow und zählt die vielen antisemitischen und rechtsextremen Angriffe | |
der letzten Monate und Jahre auf. „Es ist nicht verwunderlich, dass so | |
etwas passieren musste. Wir sind in Deutschland einer ständigen Gefährdung | |
ausgesetzt.“ Was ihn dennoch verblüfft: „Diese rechten Netzwerke im | |
Internet sind bekannt. Warum werden rechtsextreme und antisemitische | |
Inhalte nicht vom Netz genommen? Warum gehen die Behörden nicht stärker | |
gegen die Menschen vor, die sich auf diesen Plattformen bewegen?“ | |
Gerczikow glaubt, die einzige Lösung im Kampf gegen Antisemitismus sei mehr | |
Aufklärung. Aber nicht nur über Antisemitismus: „Es gibt in Großstädten o… | |
ein blühendes jüdisches Leben. Aber viele Menschen in Deutschland hatten | |
noch nie mit einem Juden Kontakt und wissen kaum Bescheid über das | |
Judentum.“ Das müsse sich ändern, um Stereotype zu bekämpfen. | |
## Schweden: Besuch abgesagt | |
Auch [3][Walter Frankenstein] möchte aufklären. Der 95-jährige Sohn | |
Deutscher jüdischen Glaubens versteckte sich von 1943 bis 1945 mit seiner | |
Familie in Berlin. Sie überlebten den Holocaust knapp und wanderten erst | |
nach Palästina, später nach Schweden aus. Heute besitzt Frankensein die | |
schwedische und deutsche Staatsbürgerschaft und versteht sich als Atheist. | |
Für seine Umgebung bleibe er trotzdem, so sagt er, „der ewige Jude“. | |
Frankenstein kommt regelmäßig nach Berlin, um Schulklassen zu besuchen und | |
ihnen von seinem Leben zu erzählen. Doch seine geplante Berlin-Reise im | |
November hat er nach dem Anschlag abgesagt. „Ich habe diesen Anschlag | |
erwartet“, sagt er am Telefon, „ich bin überrascht, dass es nicht viel | |
schlimmer gekommen ist.“ Frankenstein ist wütend auf die deutsche Politik. | |
„Es ist eine große Enttäuschung, dass die deutsche Regierung die Juden und | |
Jüdinnen nicht schützt“, sagt er. Dabei hatte er immer Hoffnung, besonders | |
bei seiner Arbeit mit Jugendlichen. Doch „den leisen geheimen | |
Antisemitismus, den gab es immer“, sagt er. | |
Für Salomon und das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus | |
ändert sich mit dem Anschlag nichts: „Heute kommt die Reaktion aus der | |
Politik, man muss etwas machen. Und morgen kommt der Alltag.“ Angst hat | |
Salomon keine. „Ich wusste schon immer, dass ich gefährdet bin.“ | |
Vor der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg patrouillieren derweil | |
Polizisten mit schusssicheren Westen und Maschinenpistolen. Die Blumen, die | |
vor einem Informationsschild gelegt wurden, sind verwelkt. Auf der Mauer | |
sind Sicherheitskameras angebracht. Die Sicherheitsvorkehrungen seines | |
Büros werde Salomon nicht verstärken – kein Geld. Zumindest sei es nicht | |
leicht zu finden und nirgends verzeichnet. „Das ist unsere Sicherheit“, | |
sagt Salomon. | |
## München: „Ich bin es nicht anders gewohnt“ | |
Münchner Innenstadt, Jakobsplatz. Die Sonne gibt an diesem Oktobertag noch | |
einmal alles. Man könnte eigentlich wunderbar draußen sitzen – so wie es | |
die Besucher aller umliegenden Cafés auch tun. Könnte man. Nur hat das | |
Einstein keine Terrasse. Stattdessen passiert man eine Sicherheitsschleuse, | |
wenn man in dem jüdischen Restaurant essen möchte. | |
Marian Offman nimmt das mit der Schleuse gelassen. „Ich bin es nicht anders | |
gewohnt“, sagt er. „Das war schon immer so. Ich weiß noch, als meine Kinder | |
klein waren und ich sie in den Kindergarten gefahren habe, da standen die | |
Polizisten mit Maschinenpistolen vor dem Kindergarten.“ Der heute | |
71-Jährige sitzt an einem Fenster des Restaurants, das natürlich aus | |
Panzerglas ist, vor sich eine zuckerfreie Cola. | |
Durch das Fenster sieht man zur Synagoge Ohel Jakob hinüber, der neuen | |
Münchner Hauptsynagoge. Am 9. November 2006 wurde sie eröffnet. Die | |
Israelitische Kultusgemeinde, in deren Vorstand auch Offman sitzt, ist sehr | |
stolz auf die moderne sakrale Architektur. Wie ein aus zwei aufeinander | |
gestellten Quadern zusammengesetzter Würfel erscheint der freistehende Bau, | |
unten felsig, oben gläsern. Auf dem Tor stehen die ersten zehn Buchstaben | |
des hebräischen Alphabets, sie repräsentieren die Zehn Gebote. Vor dem Tor | |
sind die Reste eines Blumenmeers zu sehen. Hier haben die Münchner nach dem | |
Terroranschlag von Halle ihre Solidarität bekundet. | |
Offman sitzt seit fast 18 Jahren im Stadtrat, die längste Zeit für die CSU, | |
im Sommer wechselte er zur SPD. Auf seine Münchner lässt er nichts kommen. | |
In der Außenmauer der Synagoge, die mit ihren unbehauenen Travertinsteinen | |
der Klagemauer in Jerusalem nachempfunden sei, finde man immer wieder | |
kleine Gebetszettel, erzählt er. Der Münchner Volksmund spreche schon von | |
„unserer Klagemauer“ – für Offman ein „Zeichen einer sehr hohen Akzept… | |
Genauso wie die mehr als 350.000 Menschen, die die Synagoge bei einer | |
Führung besucht hätten. | |
In München, davon ist Offman überzeugt, gebe es viel weniger Antisemitismus | |
als in anderen Städten. Und doch spricht Offman von einer völlig neuen | |
Situation nach Halle. „Mein erster Gedanke, als ich von dem Attentat hörte, | |
war, dass wir uns jetzt in eine neue Phase hineinbewegen, was den | |
Antisemitismus und die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung angeht.“ | |
Angst hat Offman keine, er geht überall hin, auch auf Pegida- oder | |
AfD-Veranstaltungen, zeigt Gesicht, gibt sich als Jude zu erkennen. Er | |
versteht aber auch, dass viele Juden Angst hätten. „Sie müssen ja nur auf | |
die Straße gehen und irgendein Nazi kommt, zieht eine Knarre und schießt | |
Ihnen in den Kopf. Mit Halle sind solche Ängste wieder real geworden.“ | |
Vor ein paar Jahren sei die Atmosphäre noch viel unbeschwerter gewesen. | |
„Die Situation hat sich verschärft seit der Zeit, als Pegida auf die Straße | |
gegangen und die AfD in die Parlamente eingezogen ist. Jetzt muss man davon | |
ausgehen, dass sogar in den Parlamenten Antisemiten sitzen.“ | |
Erfährt er selbst im Alltag Antisemitismus? Nein, sagt Offman. Aber sein | |
Name stehe auf Todeslisten von Nazis und auf antisemitischen Hetzseiten wie | |
„Judaswatch“. Der Bundesregierung wirft er vor, dass sie es noch immer | |
nicht geschafft habe, sie abzuschalten. „Wenn man weiß, dass der Nährboden | |
solcher Taten das Internet ist, muss man doch alles daransetzen, solche | |
Seiten abzuschalten“, sagt Offman. | |
## München: Die Kippa auf | |
Es ist gar nicht so leicht, Juden in München zu finden, die offen wie | |
Marian Offman über diese Themen sprechen. „Die verstecken sich“, sagt ein | |
anderer, der sich selbst nie versteckt: Terry Swartzberg. Der gebürtige New | |
Yorker, der bereits seit Mitte der Achtziger in München lebt, wurde | |
bekannt, als er vor sieben Jahren damit begann, auch in der Öffentlichkeit | |
Kippa zu tragen. Er wollte mal sehen, was dann passiert – wie die | |
Reaktionen sein würden, wenn er sich öffentlich als Jude zeigt. „Ich habe | |
damit angefangen, um mich selbst zu beruhigen.“ Und es funktionierte. Keine | |
einzige Beleidigung, keine einzige Pöbelei. „Das ist eine wunderbare | |
Normalität. Kein Mensch schaut hin, kein Mensch interessiert sich dafür.“ | |
Was nicht heißt, dass es nicht auch in München Antisemitismus gibt. Gerade | |
erst hat die neu eingerichtete Recherche- und Informationsstelle | |
Antisemitismus Bayern ihre Zahlen vorgelegt: In den ersten sechs Monaten | |
ihres Bestehens registrierte die Stelle 96 antisemitische Vorfälle, die | |
Dunkelziffer schätzt sie wesentlich höher ein. | |
Nach dem Anschlag in Halle bekam Swartzberg sofort einen Anruf von seinem | |
Bruder aus den USA: Wo ist Halle? Wie weit ist es von München entfernt? | |
Swartzberg beruhigte ihn erst noch: „Keine Sorge, bei uns wird nicht scharf | |
geschossen.“ Doch die tatsächliche Tragweite des Geschehens sei ihm erst am | |
nächsten Tag bewusst geworden, erzählt er. „Das hat bei mir wahnsinnig | |
viele Fragen aufgeworfen. Fragen, die noch nicht beantwortet sind.“ Zum | |
Beispiel auch diese: „Wie gefährdet bin ich?“ Und erstmals habe er sich | |
auch gefragt, ob es nicht mehr Schutz für alle jüdischen Einrichtungen | |
bräuchte. Eine Situation wie in Halle, wo die Gottesdienstbesucher nur | |
durch eine abgesperrte Holztür geschützt worden seien, dürfe nicht sein. | |
„Dabei vertrete ich ein sehr angstfreies, freudiges Judentum.“ | |
Swartzberg hofft, dass die Politik nun langsam die Gefahr erkenne, die vom | |
Rechtsextremismus ausgehe. „Polizei und Justiz in Deutschland und Bayern | |
waren ja lange blind auf dem rechten Auge, denken wir nur an das | |
Oktoberfestattentat. Jetzt erwarte ich, dass die Neonaziszene richtig | |
bekämpft wird.“ | |
Es sind zwei Dinge, die sich Swartzberg vor allem anderen wünscht: „Was wir | |
brauchen, ist Sichtbarkeit und Solidarität in der Zivilgesellschaft.“ Immer | |
wieder betont er diese beiden Begriffe. „Wir Juden verstecken uns. Und das | |
ist ein Teil des Problems. Wenn Juden sichtbar sind, dann können die Leute | |
uns kennenlernen, dann können wir ein Netz von Solidarität aufbauen. Sonst | |
bleiben wir irgendwas Fremdes.“ Aber die Angst, und vielleicht ist das das | |
eigentlich Erschreckende, sitzt sehr tief. „Natürlich wird diese Angst | |
jetzt noch verständlicher, weil man sagen kann: Schaut doch, was passiert, | |
wenn sie wissen, wo wir sind! Aber langfristig hilft uns nur Sichtbarkeit | |
und Solidarität.“ | |
Für Zweiteres seien dann natürlich die Nichtjuden verantwortlich. „Ich | |
hoffe, dass die Zivilgesellschaft jetzt wachgerüttelt ist.“ Und: Er wolle | |
nichts verharmlosen, und natürlich wisse er, dass laut Umfragen bis zu 16 | |
Prozent aller Deutschen Antisemiten sind. „Aber das heißt doch auch, dass | |
uns mindestens 84 Prozent tolerieren oder mögen. Und die müssen wir | |
mobilisieren.“ | |
Terry Swartzberg jedenfalls bleibt zuversichtlich. Seine Kippa werde er | |
nicht absetzen. „Ich weiß nicht, ob es unsere größte Idiotie oder unsere | |
größte Stärke ist, aber: Wenn wir nicht optimistisch wären, wären wir keine | |
Juden.“ | |
22 Oct 2019 | |
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Aiko Kempen | |
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Anina Ritscher | |
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