# taz.de -- Marian Offman über Antisemitismus: „Ich stehe auf ihren Todeslis… | |
> Deutsch zu sein und zugleich jüdisch, kann das gutgehen? Das fragt sich | |
> Marian Offman, früherer jüdischer Stadtrat in München, in seinem ersten | |
> Roman. | |
Bild: Der Autor und Politiker Marian Offman | |
taz: Herr Offman, wie lebt es sich als Jude fast 80 Jahre nach dem | |
Holocaust in der Stadt, die sich mal rühmte, die „Hauptstadt der Bewegung“ | |
zu sein? | |
Marian Offman: Ambivalent. Solange das Gegenüber, mit dem man es zu tun | |
hat, nicht weiß, dass man jüdisch ist, scheint alles ganz normal. Aber es | |
ist nicht normal. Sobald klar ist, dass ich Jude bin, fühle ich geradezu, | |
wenn ich jemandem gegenüber sitze oder stehe, dass diese Person nur noch | |
den Juden in mir sieht – zunächst mal ganz wertfrei, das kann positiv oder | |
auch negativ sein; aber ich bin auf mein Judentum reduziert. Daran hat sich | |
nichts geändert. | |
Sehen Sie sich persönlich oft mit antisemitischen Anfeindungen | |
konfrontiert? | |
Da muss man unterscheiden: Seit ich mich vor 20 Jahren entschieden habe, in | |
die Politik zu gehen und meine jüdische Herkunft offensiv zu thematisieren, | |
bin ich natürlich eine der liebsten Zielscheiben der Rechtsradikalen. Ich | |
stehe sogar auf ihren Todeslisten. In meinem beruflichen Umfeld ist es ganz | |
anders. Ich bin ja Hausverwalter und mache fast jeden zweiten Tag eine | |
Eigentümerversammlung. Die Leute wissen da alle, dass ich jüdisch bin, | |
angegangen wurde ich aber fast nie. | |
Fast? | |
Es gibt einzelne Ausnahmen: Wir haben eine Eigentümerin, die regelmäßig | |
gegen die eigene Eigentümergemeinschaft klagt. Die hat bei einem | |
Gerichtstermin gesagt, dass für sie Juden und Rechtsanwälte keine | |
Menschenrechte hätten. Das hat sie auch mehrfach wiederholt. Und die | |
Richterin stand dabei, ohne sich dazu zu äußern. | |
Wie kommt es, dass der Antisemitismus noch heute so stark ist? | |
Es gibt ja diese Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Da wird | |
der Anteil der Antisemiten in Deutschland immer so mit 15 bis 20 Prozent | |
angegeben. Die typische Frage ist in den Befragungen: Würden Sie neben | |
einer jüdischen Familie wohnen wollen? Und da sagen eben 15 bis 20 Prozent: | |
lieber nicht. Da gibt es kaum Veränderungen. Bei Muslimen ist die Zahl | |
übrigens viel höher, so bei 50 Prozent. Und neben einer Familie von Sinti | |
oder Roma würden 70 Prozent nicht wohnen wollen. | |
Aber woher kommt es, dass 80 Jahre nach dem Holocaust immer noch Leute so | |
denken? | |
Dazu gibt es Hunderte von Büchern. Wirklich schlüssig hat es mir trotzdem | |
noch niemand erklären können. Die Deutschen leiden meiner Meinung nach noch | |
immer [1][an einer kollektiven Psychose wegen des Holocausts:] Die | |
Diskrepanz zwischen den eigenen Werten, die man in einer christlich | |
geprägten Gesellschaft vermittelt bekommen hat, und den Verbrechen, die das | |
eigene Volk begangen hat, ist einfach zu groß. Die meisten Menschen können | |
damit irgendwie umgehen, aber manche kommen damit nicht klar. Aber eine | |
Erklärung ist das natürlich auch nicht. | |
Sie waren fast 20 Jahre lang Stadtrat in München, bei den Wahlen 2020 haben | |
Sie es nicht mehr in das Gremium geschafft. Jetzt ist Ihr Roman | |
„Mandelbaum“ erschienen. Haben Sie vor lauter Langeweile mit dem Schreiben | |
begonnen? | |
Nein, langweilig war mir nicht. Aber ich hatte schon etwas mehr Zeit, bin | |
auch beruflich etwas kürzer getreten, und eigentlich wollte ich schon immer | |
ein Buch schreiben. Und nun hatte ich plötzlich die innere Ruhe dazu. | |
Deshalb habe ich mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Und es lief | |
sehr gut. Für mich ist das Schreiben ein wirklich beglückender Moment. Ich | |
war selbst erstaunt, wie gut das funktioniert hat. Nach einem Vierteljahr | |
war das Buch fertig. | |
Eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der Ihr Alter Ego eine Nacht in | |
einer Polizeizelle verbringen muss, weil er einen prominenten Neonazi ins | |
Koma geschlagen haben soll, findet sich in Ihrem Buch eine Mischung | |
zwischen Entwicklungsroman und Autobiografie. | |
Ja, der Felix Mandelbaum ist ein jüdischer Stadtrat, den sein Mut ins | |
Gefängnis bringt. Das Buch ist zur Hälfte wahr, zur Hälfte Fiktion. | |
Haben Sie selbst schon mal eine Nacht auf der Polizei verbracht? | |
Nein, aber die Vorgeschichte der Festnahme des Felix Mandelbaum ist auch | |
mir so passiert. Da war ich als Gegendemonstrant bei einer rechten Demo am | |
Odeonsplatz, und plötzlich war ich umringt von lauter Polizeibeamten, die | |
mir gesagt haben, es habe jemand gegen mich Strafanzeige wegen schwerer | |
Körperverletzung gestellt und ich müsste jetzt mitkommen. Dann haben sie | |
mich in eine Seitenstraße abgeführt und dort in einem Polizeibus verhört. | |
Was hatten Sie denn gemacht? | |
Ich hatte den Arm einen Pegida-Aktivisten weggeschoben, der mit einem | |
Flugblatt vor meiner Nase rumgefuchtelt hat, und ihm gesagt, er solle | |
verschwinden. Die Polizisten standen übrigens daneben. | |
In Ihrem Roman kommt die Münchner Polizei auch sonst nicht sehr gut weg, da | |
sieht man Beamte, die im Zweifel eher Neonazis beschützen, als gegen | |
Antisemitismus einzuschreiten. | |
Es gab auch Situationen, in denen ich mich von der Polizei beschützt | |
gefühlt habe. Öfter aber waren Momente wie die bei der Eröffnung des | |
NS-Dokumentationszentrums. Da hatten sich 200 Meter weiter Nazis | |
aufgestellt, die sehr laut die erste Strophe des Deutschlandslieds | |
abspielten. „Deutschland über alles“ – während die Holocaust-Überleben… | |
zur Eröffnungsfeier kamen. Als ich einen Polizeibeamten darauf aufmerksam | |
machte und ihn bat, dagegen einzuschreiten, schickte er mich nur weg und | |
meinte, das gehe mich überhaupt nichts an. In solchen Fällen ist mein | |
Vertrauen in die Polizei dann doch erschüttert. | |
Sie hätten eine richtige Autobiografie schreiben können, auch einen sehr | |
fiktiven Roman mit autobiografischen Anleihen, warum haben Sie sich für | |
dieses etwas schillernde Mischform entschieden? | |
Das hat sich so ergeben. Ich bin die Sache ganz ohne Konzept angegangen. | |
Ich habe mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Die Rahmenhandlung | |
hatte ich mir schon früher mal während einer langweiligen Stadtratssitzung | |
überlegt. Der Rest hat sich so entwickelt. Ich kann Ihnen nicht sagen, | |
warum. Wenn man 74 Jahre alt ist, hat man so viel erlebt, gesehen, gefühlt, | |
geweint und gelacht. Und das kommt dann beim Schreiben halt irgendwie raus. | |
Im Klappentext heißt es, der Roman gehe „der Frage nach, ob eine | |
deutsch-jüdische Existenz überhaupt gelingen kann“. Und? | |
Es ist schwierig. An manchen Tagen denke ich mir, ich habe wirklich | |
innerhalb meiner bescheidenen Möglichkeiten alles getan für ein gutes | |
Miteinander miteinander zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und | |
Muslimen, aber es hat sich nichts verändert. Da erinnere ich mich dann an | |
den Satz, den Ignatz Bubis, der frühere Vorsitzende des Zentralrats der | |
Juden in Deutschland, kurz vor seinem Tod gesagt hat: „Ich habe nichts | |
erreicht.“ Und dann wieder gibt es Tage, an denen alles vergessen ist, ich | |
gehe auf die Straße, spaziere durch mein München und denke mir: Alles ist | |
gut. | |
[2][München ist die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland.] Aber man | |
hat den Eindruck, dass ein Großteil des jüdischen Lebens in München hinter | |
verschlossenen Türen stattfindet. | |
Viele haben Angst. Und mich halten manche für verrückt. Wie kann ein Jude | |
zu einer Nazidemo gehen und sich offen gegen die Nazis stellen? Sie fragen | |
sich: Wieso soll ich den Kopf hinhalten? | |
In der Beschreibung der Schulzeit des Felix Mandelbaum erzählen Sie, wie er | |
aus einem Referat eines Mitschüler vom Horror des Holocausts erfährt, nicht | |
von seinen Eltern. | |
Es wurde in den meisten jüdischen Familien nicht über den Holocaust | |
gesprochen. Nicht nur weil die Eltern nicht über ihre traumatischen | |
Erfahrungen sprechen wollten, sondern auch aus einer jüdischen Tradition | |
heraus: Kinder sollen sich nicht mit dem Tod befassen müssen, man will sie | |
mit dieser dunklen Seite des Lebens nicht konfrontieren. Deshalb werden Sie | |
auf einem jüdischen Friedhof auch keine Kinder finden. | |
Sie sind 2002 für die CSU in den Stadtrat eingezogen. In Ihrem letzten | |
Jahr, 2019, sind Sie in die SPD gewechselt und haben inzwischen auch | |
durchblicken lassen, sich anfangs aus opportunistischen Gründen für die CSU | |
entschieden zu haben – nicht zuletzt, weil die Israelitische Kultusgemeinde | |
die Beziehungen zu dieser Partei verbessern wollte. Wie hält man das aus: | |
17 Jahre in der falschen Partei? | |
Weil man Freunde in dieser Partei hat. Und weil man Ziele vor Augen hat, | |
für die man sich einsetzt – der Bau des jüdischen Gemeindezentrums, des | |
NS-Dokumentationszentrums. Und die CSU ließ mich ja gewähren. Ich musste | |
mich nie verbiegen, habe nie eine Politik gemacht, die gegen meine innere | |
Überzeugung gewesen wäre. | |
Und wie ist das Leben als Schriftsteller so? Kann man sich daran gewöhnen? | |
Durchaus. Ich habe bereits das nächste Buch in der Schublade. Gestern habe | |
ich die letzte Seite geschrieben. Diesmal ist es allerdings etwas völlig | |
anderes, eine Art Roadstory in Folge des Judenpogroms 1285 in München. | |
31 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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