| # taz.de -- Migranten in Halle nach dem Attentat: „Kiez-Döner“ und der Mord | |
| > In Izzet Cagac' Imbiss in Halle hat vor drei Wochen ein Rechtsradikaler | |
| > einen Menschen erschossen. Wie sich das Leben für Cagac seitdem verändert | |
| > hat. | |
| Bild: „Wir sind eins“, sagt Izzet Cagac. Links Ismet und Rifat Tekin, recht… | |
| Halle taz | Als Izzet Cagac und seine Freunde um Punkt vier an der | |
| Merseburger Stadtkirche ankommen, ist der Marktplatz mit Menschen gefüllt. | |
| Die Menschen umschließen den Springbrunnen, die Imbissbude und auch die | |
| roten Pflastersteine sind kaum zu sehen. Auf einer Leinwand und mittels | |
| einer Soundanlage wird die Gedenkfeier aus dem Innenraum der Kirche | |
| übertragen. Public Viewing wie beim Fußball. | |
| Männer mit Glatzen und Basecaps in Rot-Weiß und Frauen mit ausgewachsener | |
| Blondierung stechen aus der Masse älterer Männer und Frauen in Beige und | |
| Schwarz heraus. Sie schauen starr nach vorn, wenn sie nicht gerade | |
| Zigaretten stopfen. „Nur zusammen“ steht auf den T-Shirts einiger – das | |
| Motto der Fans des Halleschen Fußballclubs. Die Menschen trauern um den | |
| 20-jährigen Merseburger Kevin S., Fan des Fußballvereins wie sie, der am 9. | |
| Oktober in einem Döner-Imbiss im hallensischen Paulusviertel von einem | |
| Rechtsradikalen erschossen wurde. | |
| Izzet Cagac ist der Eigentümer des Kiez-Döners, in dem Kevin S. starb. Der | |
| 41-Jährige will, dass nun alle zusammenhalten. Deshalb ist er mit seinen | |
| Angestellten Ismet und Rifat Tekin und seiner Freundin Myriam Skalska zu | |
| der Gedenkfeier erschienen – auch wenn sie hier gemeinsam mit Menschen | |
| trauern, die eher im rechten politischen Spektrum verortet werden können. | |
| Izzet Cagac hat auf seinem Facebook-Account Rechte wie Linke dazu | |
| aufgerufen, zueinander zu finden, anstatt von Hass erfüllt zu sein. „Wenn | |
| auch Rechte sich von der Tat distanzierten, hätte Kevins Mörder im | |
| Gefängnis niemanden mehr, wüsste nicht mehr, wofür er gekämpft hätte“, s… | |
| Cagac. | |
| Während der 90-minütigen Trauerfeier hält ein glatzköpfiger Mann neben | |
| Cagac eine mehrere Meter lange Fahne des Halleschen Fußballclubs. Als der | |
| Sarg aus der Kirche getragen wird, laufen Cagac, Skalska und die | |
| Tekin-Brüder hinter Kevins Familie her. Es fängt an zu regnen. „Wir haben | |
| eine schreckliche Tat erlebt, aber die anderen auch. Wir werden das alle | |
| gemeinsam schaffen“, sagt Ismet Tekin. Izzet Cagac spricht einem Hooligan | |
| des Halleschen FC sein Beileid aus. | |
| ## Beim ersten Anruf glaubte Cagac an einen schlechten Scherz | |
| Am 9. Oktober gegen Mittag lag Izzet Cagac noch im Bett. Er war in die | |
| Türkei geflogen, befand sich im Haus seines kranken Vaters am Fuße des | |
| Ararats. Das Smartphone piepte auf dem Nachtschrank. Seine Freundin Myriam | |
| Skalska schickte ihm eine Nachricht: Hier liegt ein Toter. Erst hielt er es | |
| für einen schlechten Scherz. Erst als Cagac „Halle“ googelte, fing er an zu | |
| begreifen. | |
| Ein schwer bewaffneter 27-jähriger Mann hatte in Halle zwei Menschen | |
| getötet, nachdem er damit gescheitert war, in die voll besetzte Synagoge | |
| einzudringen. Vor dem Gotteshaus erschoss er zunächst die Passantin Jana L. | |
| Dann fuhr er wenige hundert Meter weiter bis zu Cagacs Imbiss. „Döner, nehm | |
| wa“, sprach er. Und erschoss Kevin S., der sich dort zur Mittagspause | |
| aufhielt. Es war sein achter Arbeitstag als Maler in Festanstellung. | |
| Neun Tage später, es ist ein Freitag, springt Izzet Cagac aus einem Taxi, | |
| das einige Häuseraufgänge von seinem Laden entfernt angehalten hat. Der | |
| schmale Mann trägt Jeans, ein dunkelblaues Hemd, eine schwarze Jacke. Er | |
| sieht die neongelben Markierungen an Häuserwänden, auf Fußwegen und der | |
| Straße. Hier sind die Kugeln des Täters eingeschlagen. Nasses Laub klebt | |
| auf den Fußwegplatten. Im Laufe des Tages wird der Regen die Spuren weiter | |
| verwischen. Anstatt zu seinem Imbiss geht Izzet Cagac zur Bäckerei auf der | |
| anderen Straßenseite. Wie es in seinem Geschäft aussieht, am Tatort, weiß | |
| er bis jetzt nur von den Bilder auf seinem Smartphone. „Deswegen trau ich | |
| mich gar nicht dahin“, sagt er. Izzet Cagac kehrt zurück in seinen Alltag, | |
| in dem nichts mehr ist, wie es war. | |
| Vor dem Kiez-Döner bauen sich Fernsehteams auf. Izzet Cagac ist unruhig. Am | |
| Telefon hatte er vorher gesagt: „Ich kann das nicht, aber ich hab ja | |
| gesagt, ich lasse mich dort blicken.“ Cagac sieht es als seine Pflicht an, | |
| seine Stimme zu erheben. Er hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf | |
| Facebook gebeten, eine persönliche Beileidsbekundung auszusprechen. Der | |
| Bundespräsident rief kurz darauf bei ihm an. Das machte Izzet Cagac | |
| bekannt. Für seine Haltung. Für seine Forderung nach Beachtung. Es kommt | |
| nicht allzu oft vor, dass ein Mensch mit Migrationsgeschichte den Deutschen | |
| sagt, was sie zu tun haben. | |
| ## Der Ministerpräsident am Tatort | |
| Als er an diesem Tag in Halle ankommt, braucht er zuerst ein Feuerzeug für | |
| seine Zigarette, dann einen Kaffee und auch dann dauert es noch ein paar | |
| Minuten, bis er mit seinen blutunterlaufenden Augen einen Punkt fixieren | |
| kann. Er nimmt an einem Klapptisch vor der Bäckerei Platz, auf dem ein | |
| schwarzer Aschenbecher steht. Inzwischen ist es fast zu kalt, um draußen zu | |
| verweilen. Izzet Cagac zieht erneut eine Zigarette aus der rot-weißen | |
| Schachtel und zündet sie mit dem Stummel der alten Zigarette an. | |
| Es ist dreiviertel zwölf. Für zwölf Uhr hat sich Sachsen-Anhalts | |
| Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) angekündigt. „Ich find’s schön, | |
| dass er erscheint“, sagt Cagac. Der Kiez-Döner ist eines von vier | |
| Geschäften, die ihm gehören. „Vorn am Markt“ und auf der Merseburger Stra… | |
| seien es zwei weitere, und ganz in der Nähe ein Späti. | |
| Als Cagac 1999 von Berlin nach Halle kam, hat er „erst gearbeitet, | |
| irgendwann ein kleines Geschäft aufgebaut, und dann ging es weiter. Aber | |
| ich hab Rückendeckung. Ich hab extreme Rückendeckung.“ Er redet von Ismet, | |
| Rifat und seiner Partnerin Myriam Skalska. „Wir sind alle eins. Es gibt | |
| nicht Ismet, Rifat, Myriam. Es gibt nur wir.“ | |
| Halles Geschichte rassistischer Angriffe ist lang. Seit 2015 wurden in der | |
| Stadt an der Saale mehr rassistisch motivierte Gewalttaten registriert als | |
| in jedem anderen Kreis Sachsen-Anhalts. 2016: Ein Minderjähriger im | |
| Thor-Steinar-Shirt ersticht einen 24-Jährigen im Park, weil der ihm keine | |
| Zigarette geben will. 2017: Nach der Maidemonstration, Neonazis machen Jagd | |
| auf Blockierer. Anklage: zweifacher versuchter Totschlag, Urteil: | |
| gefährliche Körperverletzung. 2018: Halle-Neustadt, zweimal Schüsse auf die | |
| Moschee in nur einem Jahr. Im vergangenen Jahr waren es laut Monitoring der | |
| mobilen Opferberatung 39 rassistisch motivierte Gewalttaten. Und jetzt das. | |
| ## Ein Ort, an dem man keine Angst zu haben glaubt | |
| In den knapp zwanzig Jahren in Halle ist Izzet Cagac nie Opfer eines | |
| rassistischen Angriffs gewesen. Selbst an Beleidigungen kann er sich nicht | |
| erinnern. Cagac ist durch seine Läden bekannt. „Ich bin wie deutsch. Ich | |
| bin hier geboren. Ich kann nicht sagen, dass ich Migrant bin.“ | |
| Das Paulusviertel, in dem die Synagoge und der Kiez-Döner liegen, ist | |
| eigentlich eine Wohlfühlblase der Stadt. Obwohl zwischen einigen Häusern | |
| auch verfallene Altbauten stehen, ist es für hallensische Maßstäbe | |
| durchgentrifiziert. Die Fassaden rund um die Pauluskirche sind frisch | |
| verputzt. Die Straßenbahn rattert an Ladengeschäften vorbei, in denen | |
| veganes Streetfood auf der Karte steht. Der Waldorfkindergarten ist nicht | |
| weit. Hier fühlt man sich sicher. | |
| Der Mordanschlag auf sein Geschäft hat nichts an Cagac' Grundgefühl | |
| geändert – im Gegenteil, sagt er. Über Facebook bekommt er viele | |
| Nachrichten und Zuspruch. „Ich bin mir sicher, dass einige davon auch | |
| rechts sind und trotzdem schreiben: Hey, wir stehen hinter euch.“ Das | |
| rassistische Motiv des Täters sieht Cagac nicht als vordergründig an. | |
| „Glaub mir, das ist mir einfach egal“, sagt er und winkt ab. Aus seiner | |
| Sicht hätte es jeden treffen können. Für gewöhnlich sitze er selbst an dem | |
| Tisch, der vom Täter als Erstes ins Visier genommen worden war. Immer | |
| wieder schaut Cagac unruhig zu seinem Geschäft auf der anderen Seite der | |
| Straße. | |
| Danach wird Izzet Cagac nicht allein auf diese Straßenseite gehen. Ismet | |
| Tekin, der am Tag des Mordes mit seinem Bruder Rifat hinter der Theke | |
| stand, tritt an seinen Tisch heran. Er trägt den gleichen grünen Parka wie | |
| auf den Fotos nach dem Attentat. Seine Augenringe sind in der vergangenen | |
| Woche noch dunkler geworden. Die beiden Männer umarmen sich kurz, aber | |
| fest. Dann setzt sich Tekin auf einen Stuhl ganz nah neben Cagac. Sie reden | |
| türkisch, halten inne. „Jetzt bin ich gerade vom Flughafen gekommen und hab | |
| nicht mal ’ne scheiß Blume“, bricht Cagac das Schweigen. Er zieht eine | |
| Serviette aus seiner Jackentasche und beginnt sie geschickt zu einer Tulpe | |
| zu modellieren. | |
| ## Izzet Cagac und seine Freunde in der Bäckerei | |
| Izzet Cagac legt den Arm um seinen schweigenden Freund, küsst ihn auf die | |
| Wange und rückt ihm die Fellkapuze zurecht. „Meine Familie war schon groß�… | |
| sagt Cagac nach einer Weile, „jetzt ist sie viel größer geworden.“ Er sei | |
| überwältigt von der Solidarität: „Ich hab immer gedacht, wir sind alleine.… | |
| Sein linkes Auge zuckt erschöpft. Eine zierliche Frau kommt an den Tisch. | |
| Myriam Skalskas schwarze, lockige Haare sind streng zurückgebunden. Die | |
| dunklen Augen sind vor Anspannung verengt. Sie umarmt Cagac lang, küsst ihn | |
| flüchtig. Ihre dünnen Beine tippeln unruhig auf der Stelle, sie will nicht | |
| sitzen. „Sitzen ist nicht gut, stehen ist nicht gut.“ Nichts ist mehr gut. | |
| Noch die eine Kippe, dann gehen sie rüber zum Kiez-Döner. | |
| Rings um den Imbiss hat die Polizei ein rot-weißes Plastikband gespannt. Um | |
| den Stamm des jungen Baumes vor dem Geschäft sind bis in zwei Meter Höhe | |
| rot-weiße Fanschals des Halleschen Fußballclubs geknotet. Vor dem Laden | |
| stehen noch drei rot-weiße Sonnenschirme an kleinen Klapptischen. Davor | |
| flattern Hunderte Grablichter und leuchten ebenso viele aufgereihten | |
| Blumensträuße, die von nassem Laub ummantelt keine Sichtlücke zum Asphalt | |
| zulassen. | |
| Als Izzet Cagac und seine Freunde die Straße überqueren, fragt er die | |
| Reporterin mit gesenktem Kopf: „Denkst du, es ist okay, wenn wir gleich | |
| beten? Richtig mit den Händen hoch? Nicht, dass das falsch ausgelegt wird. | |
| Wegen Islam und so.“ Als Cagac mit Tekin und Skalska die gebastelte Blume | |
| am Tatort ablegt, wird er von Kameras umringt. Sie beten nicht, zumindest | |
| nicht sichtbar. | |
| ## Opferberaterin Antje Arndt hilft | |
| Rifat Tekin kommt mit einer kurzhaarigen Frau hinzu. Es ist Antje Arndt von | |
| der Mobilen Opferberatung Sachsen-Anhalt. Sie betreut das Team des | |
| Kiez-Döners seit dem Anschlag. Arndt leistet Beistand, erklärt, wer was von | |
| ihnen möchte und trägt dabei einen Rucksack voll mit Formularen auf ihrem | |
| schmalen Rücken. | |
| Um 12.15 Uhr hält ein großer grauer BMW vor dem Kiez-Döner. In Begleitung | |
| von Bodyguards steigt Ministerpräsident Reiner Haseloff aus dem Wagen. | |
| Kameras klicken. Haseloff verschwindet mit Cagac, Skalska, den | |
| Tekin-Brüdern und Antje Arndt im Hinterhof. Der Fahrer parkt den BMW an der | |
| Ecke zur Schillerstraße, genau dort, wo acht Tage zuvor der Täter seinen | |
| Leihwagen anhielt, um im Imbiss von Izzet Cagac zu morden. | |
| Als die vier, Arndt und Haseloff später wieder aus dem Hinterhof | |
| hervorkommen, verschwindet der Ministerpräsident nach einigen Fotos ohne | |
| Kommentar. Die anderen gehen zurück zum Bäcker gegenüber. Ismet Tekin legt | |
| seinen Arm um Arndt, die in den letzten Tagen von großer Bedeutung für die | |
| Opfer war. „Als Betroffener einer solchen Gewalttat kommt zu dem Schock | |
| noch so viel Papierkram dazu. Das können die gerade gar nicht“, sagt sie | |
| auf die Brüder deutend. | |
| Der Kiez-Döner ist noch immer polizeilich als Tatort gesichert. Die Tür ist | |
| verriegelt. Die Miete, Lieferanten, die Löhne und der Sachschaden müssen | |
| bezahlt werden. Der Bund sei dafür nicht zuständig, erklärt Arndt. Und noch | |
| ist nicht klar, ob die Brüder bis zur Wiedereröffnung Mitte November in der | |
| Verfassung sind, wieder hinter dem Tresen zu stehen. Und dann bleibt da | |
| noch die Angst, dass trotz aller Solidarität niemand an einem Ort essen | |
| möchte, an dem ein Mord stattfand. | |
| Einige Tage später wird Izzet Cagac entscheiden, den Imbiss Ismet und Rifat | |
| Tekin zu schenken, die das Attentat miterleben mussten. Er meint, er müsse | |
| etwas Gutes für sie tun. | |
| Die Tekin-Brüder und Antje Arndt nehmen jetzt im hinteren Teil der Bäckerei | |
| an drei kleinen Tischen Platz. Sie reichen Papiere und Visitenkarten herum, | |
| diskutieren das Auftreten der Presse und notieren Daten. Izzet Cagac steht | |
| noch vor einer Fernsehkamera, Skalska telefoniert vor der Tür, kommt kurz | |
| herein und geht wieder. Sie ist die Kommunikationszentrale, hält die | |
| Geschäfte aufrecht und arbeitet die lange Liste an Aufgaben ab. Es gibt | |
| viel zu tun. Ein Schadenersatzantrag muss ausgefüllt, Termine müssen | |
| bestätigt werden. | |
| Myriam Skalska läuft rauchend vor der Bäckerei auf und ab. Eine Bekannte | |
| hält an, spricht ihr ihr Beileid aus. Die junge Frau fragt, wann der | |
| Kiez-Döner wieder öffnen würde. „Es ist ’ne Gedenkstätte. Das geht nicht | |
| sofort – moralisch und psychologisch“, sagt Skalska. Als sie in den | |
| Hinterraum der Bäckerei geht, macht sie auf halbem Weg kehrt. „Oha nee, ich | |
| brauch Zucker.“ Kurz darauf hält ihre kleine kräftige Hand einen Teller mit | |
| einem riesigen, mit Glasur überzogenen Pfannkuchen. Sie wirft sich sich auf | |
| die braune Lederbank hinter den drei Tischen und reißt ihre Jacken auf. | |
| „Guck mal, zwei dicke Jacken, dabei ist es gar nicht so kalt.“ | |
| „Ich hab voll viel abgenommen. Ich bin ja nur noch auf Kaffee und | |
| Zigaretten. Und Alkohol“, sie schlafe kaum noch. „Ich bin im | |
| Funktionsmodus, deshalb bin ich auch so ’n bisschen gereizt.“ Sie fängt an, | |
| den Pfannkuchen in Stücke zu reißen, rutscht auf ihrem Platz hin und her. | |
| Sie ditscht den Teig der einen Seite in das Pflaumenmus der anderen, wirkt | |
| fast kindlich in ihrer Unruhe. Dazu sagt sie: „Ich kann einfach nicht mit | |
| Messer und Gabel essen. Ist vielleicht so ’n Kanackending.“ | |
| Sie erzählt vom Treffen mit Haseloff. Wie er gefragt habe, wie lange sie | |
| schon in Halle lebten. Die Jungs ein paar Jahre. Skalska selbst ist 24, in | |
| Halle geboren und aufgewachsen. Vielleicht hat es ihn überrascht. Skalska | |
| hat von Kindesbeinen an Deutsch gelernt, akzentuiert es aber leicht | |
| arabisch, denn ihr Vater stammt aus dem Jemen. Haseloff habe dann nur noch | |
| von ihrem Stadtteil geredet und was er alles gemacht habe. „Irgendwie | |
| komisch“, fand sie das. Daraufhin hat sie ihn einfach „richtig frech | |
| unterbrochen“. Sie möge ihn trotzdem, er sei „irgendwie niedlich“. Seit … | |
| Anschlag wollen viele ältere weiße Männer mit ihr sprechen. Sie erinnert | |
| sich an einen anderen, den Bundesbeauftragten für Opferberatung: „Der hatte | |
| einen Joop-Mantel an. Da dachte ich mir: Okay, der hat Asche.“ Alle lachen. | |
| ## Wie Myriam Skalska sich um „ihre Jungs“ kümmert | |
| Das ist nur ein Moment von vielen, an denen sie ihr angespanntes Umfeld zum | |
| Lachen bringt. Ansonsten redet sie viel im Befehlston, sagt den anderen, | |
| was sie zu tun hätten. „Ich muss die Jungs hier irgendwie aufrechterhalten, | |
| weil die mir sonst echt wegklappen. Ich habe echt das Gefühl, dass Frauen | |
| in solchen Situationen einfach mental stärker sind und klarer denken können | |
| als die Jungs.“ | |
| Als Izzet Cagac endlich in das Café kommt, ist er kaum ansprechbar. Sein | |
| Blick ist starr, er hört nicht mehr auf seinen Namen. In den letzten neun | |
| Tagen hat er vielleicht zwei Stunden geschlafen. Auch Skalska war die ganze | |
| Nacht wach. Sie saß an der Späti-Kasse, hat gearbeitet und getrunken. „Vor | |
| meinen Kunden muss ich ja so tun, als wäre nichts.“ Rifats Kopf kippt zur | |
| Seite, seine Augenlider fallen halb zu. Cagac ist wieder mit seinem Handy | |
| vor der Tür. Skalska fasst sich an den Kopf: „Guck mal, wir sind komplett | |
| durch.“ | |
| Ismet Tekin bringt Kaffee für alle. Cagac kommt, flucht, holt Skalskas | |
| Handy, geht wieder. Sie haben gelernt, wie wichtig es ist, jetzt | |
| aufeinander zu achten. Skalska schüttelt drei längliche Zuckertüten, reißt | |
| sie mit einem Ratsch auf, kippt sie kopfüber in ihren Kaffee. Das Gleiche | |
| noch mal, ratsch, für Cagacs Kaffee. Ismet beginnt eine Kondensmilchpackung | |
| nach der anderen zu öffnen und in Cagac' Tasse zu füllen. | |
| Rifat Tekin lacht: „Wo kommt das jetzt alles her“ – „Na von den anderen… | |
| sagt Skalska und deutet auf die Tassen der Reporterin, der Fotografin und | |
| der Opferberaterin. Als sie Cagac' Kaffee umrührt, stupst sie ihn an. „Was | |
| los? Sauer oder süß, mh?“ Wann das Leben wieder normal sein wird? Ismet | |
| Tekin zuckt mit den Schultern. | |
| ## 150.000 Aufrufe bei Facebook | |
| Als Skalska das Auto in Richtung Merseburg lenkt, tippt sie einen Termin in | |
| ihr Handy. An einer roten Ampel trommelt sie unruhig auf dem Lenkrad. Die | |
| Trauerfeier für Kevin S. ist ihnen wichtig. Sie haben Angst, zu spät zu | |
| kommen. Bisher hatte es keinen Kontakt zu den Angehörigen der Opfer | |
| gegeben. Izzet Cagac will ihn aufbauen, falls die Angehörigen es zulassen. | |
| Er überlegt, seinen Laden umzubenennen, in JAKE – für Jana und Kevin, die | |
| beiden Mordopfer. Zur jüdischen Gemeinde möchte er auch noch gehen. Cagac | |
| verteilt Likes für Kommentare auf Facebook. 150.000 Aufrufe, sagt die | |
| Statistik. Bei Google sind es über 250.000. Skalska lehnt sich in den | |
| schwarzen Ledersitz und tritt aufs Gaspedal. | |
| 29 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Stendera | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Halle | |
| Rechtsextremismus | |
| Migration | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Stadtplanung | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Antisemitismus | |
| Juden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Leben zwischen Leerstand und Plattenbau: Durchlöcherte Stadt | |
| Halle-Neustadt wurde als größte Planstadt der DDR gebaut. Heute bleiben in | |
| der Platte die Ärmeren unter sich. Über die Zukunft wird nun diskutiert. | |
| Kiez-Döner in Halle wiedereröffnet: „Die beste Form der Solidarität“ | |
| 40 Tage nach dem rechtsextremen Anschlag in Halle haben die Brüder Tekin | |
| ihr Dönerrestaurant wiedereröffnet. Das Gedenken an die Opfer bleibt. | |
| Stimmen aus Thüringen zum AfD-Erfolg: „Noch mehr Haltung zeigen“ | |
| Die Zivilgesellschaft und Minderheiten sehen die gestärkte AfD als | |
| besondere Bedrohung. Man werde sich aber nicht einschüchtern lassen. | |
| Antisemitismusdebatte in Deutschland: Platz machen, hinhören | |
| Nach dem Terror von Halle fragt sich Deutschland, wie es den Juden | |
| hierzulande geht. Wo ist dieses Interesse an ihnen, wenn nichts passiert? | |
| Jüdisches Leben nach Anschlag von Halle: Zerstörtes Vertrauen | |
| Ihre Warnungen vor Antisemitismus verhallten ungehört. Zu Besuch in | |
| jüdischen Gemeinden in Leipzig, Berlin und München. |