| # taz.de -- Wissenschaftler zu postsowjetischer Migration: „Es wurde viel pro… | |
| > Über 2,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion leben in | |
| > Deutschland. Der Forscher Jannis Panagiotidis erklärt, wieso sie kaum | |
| > Beachtung finden. | |
| Bild: Eine Familie aus Nowosibirsk in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Friedlan… | |
| taz: Herr Panagiotidis, im November haben Sie das erste interdisziplinäre | |
| Buch zur postsowjetischen Migration veröffentlicht. Diese Migrant*innen | |
| tauchten bislang wenig in der Migrationsforschung auf. Warum? | |
| Jannis Panagiotidis: Postsowjetische Migranten wurden von verschiedenen | |
| Seiten bewusst aus dem Migrationsdiskurs herausgehalten. Die Grundlage | |
| ihrer Aufnahme war ein symbolischer und vergangenheitspolitischer | |
| Wiedergutmachungsakt: Bei den Spätaussiedlern griff das | |
| Bundesvertriebenengesetz aus der Nachkriegszeit. Sie kamen als deutsche | |
| Opfer von Flucht und Vertreibung, die man aus dem Kommunismus rettete. Die | |
| Kontingentflüchtlinge wurden als Juden aufgenommen, denen man Schutz vor | |
| Antisemitismus in der zerfallenden Sowjetunion bot. Beide Gruppen bekamen | |
| einen besseren Deal als andere Migranten: Integrationsleistungen, einen | |
| festen Aufenthaltsstatus, im Fall der Aussiedler sogar die deutsche | |
| Staatsbürgerschaft. | |
| Die deutsche Migrationspolitik hatte also mehr mit der Konzeption eines | |
| deutschen Selbst zu tun als mit den Menschen, die aufgenommen wurden? | |
| Auf beide Gruppen wurde sehr viel projiziert. Die Aufnahme der | |
| Kontingentflüchtlinge kann als einer der Gründungsakte eines neuen „guten | |
| Deutschlands“ nach der Wiedervereinigung bezeichnet werden. Ein Land, in | |
| das Juden wieder freiwillig einwanderten. Was dann real mit diesen Juden in | |
| Deutschland passierte, ist eine andere Frage. | |
| Über Russlanddeutsche schreiben Sie, dass sie den Linken „zu deutsch“ und | |
| den Rechten „zu russisch“ seien. Was meinen Sie damit? | |
| Von linker Seite wurde die regierungspolitische Linie in Bezug auf die | |
| Russlanddeutschen sehr kritisch gesehen. Oskar Lafontaine bezeichnete | |
| Helmut Kohls Aufnahmepolitik in den frühen 90ern als „Deutschtümelei“, im | |
| schlimmsten Fall als eine Fortsetzung von völkischen NS-Politiken. Die | |
| antinationale Einstellung vieler Linker richtete sich gegen diese | |
| Migrantengruppe. Und dieses Erbe ist bis heute da. | |
| Was ist dran an dem Vorwurf der Blutslogik, die angeblich zu einer | |
| privilegierten Aufnahme der Russlanddeutschen führte? | |
| Tatsächlich ist es viel komplexer. Es ging nie explizit um Blut und auch | |
| nicht einfach nur um Abstammung. Es ging um konkrete Verfolgungsgeschichten | |
| in der Sowjetunion, vor allem unter Stalin. | |
| Trotzdem ist die Position postsowjetischer Migrant*innen in der deutschen | |
| Migrationsgesellschaft eine besondere. | |
| Auf jeden Fall. Meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Gruppe | |
| vornehmlich weißer Migranten zeigt, wie rassistisch und kulturalistisch in | |
| der deutschen Migrationsgesellschaft hierarchisiert wird. In der | |
| öffentlichen Wahrnehmung galt die Migrationsbewegung aus dem Osten nach den | |
| 90ern als abgeschlossen. Postsowjetische Migranten bekamen die Möglichkeit, | |
| unsichtbar zu werden. Sie werden oft als Beispiel für die „Mustermigranten“ | |
| herangezogen. Gleichzeitig wurde das Versprechen, irgendwann zur deutschen | |
| Mehrheitsgesellschaft dazuzugehören, nicht eingelöst. Sie blieben „die | |
| Russen“. Antirussische und antislawische beziehungsweise antiöstliche | |
| Ressentiments haben eine lange Tradition in Deutschland. | |
| Wie haben sich diese Ressentiments in den letzten 30 Jahren verändert? | |
| Die Bilder von postsowjetischen Migranten unterliegen einem Wandel, | |
| allerdings ist dieser nicht linear. Es existieren immer zwei Varianten, die | |
| je nach Kontext abgerufen werden: Es gibt das Stereotyp der guten, | |
| fleißigen, kinderreichen, tiefgläubigen Russlanddeutschen. Parallel dazu | |
| gibt es im Fall der Kontingentflüchtlinge das Bild der hochgebildeten | |
| Intellektuellen, die aus den Metropolen Russlands und der Ukraine nach | |
| Deutschland kamen, um hier das jüdische Geistesleben vor dem Untergang zu | |
| bewahren. Diese positiven Projektionen konnten schnell kippen und schlugen | |
| dann in Bilder von saufenden, kriminellen, prügelnden Russen um, die sich | |
| ihre Aufnahme in Deutschland unter Vortäuschung einer falschen Identität | |
| erschlichen hätten. Den Spruch „Das einzig Deutsche an den | |
| Russlanddeutschen sind ihre deutschen Schäferhunde“ haben wir gerade wieder | |
| gehört. Das schrieb der Journalist und Autor Hasnain Kazim auf Twitter. | |
| Diese Parole war auch schon in den 90ern – nicht nur unter Rechten – | |
| beliebt. Wie so oft bekommen die negativen Bilder mehr Aufmerksamkeit. | |
| Unter postsowjetischen Migrant*innen sind auch muslimische und | |
| nichtweiße Menschen. Zum Beispiel steigt die Zahl queerer Personen, die aus | |
| Tschetschenien nach Deutschland fliehen. Warum sind ihre Geschichten so | |
| wenig sichtbar? | |
| Tschetschenische Queerness überfordert das Komplexitätsverständnis der | |
| hiesigen Migrationsschubladen. Über Tschetschenen spricht man eigentlich | |
| nur im Zusammenhang mit Islamismus. LGBTIQ-Themen und der Islam sind | |
| Leerstellen im Diskurs um die postsowjetische Community. Ich konnte diese | |
| Leerstellen in meinem Buch zwar benennen, aber nicht inhaltlich ausfüllen. | |
| Allerdings tut sich gerade etwas. Im Juli 2020 organisierte Quarteera, eine | |
| Berliner Organisation russischsprachiger LGBTIQ-Personen, eine Pride Parade | |
| durch Marzahn. Also durch einen Berliner Bezirk mit großem | |
| russischsprachigen Bevölkerungsanteil. Queere tschetschenische Flüchtlinge | |
| nehmen sich in Marzahn die Straßen und beziehen damit die hiesige Community | |
| dynamisch in die aktuellen Entwicklungen im postsowjetischen Raum ein. | |
| Gleichzeitig stellen sie die Homophobie dieser Community auf die Probe. | |
| Marzahn wird meist angeführt, wenn es um die Nähe der postsowjetischen | |
| Community zur AfD geht. Hat sich dieses Narrativ in Ihrer Forschung | |
| bestätigt? | |
| Eine wichtige Erkenntnis meiner Forschung ist, dass die Darstellung eines | |
| allgemeinen Rechtsrucks der gesamten Gruppe falsch ist. In den letzten | |
| Jahren haben ziemlich stabil über 40 Prozent der postsowjetischen Migranten | |
| Parteien links der Mitte gewählt. Das wird kaum beachtet, weil es natürlich | |
| faszinierender ist, dass über 50 Prozent Mitte-rechts wählen. Bei dieser | |
| Wählergruppe hat tatsächlich ein Rechtsruck stattgefunden. Die CDU hat an | |
| Zuspruch verloren und die AfD an Zuspruch gewonnen. | |
| In ihrem Buch erklären Sie diese Hinwendung zur AfD mit einem | |
| „Nichtabgeholtwerden“ von anderen Parteien. Was meinen Sie damit? | |
| In der deutschen Parteienlandschaft fehlt das Bewusstsein dafür, was es | |
| bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein. Spätaussiedler waren als deutsche | |
| Staatsbürger von Anfang an wahlberechtigt, aber wurden von den meisten | |
| Parteien als potenzielle Wählergruppe lange Zeit kaum wahrgenommen. Man | |
| ging davon aus, dass sie sowieso CDU wählen. Die AfD hat dieses politische | |
| Vakuum früh erkannt und geschickt bespielt, zum Beispiel mit | |
| russischsprachigen Videos im Wahlkampf und einem übersetzten | |
| Parteiprogramm. Es ist höchst ironisch, dass die Entdeckung eines | |
| migrantischen Wählerblocks einer Partei vorbehalten bleibt, die sich | |
| eigentlich der nationalen Homogenität verschrieben hat. | |
| Zwei Bundestagsabgeordnete der AfD sind in der ehemaligen Sowjetunion | |
| geboren. Sind postsowjetische Migrant*innen auch in anderen Parteien | |
| repräsentiert? | |
| Gerade machen Sergey Lagodinsky und Marina Weisband Politik bei den Grünen. | |
| Sie sind beide postsowjetisch-jüdischer Herkunft und politisch progressiv | |
| unterwegs. Auch diese Beispiele gibt es. Tatsächlich ist die politische | |
| Repräsentation der Gruppe insgesamt aber recht schwach. Einerseits sind sie | |
| schon seit 25 bis 30 Jahren in Deutschland, andererseits aber auch erst | |
| seit 25 bis 30 Jahren. Den meisten fehlt das soziale Kapital und die Zeit, | |
| um politisch aktiv zu werden. Spannend ist die zweite Generation, die | |
| gerade vermehrt an die Öffentlichkeit tritt. | |
| 16 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Wasenmüller | |
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