| # taz.de -- Schwarzer Tee: Jeder Schluck ein bisschen Heimat | |
| > Schon als Kind liebte unsere Autorin Schwarztee. Heute trinkt sie ihn, um | |
| > sich mit ihren ukrainischen Wurzeln zu verbinden. | |
| Bild: Ob über den Dächern von Istanbul oder am Strand von Sri Lanka – der T… | |
| Mein knallroter Trinklernbecher war mein erster Freund und Begleiter, wenn | |
| es ums Trinken geht. Nicht nur Wasser trank ich aus ihm, sondern auch Tee, | |
| damals schon. Bereits mit drei Jahren war ich großer Fan. Und bis heute ist | |
| eine Tasse Schwarztee meine Quelle für innere Wärme und Verbindung zu | |
| meinen Wurzeln. Ohne Ausnahme trinke ich sie jeden Tag. | |
| Als meine Eltern Ende 1998 Charkiw verließen, kamen sie als sogenannte | |
| jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Mit dem Ziel, meinem | |
| Bruder und mir ein besseres Leben zu ermöglichen, als es in der kurz zuvor | |
| zerfallenen Sowjetunion möglich gewesen wäre. Sie wählten den [1][Neustart | |
| in einem fremden Land], sie wählten die Unsicherheit, und versuchten gerade | |
| deshalb, wenigstens daheim die Traditionen aus der eigenen Kultur und | |
| Religion weiter zu tragen. Das gelang ihnen mal besser, mal schlechter, | |
| doch eine ist wie Blut oder Wasser ein Teil von mir: Der Schwarztee, der | |
| bei uns zum Start und Abschluss eines jeden Tages getrunken wurde. | |
| Das Ritual der Zubereitung praktiziere und genieße ich bis heute. Das | |
| Zischen, während sich das Wasser im Wasserkocher erhitzt. Das Klicken des | |
| Schalters, wenn das Wasser gekocht hat. Das Einschenken der Flüssigkeit: | |
| erst die Sawarka, russisch für Sud, sie wurde bereits vorher zubereitet, | |
| indem [2][Teeblätter mit heißem Wasser] in einer kleinen Kanne aufgekocht | |
| wurden. Auf die Sawarka dann die doppelte Menge kochendes Wasser. Als | |
| krönender Abschluss schließlich das Sich-Gedulden, während der Tee auf eine | |
| trinkbare Temperatur herunterkühlt, das Inhalieren des Dufts und | |
| schlussendlich – der erste Schluck. | |
| Er katapultiert mich mental an Orte, die ich aus den Erzählungen meiner | |
| Eltern kenne. Da ist der Gorki-Park in Charkiw, in dem sie bei ihrem ersten | |
| Date spazieren gingen, oder der Wohnblock meines Vaters, den er mir bisher | |
| nur auf Google-Maps-Satellitenbildern gezeigt hat. Alles in seiner | |
| Schönheit noch unberührt, vom russischen Angriffskrieg verschont. Besuche, | |
| die nur in meinem Kopf existieren, denn die Realität ist eine andere. | |
| ## Zugehörigkeit und Identitätskrise | |
| Ein jüdisches Migra-Kind in Deutschland sein bedeutet zwischen den Stühlen | |
| aufwachsen und leben. Die eigene Muttersprache, Russisch, fließend, aber | |
| nicht perfekt sprechen können. Gleichzeitig auf Deutsch denken und es | |
| dennoch nicht schaffen, sich die Bedeutung von deutschen Sprichwörtern | |
| zusammenzureimen („Ich glaub’, mein Schwein pfeift“ – wie bitte?). Pess… | |
| statt Ostern feiern und Familienbesuche in Israel, da kaum jemand in der | |
| Ukraine verblieben ist. Kurzum, es bedeutet Identitätskrise, weil man dann | |
| doch irgendwie nirgends so richtig dazugehört. Mein Leben ist ein stetes | |
| „Sich-selbst-Finden“. | |
| Um diesem Ziel näherzukommen, bereise ich die Welt. Egal ob über den | |
| Dächern von Istanbul, im Wüstental Wadi Rum oder am Strand in Sri Lanka, | |
| ein frisch gebrauter schwarzer Tee lässt mich auch an den entferntesten | |
| Orten dieser Welt so etwas wie Zuhause fühlen. Während ich in die Kultur | |
| anderer Menschen und Länder eintauche, erinnere ich mich an meine eigene. | |
| Als ich dann im Mai 2022 das erste Mal die Heimat meiner Eltern besuchen | |
| wollte, machte der russische [3][Angriffskrieg auf die Ukraine] den Plan | |
| zunichte. Der 24. Februar 2022 ist für mich ein Jahrestag, der im Kalender | |
| für eine riesengroße Wunde steht. | |
| Wenn mich Schicksalsschläge überkommen, halte ich meine Tasse Tee und sie | |
| mich. Der rote Trinklernbecher wurde mittlerweile durch eine | |
| Halbliter-Glastasse ersetzt: Wenn ich meinen Tee nicht nur rieche und | |
| schmecke, sondern auch sehe, steigert sich mein Genusserlebnis. Drei Tassen | |
| trinke ich durchschnittlich pro Tag – meistens nach dem Frühstück, Mittag- | |
| und Abendessen. Aber auch zu einem gemütlichen Filmabend im Bett oder kurz | |
| vorm Feiern gehen – so etwas wie eine unpassende Lebenssituation für eine | |
| Tasse Tee gibt es für mich nicht. | |
| ## Transgenerationale Traumata | |
| Welche Sorte Schwarztee ich trinke, spielt für meine Liebe keine allzu | |
| große Rolle. Die kleinen geschmacklichen Feinheiten bieten allerdings eine | |
| schöne Abwechslung: Earl Grey, wenn’s mal eine fruchtige Note sein soll, | |
| Ceylon für einen kräftigen Geschmack. Wenn meine Mutter früher meinen | |
| Bruder und mich verwöhnen wollte, stampfte sie gefrorene Sanddornbeeren | |
| klein, kochte sie mit schwarzem Tee auf und fügte eine Prise Zucker hinzu. | |
| Eine Spezialität, die ich neulich auch in einem ukrainischen Restaurant in | |
| Dortmund entdeckt habe. | |
| Meine Familienbiografie ist geprägt von der Shoah, von | |
| [4][transgenerationalen Traumata], Armut, Antisemitismus in der Sowjetunion | |
| und in Deutschland. Neustart hier. Berufe meiner Eltern, die nicht ihren | |
| akademischen Abschlüssen entsprechen, kein Doktortitel für meine Mutter. | |
| Keine Selbstverwirklichung. Der deutsche Pass für alle, außer für meinen | |
| Vater. Zu groß wäre sein Schmerz, denselben Pass wie den der Nachkommen der | |
| Täter zu besitzen. Die Reisefreiheit genießen, das Judentum neu entdecken | |
| und frei ausleben dürfen und können. Die Vorteile der Rechtsstaatlichkeit | |
| nutzen, mit Polizeischutz die Synagoge besuchen können. Krieg in der | |
| Ukraine, der 7. Oktober – meine Familienbiografie ist geprägt von immer | |
| wiederkehrenden Schmerzen im Herzen. | |
| Und obwohl nichts in dem Gefühlschaos so richtig helfen kann, wirkt die | |
| Welt zumindest etwas weniger düster nach einer Tasse Tee. In „Tschai“, dem | |
| russischen Wort für Tee, steckt das Wort „Chai“, was auf Hebräisch Leben | |
| bedeutet. Und egal wie schwer das Leben manchmal erscheint, jeder Schluck | |
| Tee entspannt mich, schenkt mir Freude und tröstet mich, wenn ich vergesse, | |
| dass es doch Schönes in der Welt gibt. | |
| 22 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Maria Disman | |
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