| # taz.de -- Eine jüdische Perspektive: Klischees versperren den Blick | |
| > Was ist im Jahr 2022 passiert? Unsere Autorin ist ukrainische Jüdin und | |
| > als Kind nach Deutschland gekommen. Sie blickt zurück auf das vergangene | |
| > Jahr. | |
| Bild: Einschusslöcher am Rabbinerhaus bei der Alten Synagoge in Essen, 18. Nov… | |
| Wäre ich Anfang der 1990er Jahre nicht als Kind gemeinsam mit meiner | |
| Familie aus der ukrainischen Stadt Charkiw nach Deutschland emigriert, | |
| würden auch wir seit dem 24. Februar 2022 in den Metrostationen Schutz vor | |
| Raketenangriffen suchen. Seit zehn Monaten begleitet mich dieser Gedanke, | |
| er hat sich in mir eingenistet und erschüttert mich, wann immer es ihm | |
| passt. | |
| Als wir 1994 von Charkiw über Polen nach Bad Pyrmont in Niedersachsen | |
| einreisten, waren wir eine Familie von vielen, die zwischen Anfang der | |
| 1990er Jahre und 2005 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland | |
| auswanderten. In dieser Zeitspanne immigrierten rund 200.000 Menschen aus | |
| den ehemaligen Sowjetstaaten in das wiedervereinigte Deutschland und trugen | |
| dazu bei, dass die teils winzigen jüdischen Gemeinden Zuwachs erhielten. | |
| Auf diese Weise hatten wir einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass man | |
| heute immer wieder von einem lebendigen und vielfältigen jüdischen Leben in | |
| Deutschland lesen kann – ein von uns eher ungeplanter Beitrag zum Mythos | |
| der deutschen „Wiedergutwerdung“ in der postnationalsozialistischen | |
| Gesellschaft. | |
| Seitdem sind rund 30 Jahre vergangen, während denen sich die sogenannten | |
| Kontingentflüchtlinge permanent beweisen mussten: als legitime Jüd*innen, | |
| als integrationswillige Migrant*innen und trotz aller Herausforderungen | |
| und Erniedrigungen als stolze Menschen. | |
| ## Streit und Zerwürfnisse | |
| Von den etwa [1][220.000 Kontingentgeflüchteten], die heute über 90 Prozent | |
| aller in Deutschland lebenden Jüd*innen ausmachen, kommen etwa 45 Prozent | |
| aus der Ukraine. [2][Der russische Angriffskrieg] ist für viele von ihnen, | |
| so wie auch für mich, ein sehr persönliches Thema. Die allermeisten haben | |
| Verwandte, Freund*innen, ehemalige Schulkamerad*innen und | |
| Kolleg*innen an den Orten, die seit zehn Monaten bombardiert werden. | |
| Innerhalb der jüdischen Community führte das neben viel Empathie und | |
| Unterstützung durch den Einsatz bestehender (inter-)nationaler Netzwerke, | |
| die unter anderem Evakuierungen organisierten und Spenden sammelten, auch | |
| zu Streit und Zerwürfnissen. Unter den aus Russland stammenden jüdischen | |
| Zuwanderer*innen gibt es auch solche, die Putins Krieg nicht völlig | |
| verurteilen oder ihn sogar unterstützen. Dies bleibt eine Belastung für die | |
| von (post-)sowjetischen Narrativen geprägte jüdische Gemeinschaft. | |
| Trotz all dieser markanten Entwicklungen entstammt das weiterhin | |
| vorherrschende Bild von jüdischem Leben in Deutschland alten Klischees und | |
| Stereotypen und hat mit der deutsch-jüdischen Gegenwart, in der die meisten | |
| Juden eher Sascha oder Yurij, anstatt Schlomo oder Yossi heißen, überhaupt | |
| nichts zu tun. Diese Projektionen versperren den Blick auf uns und unsere | |
| komplexen Identitäten und unterschiedlichen Mehrfachzugehörigkeiten. | |
| ## Der erste Bus aus der Ukraine | |
| Durch den Krieg in der Ukraine ist diese übersehene Mehrheit der jüdischen | |
| Gemeinschaft ein Stück weiter in die Sichtbarkeit getreten, da sie | |
| gemeinsam mit ukrainischen Kulturvereinen und Kirchen und nicht zuletzt | |
| durch ihre Kontakte ins Land und zu verschiedenen Organisationen wesentlich | |
| daran beteiligt waren, die ersten Evakuierungen zu planen, Informationen | |
| über Aufenthaltsmöglichkeiten zu beschaffen und diese zu teilen. | |
| In Hannover beispielsweise wurde der erste Bus mit Geflüchteten aus der | |
| Ukraine Anfang März von der Liberalen Jüdischen Gemeinde gemeinsam mit der | |
| lokalen Feuerwehr in Empfang genommen und teils auf private Unterkünfte von | |
| Freiwilligen verteilt. Trotzdem scheint das Bewusstsein dafür, dass es | |
| jüdische Ukrainer*innen gibt, sowohl unter den jetzigen Geflüchteten als | |
| auch unter den Kontingentgeflüchteten vor 30 Jahren, nicht so weit zu | |
| gehen, dass diese Personen und ihre Anliegen eine öffentliche Wahrnehmung | |
| erfahren. Auf den vielen Podien, die aktuell von diversen | |
| Bildungseinrichtungen und Institutionen über den vermeintlich ersten Krieg | |
| in Europa nach 1945 abgehalten werden, fehlen sie weitestgehend. Dabei wäre | |
| es wichtig, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Auch im Kontext des Krieges | |
| wird ein Über dem Mit vorgezogen und schreibt sich damit ein in eine | |
| jahrzehntelange Erfahrungsgeschichte jüdischer und migrantischer | |
| Lebensrealitäten. | |
| Würde man mehr jüdische Stimmen zu diesen öffentlichen Gesprächen einladen, | |
| würden sie unter anderem folgendes erzählen: Der Krieg Russlands mit seinem | |
| propagandistischen und heuchlerischen Ziel der Entnazifizierung der Ukraine | |
| einerseits, die Mobilisierung auch rechtsnationalistischer Splittergruppen | |
| auf beiden Seiten bis hin zu der wahnwitzigen und | |
| antisemitisch-verschwörerischen Lüge des russischen Außenministers Sergei | |
| Lawrow, Juden wären die größten Antisemiten, um eine Gleichstellung Hitlers | |
| und Selenskis zu bezwecken, hat eine nur schwer aushaltbare Situation für | |
| Jüd*innen in Russland geschaffen, was dazu führt, dass immer mehr von | |
| ihnen in Erwägung ziehen, ihr Land zu verlassen. | |
| ## 93 Prozent der Rentner*innen leben in Altersarmut | |
| Auch wenn es sich für mich manchmal so anfühlt, als wäre der 24. Februar | |
| niemals vergangen, drehte sich die Welt selbstverständlich weiter und | |
| sorgte somit auch für andere Herausforderungen. Das noch immer eine | |
| flächendeckende [3][Altersarmut] unter jüdischen Zuwanderer*innen | |
| herrscht, die in den 90er und nuller Jahren eingewandert sind, wurde in | |
| diesem Jahr in meinen Augen öffentlich zu wenig thematisiert. Dieses | |
| Problem betrifft 93 Prozent der Rentner*innen, teils Shoah-Überlebende, | |
| während im Vergleich nur 2,6 Prozent der deutschen Rentner*innen 2021 | |
| auf Grundsicherung angewiesen waren. | |
| Ein Fonds, der im aktuellen Koalitionsvertrag zur Entlastung der Menschen | |
| und vor allem als vermeintlich schnell umzusetzende Zwischenlösung | |
| eingerichtet werden sollte, ist im Dezember 2022 immer noch nicht aktiviert | |
| und lässt die Betroffenen während der Inflation und steigenden Preisen | |
| weiter im Stich. | |
| Das Problem soll im kommenden Jahr endlich angegangen werden, indem ein | |
| Fonds „zur Abmilderung von Härtefällen“ eingerichtet wird, bei dem die | |
| Betroffenen nach Antragsstellung eine Einmalzahlung von 2.500 Euro erhalten | |
| sollen. Ursprünglich war im Bundeshaushalt eine Summe in Höhe von 10.000 | |
| Euro vorgesehen. Die Reduzierung auf ein Viertel der Summe offenbart, dass | |
| dem prekären Leben in Armut jüdischer Zugewanderter keine hinreichende | |
| Auseinandersetzung entgegengebracht wird. | |
| ## Kunst und niemand will verantwortlich sein | |
| Ich komme nicht umhin, auch die [4][documenta 15] zu erwähnen – selten | |
| konnte man in den vergangenen Jahren über das Maß an Ignoranz gegenüber | |
| jüdischem Widerstand so staunen, wie vor und während der diesjährigen | |
| Kunstschau. Was an der documenta wirklich schockierte, war der Umgang mit | |
| den Exponaten und die Positionierung der Verantwortlichen. Man konnte | |
| beobachten, wie eine Instanz nach der anderen die Verantwortung von sich | |
| wies. | |
| Aus Mangel an Alternativen, so schien es, stürzten sich alle auf das | |
| Rettungsboot namens Kunstfreiheit, die angeblich alles dürfe. Auch der | |
| Interimsleiter Alexander Farenholtz brachte die documenta nicht auf einen | |
| dialogischeren Kurs. Im Interview mit der HNA sprach er mehrmals von einer | |
| „emotionalen Überreaktion auf der einen wie auf der anderen Seite“. Er | |
| hoffe auf eine Versachlichung der Debatte, nach einer Distanz der | |
| Ereignisse, was eine häufig angewandte Taktik darstellt, um Kritik an | |
| diskriminierendem Verhalten von Betroffenen zu delegitimieren. | |
| ## Ein antisemtiischer Rapper, rechte Chatgruppen und Schüsse | |
| 2022 war zugleich durchzogen von unzähligen Meldungen über Angriffe, | |
| Drohbriefe und Schmierereien an jüdischen Einrichtungen. Die | |
| Gleichzeitigkeit der [5][antisemitischen und verschwörerischen Äußerungen | |
| von Kanye West], einem der bekanntesten US-Rapper der Welt, und den | |
| [6][Schüssen auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen] zeigt | |
| abermals und unmissverständlich, welche Taten aus „bloßen Äußerungen“ | |
| resultieren können. [7][Die kürzlich veröffentlichte Erhebung der | |
| Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin von Januar | |
| bis Juni 2022] fasst insgesamt 450 antisemitische Vorfälle zusammen, was | |
| mehr als zwei Vorfälle pro Tag bedeutet. Darunter wurden 97 Einzelpersonen | |
| „tätlich angegriffen, bedroht oder auf andere Weise antisemitisch | |
| angefeindet“. | |
| Das Jahr neigt sich dem Ende zu und die Eilmeldungen auf meinem Handy | |
| berichten von [8][bewaffneten Reichsbürger*innen, die einen Regierungssturz | |
| planten], von [9][rassistische Chatgruppen innerhalb staatlicher Organe], | |
| vom Verschwinden von Waffen und Munition in ebendiesen und von behördlichem | |
| Versagen, den Angehörigen und Überlebenden rechtsterroristischer Attentate | |
| angemessenen Schutz und Hilfe entgegenzubringen. | |
| All das ließ vielen Jüd*innen dieses Jahr so oft den Atem stocken. Auch | |
| ich war überwältigt von der anhaltenden Ignoranz und Gewalt gegenüber | |
| Jüdinnen und Juden und der Gewalt gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern, | |
| der Zerstörung von Leben und Orten. | |
| Für das kommende Jahr bleibt mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass | |
| dieses das Jahr der wahr werdenden Utopien wird, in dem jedem Menschen das | |
| gleiche Recht auf Schutz, Versorgung und Unversehrtheit zuteil wird, ohne | |
| Morde, ohne Gewalt. | |
| 31 Dec 2022 | |
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| [6] /Antisemitismus-in-Deutschland-und-Essen/!5898853 | |
| [7] https://report-antisemitism.de/documents/RIAS_Berlin_Antisemitische_Vorfael… | |
| [8] /Nach-den-Reichsbuerger-Razzien/!5900696 | |
| [9] /Rechte-Chatgruppen-in-der-Polizei-Berlin/!5900426 | |
| ## AUTOREN | |
| Katja Sigutina | |
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