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# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland und Essen: Nach dem Anschlag
> Ein Angriff in Essen entpuppt sich als internationaler Krimi mit Rockern
> und Revolutionsgarden. Doch er zeigt auch banalen, antisemitischen
> Alltag.
Bild: 18. November 2022: Einschusslöcher am Rabbinerhaus in Essen
Essen taz | Farbkleckse auf einer Tür aus Panzerglas. Das ist das mediale
Bild des Anschlags auf die Alte Synagoge in Essen. Die Polizei markierte so
Einschusslöcher: Zweimal schlug es [1][in der Nacht vom 17. auf den 18].
November ins Glas ein, einmal in den Rahmen. [2][Wie beim Anschlag in Halle
2019: wieder eine Tür], wieder eine stabile, als wäre die wichtigste
Sicherheitsgarantie für jüdisches Leben in Deutschland eher solides
Handwerk als die ewige Bekundung eines „Nie wieder“. Längst hat in Essen
eine Holzplatte das perforierte Glas ersetzt. Davor stehen zwei Polizisten
im Schnee.
Die Alte Synagoge ist, wie selten das in Deutschland ist, ein prächtiger
Bau mitten im Zentrum der Ruhr-Metropole. Im neobyzantinischen Stil reckt
sie ihre Kuppel selbstbewusst seit 1913 in den Himmel neben dem Rathaus,
damals Haus einer der größten jüdischen Gemeinden im Rheinland. Vor dem
Hauptportal fließt es mehrspurig, daneben zieht die ruhigere Streeler
Straße. Nebenan: das Hotel Shanghai, lange einer der feinsten Clubs des
Ruhrgebiets. Hier liegt auch der Eingang des Rabbinerhauses, baulich Teil
der Synagoge.
Seit 1938 wohnt hier kein Rabbiner mehr, genauso wenig wie die Synagoge
eine Synagoge ist: Sie ist ein Kulturzentrum, und das Rabbinerhaus ist Teil
der Universität Duisburg-Essen. Wenn man es genau nimmt, fielen die Schüsse
auf den Eingang zu Forschungsinstituten: Das Steinheim-Institut für
deutsch-jüdische Geschichte ist dort untergebracht und Räumlichkeiten eines
Forschungszentrums für Gesundheitsökonomie.
## Jüdische Welten der Gegenwart
„Das Attentat war etwas Generelles. Das hat nichts mit einem persönlichen,
individuellen Vorfall zu tun. Kann es ja auch nicht. Mit einem
Forschungsinstitut für Gesundheitsökonomik kann man schließlich keinen
persönlichen Krach haben“, sagt Uri Kaufmann ironisch. Seit 2011 leitet der
Historiker das Haus, machte die Alte Synagoge zu einem sichtbaren Kulturort
weit über die Region hinaus. Gezielt sprechen seine Workshops,
Veranstaltungen und Konzepte nicht nur das ältere Bildungsbürgertum,
sondern auch Schüler*innen aus der Nachbarschaft an, die oft aus
antisemitischen Umfeldern kommen. Das Leben, nicht die Vernichtung steht im
Mittelpunkt, jüdische Welten der Gegenwart. „Es soll ein offener Ort sein,
ein angenehmer Ort“, erklärt Kaufmann. In der Galerie hängt ein Porträt von
Amy Winehouse.
Vom Anschlag auf sein Haus erfuhr der Leiter nicht durch die Behörden,
sondern durch einen Anruf des Priesters der benachbarten Altkatholischen
Gemeinde. Kaufmann ist unzufrieden mit der Kommunikation. Dass
NRW-Innenminister Herbert Reul zur Synagoge kam und TV-Interviews gab,
erfuhr er auch erst aus den Nachrichten. „Man ist schon manchmal
überrascht, wenn man nur en passant Dinge erfährt, die einen doch angehen“,
sagt er, „wir müssen ja den Kopf hinhalten, hier im Haus, die anderen
nicht.“
Seit gut zwei Wochen entwickelt sich der Fall immer mehr zu einem
überdrehten Thriller mit internationalen Dimensionen. [3][Schon bald fällt
den Behörden auf, dass die Schüsse Teil einer Anschlagsserie sein könnten]:
Nachdem die Polizei Informationen über einen Anwerbeversuch für einen
Anschlag auf die Dortmunder Synagoge erhielt, erschien auch der [4][Wurf
eines Brandsatzes auf die Bochumer Hildegardis-Schule in der gleichen
Nacht] neu verdächtig – die Schule grenzt unmittelbar an die Synagoge. Ein
Verdächtiger für Anwerbung und Brandstiftung sitzt in Haft.
## Rocker und Revolutionsgarden
Mittlerweile ermittelt im Fall des Anschlags von Essen der
Bundesgeneralanwalt, der Verdacht, ein ausländischer Geheimdienst sei an
der Tat beteiligt, hat sich zuletzt erhärtet. Die Spur führt zu iranischen
Revolutionsgarden – und zugleich ins Rockermilieu des Ruhrgebiets. Der
bereits verhaftete Deutsch-Iraner soll Kontakte zum Hells-Angels-Boss Ramin
Y. haben, Hauptverdächtiger in einem brutalen Mordfall und seit letztem
Jahr im Iran untergetaucht sein. Von dort aus soll er ein Terrorkommando
der Revolutionsgarden in Deutschland steuern. Auf der Zielliste auch: der
Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster.
Die Ermittlungen sind nicht zuletzt auch außenpolitisch von hoher
Bedeutung: Um die Frage, ob die Revolutionsgarden als Stützen des Regimes
auf die EU-Terrorliste gesetzt werden sollen, herrscht Zwist. Ein Beweis
für terroristische Anschläge in Mitteleuropa könnte die Debatte massiv
verändern. Dennoch blieb die Reaktion der Politik bislang eher in leiseren
und routinierten Bahnen, was angesichts der Intensität der Lage viele
verwundert.
In der Nachbarschaft hat sich eine Schule schnell solidarisiert und eine
Demo mit mehreren hundert Schüler*innen gegen Antisemitismus
organisiert: die Frida-Levy-Gesamtschule, geprägt durch muslimische
Schülerschaft, benannt nach einer jüdischen Frauenrechtlerin. Die
18-jährige Schülersprecherin Manal Aarab ist schockiert. „Antisemitismus
ist in der Innenstadt präsent“, sagt sie, „und auch in der Schülerschaft
gibt es einen unterschwelligen Hass.“ Es sei aber kein Problem einer
bestimmten Community: „Deutschland hat eine Vorbildfunktion. Und dass wir
immer nur das Nötigste tun, ist erschreckend.“
Antisemitische Angriffe aus dem islamischen und antiimperialistischen
Spektrum gab es auf die Alte Synagoge, seit sie in den 1980ern Kulturort
wurde. 2000 griffen bei einer Demo gegen israelische Politik
palästinensische Libanesen das Gebäude an, Steine flogen. Während des
Gazakrieges 2014 gab es Aufrufe zur Zerstörung, zahlreiche Festnahmen
verhinderten die Umsetzung.
## Schläge, Stöße, Schüsse
Die heutige jüdische Gemeinde hat ihren Sitz in der abgelegenen
Sedanstraße. Die Präsenz der Alten Synagoge im Zentrum der Stadt ist für
sie ein Garant verhältnismäßiger Ruhe. Antisemitische Aggression entlädt
sich meist auf Kaufmanns Kulturzentrum. Die Polizeipräsenz wurde dennoch
überall verstärkt, die markante Kuppelschale der neuen Synagoge wird
demnächst auch von einem schützenden Zaun umgeben. Vor zwei Jahren
zerstörte der Wurf einer schweren Gehwegplatte ein Fenster. Und kurz nach
den Schüssen vom November entdeckte man auch am metallenen Mantel der neuen
Synagoge verdächtige Löcher – diese entpuppten sich allerdings nach
ballistischer Untersuchung nicht als Einschüsse, sondern als Ergebnis von
Schlägen oder Stößen. Ein unbemerkter Angriff, der alltägliche Hass.
„Die Gewaltspirale dreht sich. Früher gab es Schmierereien, dann
Steinwürfe, jetzt sind es Schüsse mitten in der Stadt. Der Täter ist noch
nicht festgenommen, wir wissen nicht, was er vorhat, das gibt ein großes
Unsicherheitsgefühl“, sagt Schalwa Chemsuraschwili, Vorstandsvorsitzender
der Gemeinde. Den Gottesdienst am Tag nach der Tat abzusagen hatte er mit
seinen Gemeindemitgliedern debattiert. Aber: „Die Abschreckung hat nicht
funktioniert“, sagt er. Und dennoch seien viele verunsichert. Umso
wichtiger sei die Anteilnahme, die die Gemeinde erfahre, erzählt
Chemsuraschwili.
Viele schrieben, sicherten ihre Solidarität zu. In einer
fraktionsübergreifenden Erklärung des Stadtrats distanzierte sich Essen von
Antisemitismus. Aber das reiche nicht, sagt Chemsuraschwili, der in seinem
familiären Umfeld Erfahrungen mit Mobbing an Schulen gemacht hat. Dem
Lehrpersonal wie der Justiz fehle es an Sensibilität. Zu oft würden
antisemitische Taten pathologisiert oder als politischer Protest gegen
Israel verharmlost, statt als solche benannt und bestraft zu werden.
## Dauerübung in Resilienz
Unterdessen bleibt der Anschlag in Essen dubios. Bei der
Staatsterrorismusthese zucken die Schultern derjenigen, die sich noch an
das mutmaßlich vom Iran durchgeführte Attentat auf das jüdische
Gemeindezentrum von Buenos Aires 1994 mit 85 Toten erinnern – nächtliche
Schüsse auf das Nebengebäude einer ehemaligen Synagoge erscheinen dagegen
dilettantisch. Aber wie konnte ein Mitglied der Hells Angels im von den
gegnerischen Bandidos dominierten Essen überhaupt Anschläge ausführen? Und
nicht zuletzt erinnert man sich nicht nur beim Bündnis „Essen stellt sich
quer“ an die nie aufgeklärten Schüsse auf ein Kulturzentrum 2018, hinter
denen man die rechtsextreme Gruppierung Steeler Jungs vermutet, die als
Schnittpunkt von Hooligans, Rockern, Neonazis und Bürgerlichen das Essener
Viertel Steele mit bürgerwehrähnlichen Aufmärschen terrorisieren. Eine
Szene, die heute von „eingewandertem Antisemitismus“ spricht.
Für jüngere Essener Juden wie den Schauspieler Anton Tsirin ist die Frage
der Täterschaft eher zweitrangig. Weil es nichts ändert daran, wie
jüdischer Alltag aussieht, als Dauerübung in Resilienz. „Ich habe gecheckt,
ob jemand verletzt wurde, näher habe ich mich nicht damit beschäftigt. Ich
habe überlegt, warum es mich nicht bewegt hat“, erzählt er. „Wenn ich nic…
schon gewusst hätte, dass es einen Anschlag geben könnte, wenn es etwas
Neues wäre, wäre ich erschüttert.“ Aber so: „Was hast du davon, in ein
Gebäude zu schießen, das hundert Jahre alt ist? Was willst du auslösen?
Wenn du uns erschrecken willst, lass dir was Besseres einfallen. Dafür
haben wir viel zu viel Scheiße fressen müssen in der Vergangenheit.“
Ähnlich sieht das Uri Kaufmann. Ob Schüsse oder Stille, die Wache steht vor
der Tür: „Das gehört zur Realität, die Sie über die Jahrzehnte erfahren,
die Teil einer Normalität geworden ist.“
Für das nächste Jahr plant er die Übernahme einer Ausstellung vom
Baukunstarchiv NRW: „Teheran – Tel Aviv“ zeigt die architektonische Brüc…
zwischen den beiden sich seit der Moderne auseinanderentwickelnden Städten.
Auch angesichts des Verdachts zu den Hintergründen der Schüsse in Essen
bleibt nur die Hoffnung, dass das theokratische System im Iran 2023
aufgeben muss, damit zumindest seine Rolle im globalen Hass auf Jüd*innen
an ein Ende gekommen ist. Der Antisemitismus wäre damit aber natürlich
längst nicht verschwunden.
11 Dec 2022
## LINKS
[1] /Neben-Alter-Synagoge-in-Essen/!5896158
[2] /Das-Attentat-von-Halle/!5628896
[3] /Anschlaege-auf-Synagogen-in-NRW/!5899893
[4] /Anschlaege-auf-juedische-Einrichtungen/!5898295
## AUTOREN
Steffen Greiner
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