# taz.de -- Historikerin über Brutalismus: „Die Agenten des Vergessens“ | |
> Mehr als nur Kulisse für Bierreklame und Netflix-Serien: Die Historikerin | |
> Sanja Horvatinčić kämpft für den Erhalt jugoslawischer | |
> Partisanen-Denkmäler. | |
Bild: Die Kunsthistorikerin Sanja Horvantinčić in ihrer Heimatstadt Zagreb | |
taz: Frau Horvatinčić, was sind Ihre schönsten Kindheitserinnerungen? | |
Sanja Horvatinčić: Sommertage in Istrien in einem alten Bauernhaus aus | |
Stein. Es war mitten in der Natur. Es gab keinen Strom, keine Elektrizität | |
und ich erinnere mich, wie ich die Gegend erkundete. Die verfallenen | |
Häuser, wilde Tiere gab es – ein Abenteuer. | |
Wann war das? | |
So Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Genau in der Zeit des | |
jugoslawischen Niedergangs. Der Krieg in Kroatien begann 1991. | |
Also könnte man sagen, dass Jugoslawien, als es noch nicht zerbrochen war, | |
für glückliche Kindheitserinnerungen sorgte? | |
Einmal fragte ich meine Mutter, in welchem Land wir leben – und sie sagte: | |
in Jugoslawien. Das gab es da schon gar nicht mehr, aber sie hatte sich | |
damit identifiziert. Meine Erinnerungen an Jugoslawien sind zweiter Hand. | |
Ich verbinde damit ein System, das Nichtprivilegierte förderte, Arbeiter – | |
so wie meine Großeltern. | |
Welchen Beruf hatte Ihre Mutter? | |
Sie hat am wissenschaftlichen Institut Ruđer Bošković in Zagreb gearbeitet, | |
sie ist Chemikerin. Sie hat eine beständige, wissenschaftliche Karriere | |
gemacht, die heute so kaum mehr möglich wäre. | |
Inwiefern? | |
Heute bekommt man an der Uni meist nur befristete Verträge. Sie aber war | |
nach ihrem Abschluss in der Fakultät beschäftigt, an der sie ein Leben lang | |
blieb. Sie war alleinerziehende Mutter und musste keine Angst haben, den | |
Job zu verlieren. Sie ist auch viel gereist, zu Konferenzen. Dann hat sie | |
Geschenke mit nach Hause gebracht, aus Deutschland oft Schokolade. Das war | |
wie ein Fenster zu einer anderen Welt. | |
Sie sind Historikerin und auf Erinnerungskultur spezialisiert: Derzeit | |
forschen Sie zu antifaschistischen Mahnmalen, die von der Generation Ihrer | |
Großeltern errichtet wurden. | |
Ja, der Vater meiner Mutter war bei den Partisanen. Zunächst wurde er als | |
Junge für die Domobrani-Miliz rekrutiert, die Armee Kroatiens, das damals | |
ein Marionettenstaat Nazideutschlands war. Er wurde in einen Zug nach | |
Deutschland gesetzt, wo er arbeiten oder in der Armee dienen sollte, das | |
war nicht klar. Zusammen mit ein paar anderen ist er aus dem Zug | |
gesprungen, noch in Kroatien. Sie kannten sich in der Gegend aus, haben | |
sich in den Wäldern durchgeschlagen. Dort kamen sie mit Partisanen in | |
Kontakt. Mein Großvater war dann als Kurier tätig. Später, nach dem Ende | |
des Krieges wurde er Mitglied der kommunistischen Partei. Und blieb es. | |
Was war er für ein Mensch? | |
Ein Klempner. Er sprach nicht viel über den Krieg, aber für mich war immer | |
klar, dass er auf der richtigen Seite gestanden hatte. Meine Familie | |
väterlicherseits war serbisch, viele wurden von kroatischen Faschisten | |
umgebracht. Auch in der Familie meiner Großmutter nahe der slowenischen | |
Grenze gab es meines Wissens keine Faschisten. Also in dieser Hinsicht auch | |
keine Konflikte. | |
In anderen Familien gibt es diese Konflikte bis heute? | |
Allerdings, ja. | |
Die Mahnmale der Nachkriegszeit, zu denen Sie arbeiten, wer hat die | |
errichtet? | |
Meistens lokale Initiativen, angeführt von ehemaligen Partisanen. Veteranen | |
also, oft zusammen mit den Jugendorganisationen. Diese meist kleineren | |
Monumente kann man überall sehen, in den Dörfern, an Landstraßen. Und dann | |
gibt es die größeren Mahnmale, die an Schlachten und große Persönlichkeiten | |
erinnern, die wurden dann von den jeweiligen kommunistischen Parteien, etwa | |
Sloweniens oder Kroatiens, verantwortet. Es gibt aber auch solche, die von | |
Belgrad aus zentral organisiert wurden. | |
Sozusagen Titos Mahnmale, also solche, die vom Staatsführer Ex-Jugoslawiens | |
in Auftrag gegeben wurden? | |
So liest man das heute in touristischen Prospekten. Tatsächlich war Tito | |
kaum mit diesen Mahnmalen befasst, schon gar nicht in Bezug auf die | |
Architektur oder Ästhetik. Sie waren ihm aber auch nicht egal, denn | |
schließlich bildeten der antifaschistische Kampf und die sozialistische | |
Revolution die Grundfesten des Staatswesens. | |
Die Mahnmale waren also ein Bestandteil jugoslawischer Identität? | |
So wie Mahnmale überall auf der Welt Bestandteil der nationalen Identität | |
sind. Besonders sind sie eigentlich nur architektonisch. | |
Inwiefern? | |
Insofern, als der Kultur in Jugoslawien nach dem Bruch zwischen Tito und | |
Stalin 1948 größere Freiräume zugesprochen wurden. Ab den Fünfzigern | |
genossen Künstler und Architekten eine vergleichsweise Autonomie – und so | |
konnten sie experimentieren, auch im Hinblick auf die Mahnmale. | |
Gleichzeitig gab es auch heftige Debatten, was die Abkehr von Stalin für | |
die Kulturproduktion bedeuten sollte – und welche Rolle Kunst und Kultur in | |
der jugoslawischen Gesellschaft spielen soll. | |
Und? | |
In gewisser Weise blieb das immer eine offene Frage. | |
Die Monumente stoßen heute wieder auf ein größeres Interesse. Was passierte | |
mit ihnen nach der Desintegration Jugoslawiens? | |
Das hängt von der Region ab. In Kroatien etwa gab es einen fünf Jahre | |
währenden Krieg, der in Gegenden mit gemischter ethnischer Bevölkerung | |
ausgetragen wurde. Dort wurden die Mahnmale meistens zerstört. Aber auch | |
da, wo es kaum Kriegshandlungen gab, in Zagreb oder Split, wurden sie als | |
Symbole der alten Ordnung beseitigt, obwohl sie im Vergleich mit anderen | |
Ländern weniger affirmativ gegenüber dem kommunistischen System waren. Sie | |
waren eher den Helden und Opfern des Krieges gewidmet. | |
In Slowenien dagegen sind die meisten Mahnmale intakt. | |
Ja, weil sich die slowenische Staatswerdung Anfang der Neunziger auf den | |
Sieg der Partisanen über den Faschismus bezogen hat – während man in | |
Kroatien versuchte und noch immer versucht, sich auf das faschistische | |
Kroatien zu berufen, also das sogenannte „unabhängige Kroatien“. Unter | |
diesem nationalistischen Gesichtspunkt wurde dann jede Form von | |
Antifaschismus verdächtig. Man kann das vergleichen mit der Debatte um das | |
Grab von Franco in der Spanien. | |
Das zugleich ein Massengrab ist, für Tote beider Seiten des Spanischen | |
Bürgerkriegs. | |
Einige hochrangige Politiker Kroatiens haben gesagt, dass sie sich durch | |
[1][Francos Grab] inspiriert fühlen – man kippt einfach alle Knochen | |
zusammen und dann ist Ruhe. Das ist zum Glück nicht passiert. Stattdessen | |
hat man die Gebeine der Partisanen komplett vergessen, teilweise wurden | |
ihre Überreste sogar zerstört. | |
Keiner kümmert sich um die Gräber? | |
Man muss fragen: Wer sind die Agenten dieses Vergessens? Und wem wiederum | |
gehört dieses Erbe? Wenn man nämlich mit den Menschen vor Ort spricht, | |
merkt man, dass es in fast jeder Familie Erinnerungen gibt. Und eine | |
Wertschätzung der Monumente. | |
Dann könnte man die Monumente doch wieder aufbauen. | |
Das ist eben nicht so einfach, wenn etwas bereits zerstört wurde. Ein | |
solcher Wiederaufbau wäre auch so etwas wie eine aktives politisches | |
Bekenntnis, das ist eine hohe Hürde. Und ohnehin gibt keine Fördermittel. | |
Also muss sich die Zivilgesellschaft kümmern? | |
Ja. Da stimmt mich die neue Aufmerksamkeit für die Mahnmale ein wenig | |
optimistischer. Auch im Ausland gibt es nun Leute, die sie als Teil ihres | |
Erbes betrachten und entsetzt reagieren, wenn Symbole des | |
antifaschistischen Kampfs zerstört oder infrage gestellt werden – auch | |
übrigens, indem man sie als hohle Sensationen behandelt. | |
Was so passiert ist: Raves wurden dort schon veranstaltet. Jüngst wurde ein | |
[2][Reality-TV-Beitrag] für die deutsche Brauerei Beck’s im Umfeld des | |
Mahnmals von Petrova Gora, südlich von Zagreb, der Hauptstadt, gedreht. Und | |
eine deutsche Produktionsfirma, Wiedemann & Berg, dreht dort nun für eine | |
Netflix-Serie namens [3][“Tribes of Europe“. ] | |
Ich bin durch Zufall drauf gestoßen, als ich mit amerikanischen Schülern | |
dort hinwollte. Ich sah zunächst, dass der Müll weggeräumt war – und dachte | |
gleich: Das bedeutet nichts Gutes. Im Gebäude traf ich dann auf Arbeiter, | |
die uns verscheuchen wollten, weil das Gelände privat sei. Ich erfuhr von | |
ihnen, dass eine deutsche Produktionsfirma hier drehen wolle. Mittlerweile | |
ist das Mahnmal komplett für die Öffentlichkeit gesperrt, im Erdgeschoss | |
hängen Schilder: „Cast only“. | |
Reklame für deutsches Bier vor antifaschistischem Mahnmal, | |
Netflix-Entertainment … | |
Scheinbar hat der Bürgermeister der Gemeinde der Produktionsfirma die | |
Schlüssel gegeben. Bei der Liegenschaft handelt es sich aber um ein | |
geschütztes nationales Kulturgut, es müssen also bestimmte Auflagen | |
beachtet werden, besonders im Fall einer kommerziellen Nutzung. Der | |
Bürgermeister hat sich wohl gedacht, dass der Spot die Gegend bekannter | |
machen kann. Er hat nicht mal Geld verlangt für die [4][Kulisse]. So läuft | |
das hier. | |
Eine immerhin weltberühmte Kulisse, seitdem Petrova Gora in der Ausstellung | |
über jugoslawische Architektur im Museum of Modern Art, dem MoMA, in New | |
York gezeigt wurde. | |
Seitdem will jeder das sehen. Aber schon vorher wurde auch eine | |
Sonnenbrillenwerbung am Mahnmal von [5][Jasenovac] produziert. Richtig | |
jedoch ist, dass das kroatische Ministerium für Kultur nach der | |
[6][MoMA-Ausstellung] nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Petrova Gora | |
ist jetzt eine Art heiße Kartoffel, sie müssten eigentlich was tun, aus | |
politischen Gründen wollen sie aber nicht. | |
Es werden schon Reisen zu den „Spomenik“, den Denkmälern, angeboten. | |
Der Hype setzte schon vor der Ausstellung ein. Es fing mit dem Fotoprojekt | |
des Belgiers Jan Kempenaers an, „Spomenik“ heißt seine Arbeit, Fotografien | |
jugoslawischer Monumente. Die wurden im Netz sehr populär. Das Problem: Er | |
hat die Mahnmale nur durchnummeriert. Sie haben keine Namen – es wirkt, als | |
hätte er bizarr geformte Blumen fotografiert. Andere sagen sogar, das sei | |
eine koloniale Herangehensweise: Oh guck, hier ist was Seltsames und wir | |
haben nicht mal einen Namen dafür, wie wäre es mit Känguru? Es ist zwar nur | |
eine Fotoarbeit. Aber die hat viele Abenteuerurlauber auf den Plan gerufen. | |
Huhu, da gibt es was Seltsames zu entdecken auf dem Balkan. | |
Es gibt aber längst eine Website, die sämtliche Mahnmale verzeichnet, sie | |
heißt „[7][Spomenik Database]“. | |
Sie wird von einem amerikanischen Biologen betrieben. Er schätzt die | |
Mahnmale. Aber zugleich irritiert mich seine Haltung, so von oben herab: | |
Ihr habt hier etwas Besonderes und seid nicht in der Lage, euch darum zu | |
kümmern. Er durchdringt zwar nicht die politischen Zusammenhänge, die zu | |
der heutigen Situation der Mahnmale geführt haben, wohl aber weiß er, wie | |
man mit ihnen Geld verdienen kann. | |
Ist das nicht auch eine Art Erinnerungskultur? | |
Nein, es ist eine weitere, originellere Variante des Tourismus. Dabei | |
handelt es sich doch um Mahnmale, die an historische Ereignisse erinnern, | |
die noch nicht so lange zurückliegen. Und oft handelt es sich auch um | |
Grabanlagen, es gibt Hinterbliebene, die noch leben. Holocaust-Mahnmale | |
werden doch auch nicht als Sensation vermarktet. | |
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Attraktion, Leute machen Selfies, | |
turnen darauf herum. | |
Es verfällt aber nicht. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn es einen | |
gesteuerten Tourismus gäbe und dafür ein Teil der Einnahmen in die | |
Erhaltung und politische Aufklärungsarbeit flösse. | |
Wer wäre denn verantwortlich? Das kroatische Ministerium für Kultur? | |
Dort zeigte man ja nicht einmal Interesse, als ich sagte, dass wir drei | |
Monumente im MoMA zeigen, die auf kroatischem Territorium stehen. | |
Das Ministerium kümmert sich gar nicht? | |
Ich weiß nur, dass es eine Art internen Revisionprozess gibt, bei dem es | |
darum geht, die Anzahl der schützenswerten Denkmäler aus der Zeit des | |
Zweiten Weltkrieges zu reduzieren. Die zuständige Kommission ist | |
ausschließlich mit rechten Kunsthistorikern besetzt. | |
Hat die MoMA-Ausstellung also gar keinen Effekt? Immerhin wissen nun mehr | |
Menschen auf der Welt, dass es Jugoslawien überhaupt gab. | |
Das stimmt. Die Ausstellung hat dazu beigetragen, das modernistische | |
architektonische Erbe Jugoslawiens zu bewahren – bezüglich der | |
Erinnerungskultur hatte sie aber keinen Einfluss. Andererseits sind wir, | |
die Experten aus anderen ehemaligen Teilrepubliken durch die New Yorker | |
Ausstellung miteinander ins Gespräch gekommen. Im November trafen wir uns | |
anlässlich der [8][Piran Days of Architecture] in Slowenien. Es geht darum, | |
herauszufinden, was diese Monumente bedeuten und was wir zu ihrer Bewahrung | |
beitragen können. | |
Frau Horvatinčić, zuerst fragten wir nach Ihrer Erinnerung – was aber | |
würden Sie gerne in Zukunft erleben? | |
Ich wünsche mir, dass die Mahnmale endlich einen angemessenen Platz in der | |
Kunstgeschichte finden. Es geht dabei um Bedeutungen, die bis in das Heute | |
reichen. Häufig muss ich an ein Mahnmal denken, das an ein | |
Partisanen-Krankenhaus erinnert, hier in Kroatien. Für mich ein Symbol der | |
Fürsorge und Solidarität. Dort hatte man sich während des Krieges auch um | |
die zahlreichen Flüchtlinge gekümmert. Dieses Monument liegt in der Nähe | |
zur Balkanroute. Wenn wir wollen, dass die Leute eine menschliche Haltung | |
gegenüber den Flüchtlingen entwickeln, dann hilft es vielleicht, wenn wir | |
sie daran erinnern, dass viele von ihnen auch einmal Minderheit waren und | |
fliehen mussten. | |
12 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Spaniens-Ex-Diktator-Franco/!5625219/ | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=pVNxips3dRg | |
[3] https://www.dwdl.de/nachrichten/74013/drehstart_fuer_deutsche_netflixserie_… | |
[4] https://www.vecernji.hr/kultura/na-petrovoj-gori-njemci-za-netflix-snimili-… | |
[5] http://architectuul.com/architecture/memorial-complex-jasenovac | |
[6] /Ausstellung-ueber-Jugoslawiens-Bauten/!5548991/ | |
[7] https://www.spomenikdatabase.org/ | |
[8] https://www.pida.si/ | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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