# taz.de -- Ausstellung über Jugoslawiens Bauten: „Architektur hatte Verantw… | |
> Die Schau „Toward a Concrete Utopia“ in New York zeigt, dass | |
> inspirierende Architektur auch in der sozialistischen Welt existierte. | |
> Ein Gespräch mit Kurator Vladimir Kulić. | |
Bild: Andrija Mutnjaković. Nationalbibliothek des Kosovo. Prishtina, Kosovo. 1… | |
taz: Herr Kulić, warum sollte sich ein US-Bürger eigentlich für eine | |
Ausstellung über das Bauen in Jugoslawien interessieren? | |
Vladimir Kulić: Ich glaube, es gibt dafür zwei Gründe. Zum einen hat das | |
US-Publikum so eine Ausstellung noch nie gesehen. Dabei zeigt sie, dass | |
moderne Architektur auch jenseits der kanonischen Gegenden blühte. Werke | |
über die Geschichte moderner Architektur befassen sich geografisch | |
hauptsächlich mit Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Vor allem aber | |
zeigt diese Ausstellung, dass inspirierende Architektur auch in der | |
ehemaligen sozialistischen Welt existierte. Jugoslawien ist ein tolles | |
Beispiel, um zu zeigen, dass die Geschichte viel komplizierter ist. | |
Und zum anderen? | |
Nach vier Jahrzehnten des Neoliberalismus sehen wir endlich eine erneuerte | |
Wertschätzung der Rolle der Architektur beim Aufbau der bürgerlichen und | |
öffentlichen Sphäre – [1][eine Betonung des Gemeinschaftlichen] anstatt des | |
Privaten. Besonders in den USA wurde Architektur zu einer Schau für | |
Superreiche reduziert. Der architektonische Diskurs befindet sich jetzt in | |
den Händen des obersten Prozents. So gesehen ist Jugoslawien eine | |
Erinnerung daran, dass Architektur mal eine umfassendere gesellschaftliche | |
Verantwortung bei der Gestaltung von Gesellschaft hatte. | |
Wieso wählten Sie den Zeitrahmen 1948 bis 1980? | |
1948 löste sich Jugoslawien von der Sowjetunion, [2][1980 starb Tito]. | |
Allerdings sind das auch Wendepunkte in der Architektur, denn nach 1948 | |
verschwand recht schnell der zu Beginn auferlegte sozialistische Realismus. | |
Und nach 1980 betrat man die Architektur-Periode des Postmodernismus. | |
Die Ausstellung behauptet: Jugoslawien war ein Experiment? | |
Jugoslawien war zweifellos ein Experiment. Es entwickelte sich ständig. | |
Daher ist der Titel „Zu einer konkreten Utopie“ passend, nicht nur im | |
offensichtlichsten Sinne, wenn man von Betonarchitektur (concrete | |
architecture) spricht, sondern auch in Anspielung auf [3][Ernst Blochs | |
Konzept der konkreten Utopie], das die Idee einer Gesellschaft in | |
unaufhörlichem Werden betont, Utopie als einen Prozess der ständigen | |
Transformation. So gesehen war Jugoslawien tatsächlich eine Utopie, weil es | |
kontinuierlich auf der Suche nach Verbesserung war. Die Ausstellung | |
argumentiert, dass ein großer Teil der in Jugoslawien produzierten | |
Architektur ziemlich experimentell war. Die Frage ist, ob das Experiment | |
gescheitert ist. | |
Und? | |
In den entwickeltsten kapitalistischen Ländern kamen Modernisierung und | |
Urbanisierung durch extreme Opfer der Arbeiterklasse zustande. Man könnte | |
mutmaßen, dass der Preis der Modernisierung in Jugoslawien gerechter | |
verteilt war. Jugoslawiens Versagen bestand letztendlich in der fehlenden | |
Erneuerung des eigenen Systems, was dem Kapitalismus wiederum gelingt, | |
trotz ständiger Krisenzyklen. | |
Neben Modernismus und Brutalismus waren der Strukturalismus, Metabolismus | |
sowie der Postmodernismus in Jugoslawien ebenfalls dominant. Wie vermittelt | |
die Ausstellung diesen sehr ausgearbeiteten Architektur-Wortschatz? | |
Dazu gibt etwa vier monografische Räume, die einzelnen Architekten gewidmet | |
sind: Vjenceslav Richter, Edvard Ravnikar, Juraj Neidhardt und [4][Bogdan | |
Bogdanović]. Ihre äußerst konträren persönlichen Werke illustrieren die | |
extreme Vielfalt des architektonischen Vorgehens in Jugoslawien. Richter | |
stand im Mittelpunkt der Neo-Avantgarde-Bewegung der 1950er und 1960er | |
Jahre. Bogdanović war das Produkt der surrealistischen Bewegung der 1920er | |
und 1930er. Neidhardt war vielleicht die interessanteste Figur als die des | |
kritischen Regionalismus, während Ravnikar Architekturideen großartig | |
synthetisierte, von Plečnik bis zu [5][Le Corbusier] und Aalto. Trotz ihrer | |
Unterschiede trugen alle vier Architekten zur Errichtung der meisten | |
politisch signifikanten Strukturen des Landes bei, von Parlamentsgebäuden | |
und [6][Ausstellungspavillons] bis zu Monumenten des Zweiten Weltkriegs. | |
Solch eine Vielfalt darstellender Sprachen war anderswo selten. | |
Alle vier sind Männer … | |
Eines meiner liebsten Ausstellungsstücke ist das Foto, auf dem die | |
serbische Architektin Milica Šterić mit Kunden aus Afrika in einem Büro im | |
Energoprojekt-Hauptquartier in Belgrad sitzt. Um sie herum stehen weiße | |
Männer, die ihnen zuhören. Das Bild sagt etwas über die Subversion der | |
traditionellen Rassen- und Geschlechtshierarchien aus und demonstriert die | |
wahrhaft utopische Dimension Jugoslawiens, das versucht hat, die | |
unterschiedlichsten Gruppen, die im Laufe der Geschichte entrechtet wurden, | |
zu befreien und zu emanzipieren – dazu gehörten auch Frauen. | |
Wie eben Milica Šterić. | |
Sie war als Architektin wichtig, noch mehr aber als Architektur-Managerin, | |
die überall in Afrika und dem Nahen Osten erfolgreich Verträge aushandelte. | |
Eine weitere gut vernetzte Frau war Svetlana Radević, die in den 1960ern | |
den nationalen Architekturpreis gewann. Danach lernte sie bei Louis Kahn, | |
arbeitete mit Kisho Kurokawa, verbrachte Zeit in der Schweiz und in Japan | |
und produzierte sehr viel interessante, fortschrittliche Architektur. Ich | |
will damit nicht sagen, dass Jugoslawien eine Art feministisches Paradies | |
war, denn Frauen waren in der Architektur immer noch eine Minderheit, sie | |
konnten die gläserne Decke nur schwer durchbrechen, aber man bemühte sich | |
bewusst um ihre Inklusion. | |
Wie wurde im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern der Wohnungsbau | |
in Jugoslawien entwickelt? | |
Eine kurze Antwort wäre: Massenunterkünfte in Jugoslawien waren ebenfalls | |
recht vielfältig. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Standardisierung, | |
Typisierung und Industrialisierung des Wohnungsbaus an der Tagesordnung. | |
Und das nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Westeuropa, denn eine | |
enorme Anzahl von Menschen hatte kein Zuhause. In einigen osteuropäischen | |
Ländern, wie etwa der DDR und der Tschechoslowakei, waren Standardisierung | |
und Typisierung äußerst erfolgreich. Die Sowjetunion produzierte 30 | |
Millionen Wohnungen, die alle auf standardisierten Designs basierten. Das | |
könnte man als größtes architektonisches Modernisierungsprojekt der Welt | |
bezeichnen. | |
Und in Jugoslawien? | |
In Jugoslawien geschah so etwas nicht, teilweise aufgrund der frühen | |
Dezentralisierung. In gewisser Hinsicht war das ein Versagen des | |
Nachkriegsideals des Massenindustriebaus, der Nebeneffekt war jedoch die | |
Vermeidung der städtischen Eintönigkeit, die man in manchen anderen Teilen | |
Europas kennt. | |
Kann man den Wohnungsbau von den Tourismus-Gebäuden abgrenzen, die zur | |
gleichen Zeit große Erfolge feierte? | |
Die Tourismusarchitektur war eine der Erfolgsgeschichten Jugoslawiens. Als | |
in den frühen 1960er Jahren der Massentourismus an der Adria zu explodieren | |
begann, hatte man anderswo im Mittelmeerraum schon einige Erfahrungen damit | |
sammeln können, so dass ein Bewusstsein für die Gefahren einer | |
unkoordinierter, chaotischen Entwicklung vorhanden war. Dieses Bewusstsein | |
wurde in die DNA der Tourismusarchitektur eingebaut. Man bemühte sich sehr, | |
Hunderttausende Touristen, die an die Adria kamen, unterzubringen und | |
gleichzeitig die Qualität der Natur und der historischen Städte zu | |
bewahren. Der Architekturkorpus, den wir aus den 1960er und 1970er Jahren | |
geerbt haben, ist immer noch aufschlussreich, er beinhaltet viel | |
kulturelles Kapital, das bis heute überlebt hat. | |
Welcher Rolle spielt die von Ihnen abgebildete Denkmalarchitektur? | |
Die Denkmäler schließen die Ausstellung ab. Sie zeugen von einer wichtigen | |
architektonischen Typologie, die im Jugoslawien der Nachkriegszeit | |
produziert wurde, doch in gewisser Hinsicht gedenken sie auch Jugoslawiens | |
selbst. Einige der wichtigsten sind schwer beschädigt, ihre [7][aktuelle | |
Form dient als Erinnerung] an die Zerstörung Jugoslawiens. Und am Ausgang | |
der Galerie stellt eine Wandmalerei von David Maljković eine wichtige | |
Frage: Was bedeuten diese verfallenen antifaschistischen Denkmäler für uns | |
heute? Im aktuellen politischen Klima ist das eine sehr wichtige Frage. Die | |
Ausstellung schließt mit einer Frage und einer Mahnung. | |
Übersetzung: Katarina Novak | |
25 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Bostjan Bugaric | |
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